Das Vier-Prinzipien-Schema von Beauchamp und Childress erfreut sich allen Kritiken zum Trotz weiterhin großer Beliebtheit – nicht nur in der medizinethischen Didaktik, auch in der Richtlinienerstellung in bisher ethisch wenig regulierten Bereichen wie der Psychotherapie, wo das „Georgetown-Mantra“ nahezu eins zu eins in die Musterberufsordnung eingeflossen ist. Anders als es gelegentlich den Anschein hat, ist die Konzeption der vier Prinzipien allerdings kein Monolith. Die Autoren haben durch die acht Auflagen seit 1979 hindurch wiederholt auf Kritiken reagiert und darüber hinaus den Text dem Stand der ethischen und metaethischen Diskussion angepasst. So ist in der 5. Auflage von 2001 Rawls’ Konzeption des Überlegungsgleichgewichts aufgenommen und der Begriff der common morality als Hintergrundlegitimation des Schemas entscheidend revidiert worden.

Im Mittelpunkt des vorliegenden – aus einer Masterarbeit im Mainzer Aufbaustudiengangs Medizinethik hervorgegangenen – Bandes steht eine systematisch geordnete Übersicht über die Kritik, die dieser Klassiker der biomedizinischen Ethik seit seiner Erstveröffentlichung 1979 (in einem mit jeder Auflage der Principles zunehmendem Umfang) erfahren hat. Die Untergliederung in insgesamt neun Kritikrichtungen und die Trennung von methodologischen, normativ-ethischen und pragmatisch-anwendungsbezogenen Kritikansätzen erweist sich dabei als ausgesprochen hilfreich, nicht zuletzt wegen der zahlreichen Überschneidungen in den häufig unabhängig voneinander vorgetragenen Argumenten. Während eine Reihe von Kritikansätzen – wie etwa eine der ersten, die Kritik von Clouser und Gert von 1990, die auch den Ausdruck principlism geprägt haben – daran kranken, dass sie von vorgefassten Meinungen darüber, wie eine „richtige“ medizinethische Theorie auszusehen hat, ausgehen und wenig mehr tun als die Punkte, in denen die kritisierte Konzeption davon abweicht, als kritikwürdig darzustellen, verdienen vor allem diejenigen Kritikansätze Beachtung, die immanent vorgehen und den Ansatz an seinen eigenen Ansprüchen messen. Dazu gehören insbesondere der Anspruch auf weitgehende Universalität und Unabhängigkeit von kulturellen Faktoren und seine Funktionalität in der Konfliktlösung bei kontroversen klinischen Entscheidungen. In beiden Hinsichten sind die Unzulänglichkeiten des principlism schwer zu übersehen. Bereits innerhalb des Gebiets der EU existieren mindestens drei medizinethische Kulturen nebeneinander (liberal-rechteorientiert in den westlichen Staaten, welfaristisch in Skandinavien, traditionalistisch in Süd- und Osteuropa), was sich vor allem in der unterschiedlichen Gewichtung des Prinzips der Respektierung von Selbstbestimmung (autonomy) und den unterschiedlichen Richtungen zeigt, in denen Konflikte zwischen ärztlichem Paternalismus und Patientenwillen faktisch aufgelöst werden. Kulturelle Faktoren spielen nicht zuletzt bei der inhaltlichen Ausfüllung des Prinzips der Gerechtigkeit eine entscheidende Rolle, das bei Beauchamp und Childress vergleichsweise konturlos bleibt und eher als Leerstelle für einen Pluralismus kulturell geprägter Gerechtigkeitsbegriffe und -vorstellungen fungiert.

Ein weiterer Hauptgegenstand der Kritik ist das Ausmaß, in dem die Anwendung der Prinzipien auf konkrete Fallkonstellationen von der Theorie offengelassen wird, mit der Folge, dass im Prozess der Spezifizierung die basalen – und notorisch kontroversen – moralischen Überzeugungen der jeweiligen Entscheider erneut ins Spiel kommen. Die vier Prinzipien liefern dann lediglich die Abwägungsgesichtspunkte, leisten bei der ethischen Urteilsfindung jedoch keine wesentliche Hilfe. Diesen letzten Punkt illustriert der Autor im letzten Abschnitt des Buchs an vier ausgewählten Fallgeschichten, in denen sich die Anwendung der vier Prinzipien anbietet, diese aber ohne ergänzende – und häufig strittige – weitere Wertpräferenzen keine Lösung der anstehenden klinischen Entscheidungsprobleme durch das Ärzteteam bzw. das Ethikkomitee ermöglicht.

Resümierend gesteht der Autor zu, trotz der zahlreichen berechtigten Kritikpunkte keine gangbare Alternative zu einer pragmatischen ethischen Orientierung, wie sie der principlism bietet, formulieren zu können. In seiner Kompaktheit eine empfehlenswerte Lektüre in Ergänzung zum corpus delicti.