In der medizinischen Versorgung kommt es immer wieder zu Konflikten zwischen dem Grundsatz des Respekts der Autonomie von Patient*innen auf der einen und der Sorge um ihr Wohlergehen auf der anderen Seite. Vor diesem Hintergrund untersucht die Philosophin Anna Hirsch in ihrer Monographie, die als Dissertation am Zentrum für Ethik und Philosophie in der Praxis an der Ludwig-Maximilians-Universität München verfasst wurde, den Umgang mit Konflikten zwischen ärztlichen Autonomie- und Wohltunspflichten. Sie inkludiert dabei explizit philosophische Theorien und geht der Frage nach, inwiefern eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Begriffen „Autonomie“ und „Wohlergehen“ ein besseres Verständnis des Konflikts zwischen beiden Prinzipien fördern und philosophische Konzepte Lösungen für die damit einhergehenden ethischen Herausforderungen in der medizinischen Praxis bieten können. Auf die Komplexität der Konflikte verweisend, bezieht sie sich neben Ausführungen zu den Begriffen und deren Beziehung auf wiederholt angeführte Fallbeispiele, in denen besondere Unklarheit über die Bedeutung der Autonomie sowie der Förderung des Wohlergehens von Patient*innen besteht. Die teilweise an reale Fälle angelehnten Beispiele werden durch die theoretischen Ausführungen anschaulich erläutert und bilden dabei den Prüfstein der philosophischen Überlegungen, um zu ethisch gut begründeten Entscheidungen zu gelangen.

Nach einer Einleitung und Hinführung zur Fragestellung bilden die ersten beiden Kapitel den theoretischen Rahmen der Überlegungen. In Kapitel eins widmet Hirsch sich dem Autonomiebegriff, dessen Verwendung im medizinethischen Diskurs sie unter Rückgriff auf die Prinzipienethik nach Beauchamp und Childress und den Informed Consent einer kritischen Betrachtung mit Fokus auf Entscheidungsfähigkeit unterzieht. Ergänzend folgt die philosophische Auseinandersetzung mit dem Begriff „Autonomie“ und internalistischen Autonomietheorien, u. a. nach Frankfurt, Dworkins und Watson, sowie externalistischen Autonomietheorien bspw. Christman, Oshana und Westlund. Zusätzlich wird eine Betrachtung der Sonderformen Caring Attitudes und Prospektiven Autonomie, wie auch deren Schwierigkeiten und dem Mehrwert für die medizinische Praxis vorgenommen. Die Autorin zeigt auf, dass die philosophische Autonomiedebatte durch die Erarbeitung von Kriterien, bspw. das Recht auf Autonomiebefähigung und die Beachtung eines globalen Autonomieverständnisses, eine sinnvolle Ergänzung zum „Standardmodell“ von Autonomie nach Beauchamp und Childress bietet. Dadurch werde die Bewertung und Förderung von Autonomie in Zweifelsfällen unterstützt und somit ein erweiterter Blick auf Patient*innenautonomie ermöglicht. Im zweiten Kapitel erörtert Hirsch den Begriff des Wohlergehens als medizinisches Wohltunsprinzip und setzt ihn in Beziehung zu ärztlichen Wertvorstellungen von Wohltuen am Beispiel der medizinischen Indikation. In der philosophischen Untersuchung fokussiert sich die Autorin anschließend auf eine differenzierte Auslegung des Begriffs „Wohlergehen“ anhand von Kategorien der philosophischen Wohlergehenstheorie (Hedonistische, Wunscherfüllungs- und Objektive-Listen-Theorien) und stellt die Relevanz individueller Wünsche und objektiver Wohlergehensgüter zur Erläuterung der Begrifflichkeit und Spezifikation der Wohltunspflichten heraus. Vertiefend arbeitet Hirsch Subjektivität und Objektivität von Wohlergehen sowie deren Zusammenhang mit Gesundheit und der Wohltunsverpflichtung medizinischen Personals durch Erläuterungen von Falldarstellungen eindrucksvoll heraus und ordnet die vorher beleuchteten Theorien in den Kontext der ärztlichen Fürsorgepflicht ein. Sie plädiert für eine differenzierte Betrachtung von Subjektivität und Objektivität, welche die Subjekt-Relativität von Wohlergehen berücksichtigt, sodass das Wohlbefinden von individuellen Eigenschaften und Merkmalen abhängig ist. Die Autorin resümiert, dass diese philosophische Debatte besonders durch den Einbezug von sowohl gesundheitsbezogenen als auch nicht-gesundheitsbezogenen Aspekten und die Betrachtung von subjektiven Aspekten des Prinzips, zu einer bereichernden Explikation der Begrifflichkeit im medizinethischen Kontext beiträgt.

Die Ausführungen zu Autonomie und Wohlergehen werden teilweise bereits in Kapitel drei unter dem Gesichtspunkt des Paternalismus zusammengeführt. Ergänzend zur Vorstellung verschiedener Arten von Paternalismus stellt die Autorin Rechtfertigungsstrategien paternalistischer Handlungen vor und fokussiert sich auf den durch sie vertretenen erweiterten Balancing View, welcher eine erweiterte Fassung des Balancing View nach Beauchamp und Childress ist. Mit dem erweiterten Balancing View „kann zusätzlich der Nutzen des Eingriffs für die Förderung oder den Erhalt der Autonomie der Zielperson berücksichtigt werden“ (S. 268). Ergänzend dazu ermöglicht dieses Konzept „erarbeitete Spezifikationen von Autonomie und Wohlergehen sowie Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen den beiden Begriffen in die Abwägung zu integrieren“ (ebd.). Kapitel vier bietet eine Synthese der zuvor erarbeiten Inhalte und zieht Konsequenzen für den praxisorientierten Umgang mit zentralen Konflikten. Die Überlegungen münden in einem Entscheidungsbaum, der unter Berücksichtigung von paradigmatischen Konflikten zwischen den Prinzipien und unter Bezugnahme auf zuvor behandelte Aspekte basaler Gesundheitsgüter und individueller Wünsche Orientierungshilfe bei komplexen Konfliktsituationen bieten sollen. Abschließend plädiert die Autorin für den erweiterten Balancing View als Form des Umgangs mit Konflikten zwischen den Prinzipien, die sie in einer die Arbeit begleitenden Falldarstellung erörtert. Das Werk schließt mit einem Resümee und Ausblick.

Die Bearbeitung der Fachliteratur ist sehr gründlich und wird durch Querverweise zu ergänzenden Texten sowie sinnvolle Exkurse ausgebaut, was einen erweiterten Blick auf verwandte Themen und vertiefende Literatur ermöglicht. Durch diese Vorgehensweise gibt die Autorin eindrücklich Einblick in den Umfang und die Differenzierungen bei Autonomie- und Wohlergehens-Diskursen innerhalb der medizinischen Praxis.

Durch eine sinnvolle Gliederung und klare Argumentation schafft Hirsch eine transparente Lesendenführung und analysiert auf fachlich hohem Niveau und in verständlicher Sprache die Komplexität philosophischer und medizinethischer Argumente vor dem Hintergrund der medizinischen Praxis. Das Werk ist nicht nur für Medizinethiker*innen und klinisch tätiges Personal, sondern auch für Philosoph*innen und Gesundheitswissenschaftler*innen hervorragend geeignet, die Interesse an einer philosophisch fundierten Untersuchung des Konflikts zwischen beiden Prinzipien mit konkretem Bezug zur medizinischen Praxis haben und Impulse und Handlungsansätze wünschen. Durch den kontinuierlichen Praxisbezug mittels greifbarer Falldarstellungen schafft Hirsch es, die theoretischen Inhalte anwendungsnah darzulegen und zu evaluieren und hat somit ein bereicherndes Werk zur Orientierung im Diskurs über Konflikte zwischen Patient*innenautonomie und Wohlergehen in der medizinischen Praxis vorgelegt.