Vulnerabilität hat Konjunktur. Es scheint, als dränge ein wachsendes Bewusstsein vielfältiger Verletzlichkeit darauf, auf einen Begriff gebracht zu werden, der den bislang vorherrschenden wissenschaftlich-technischen Optimismus hinterfragt. Der Ausdruck erobert ausgehend von der Medizin immer mehr Fachdisziplinen von der Soziologie über Theologie und Pädagogik bis hin zur Ökologie. In der Psychologie ist Vulnerabilität als Gegenbegriff zum aus der Materialkunde stammenden Begriff der „Resilienz“ etabliert. Etymologisch abgeleitet von lateinisch vulnus, die Wunde, liegt seine Attraktivität für weitere Gesundheitsdisziplinen nahe, sei es als deskriptiver Diagnosebegriff oder moralischer Appell, Vulnerabilität zu verringern oder deren Erzeugung zu vermeiden, wodurch eine soziale Vulnerabilitätsperspektive bereits eröffnet ist. Seit Jahren setzt sich die Krankenpflegerin, Soziologin und Pflegewissenschaftlerin Berta Schrems mit dem Terminus in statu nascendi auseinander. Nun hat sie ihn in ihrem Buch „Vulnerabilität in der Pflege. Was verletzlich macht und Pflegende darüber wissen müssen“ zum theoretischen Dreh- und Angelpunkt einer pflegeethischen Unterweisung für professionell Pflegende gemacht.

In sechs Kapiteln buchstabiert Schrems Vulnerabilität resp. Verletzlichkeit in ihrer pflegeethischen Bedeutung für die professionelle Pflege durch. In einem ersten grundlegenden Theoriekapitel leuchtet die Verf. den Begriff der „Vulnerabilität“ in seinem Facettenreichtum aus, bevor er „im Kontext der professionellen Pflegebeziehung“ (Kap. 2) auch mit beziehungsethischen Modellen reflektiert wird. Dann wird die Relevanz der Wahrnehmung der „Andersheit des Anderen“ (Kap. 3) unterstrichen, bevor der „Grad der Vulnerabilität“ von pflegebedürftigen Individuen verstehend eruiert werden soll (Kap. 4). Der Forderung einer „Offenheit im Dialog“ (Kap. 5) folgt ein Kapitel über die Unverzichtbarkeit der „Reflexion der eigenen Verletzlichkeit“ (Kap. 6). Eine instruktive Einleitung und ein umfangreiches Literaturverzeichnis rahmen das auf einer breiten Basis empirischer Pflegestudien aufbauende, erfahrungsgesättigte Bändchen, das sich als anspruchsvolle und zugleich praxisnahe ethische Reflexionshilfe professionell Pflegender für ein konkretes integres Pflegeselbstverständnis empfiehlt.

Schrems setzt zunächst bei der Unterscheidung von allgemein anthropologischer (Kap. 1.1) und spezifischer Vulnerabilität ein (Kap. 1.2). Als universal geteilte menschliche Eigenschaft entspringt Vulnerabilität der Endlichkeit, Leiblichkeit, Angewiesenheit und Sozialität jedes menschlichen Lebens, durch die menschliche Individuen sowohl verwundbar als auch berührbar werden. Diese Doppelaspektivität der anthropologischen Vulnerabilität als impliziter Ressource ermöglicht überhaupt erst eine politische und gesellschaftliche Kultur zwischenmenschlicher Fürsorge (S. 17f.). Spezifische Vulnerabilitäten verweisen jedoch auf je unterschiedliche Verletzbarkeiten, die sich aus dem Produkt gruppen-, situations- und individualspezifischer interner wie externer Faktoren ergeben. So zeige bereits die simple Tatsache, dass nicht alle Mitglieder einer Gruppe in gleicher Weise vulnerabel sind, dass eine z. B. medizinale Generalisierung von Vulnerabilität nach Krankheitstypen schnell an ihre Grenzen stoße und zu unangemessenen Etikettierungen führen könne. Denn Geschlecht, Alter, ökonomische und soziale Umstände bleiben als Vulnerabilitätsfaktoren genauso außen vor wie die individuelle Biografie. Da insbesondere letztere nur begrenzt einer objektiven Außenperspektive zugänglich sind, erweitert Schrems ihr Vulnerabilitätskonzept um den Aspekt der subjektiven Erlebnisperspektive der pflegebedürftigen Person (Kap. 1.3). Vulnerabilität beinhaltet somit „das Risiko, einen Schaden zu erleiden, die Unfähigkeit, sich selbst davor zu schützen, und das Erleben dieser Unfähigkeit“ (S. 10).

Wie Betroffene ihre spezifische Vulnerabilität alltäglich erleben, bestimmt insbesondere jene Zeiträume, die in der Regel nicht von Medizinerinnen, sondern von der Pflege begleitet werden. Es sind professionell Pflegende, die hilfsbedürftigen Menschen, ambulant oder stationär, in der Zeit ihrer Rekonvaleszenz oder chronischen Erkrankung mehr oder weniger kontinuierlich beistehen, um sie bei der Alltagsbewältigung zu unterstützen und zu stärken. Aufgrund der zeitlichen Kontinuität und privaten Intensität ist die Beziehung zwischen Pflegenden und pflegebedürftigen Personen als ein zentrales Element professioneller Pflege höchst virulent, auch als ein potenzieller Vulnerabilitätsfaktor. Beides wird nach Schrems in Forschung und Lehre bislang nur unzureichend thematisiert. Die vorliegenden theoretischen Vulnerabilitätsanalysen griffen insofern zu kurz, als sie vulnerante Ereignisse lediglich ergebnisorientiert unter dem Aspekt der Folgen, nicht aber in ihrer Erlebnisqualität für die zu Pflegenden betrachteten. Die methodische Ausblendung der subjektiven Erlebnisperspektive vulnerabler Betroffener stelle sogar selbst einen potenziellen Vulnerabilitätsfaktor dar, während ihre Erfassung ermögliche, Risiken passgenauer begegnen zu können und individuelle Ressourcen der Betroffenen zu identifizieren. Insofern erweitere die Einbeziehung des subjektiven Erlebens von Vulnerabilität objektive Vulnerabilitätskonzepte um die Chance positiver Entwicklungspotentiale der Beteiligten, zeige aber zugleich auch die hohe Ambivalenz sozialer Vulnerabilität, wenn das soziale Umfeld versagt (S. 34).

Professionell Pflegenden haben eine Schlüsselfunktion im sozialen Umfeld Pflegebedürftiger inne. Um nicht selbst zu Quellen verletzender Pflegebeziehungserlebnisse zu werden, ist nach Schrems die Auseinandersetzung mit dem professionsbedingten Vulnerabilitätserleben der Pflegenden unerlässlich (Kap. 1.4). Pflegepersonen seien berufsbedingt in überdurchschnittlichem Maße mit dem Erleben von Leiden, Sterben und vielfältigen Verwundbarkeiten, mit psychischen und physischen Gewaltreaktionen und mangelnder gesellschaftlicher Wertschätzung konfrontiert. Ferner seien sie in stark hierarchischen interprofessionellen und restringierenden organisatorischen Zusammenhängen konfliktreichen, frustrierenden und demütigenden Erfahrungen ausgesetzt. Die Ökonomisierung des Gesundheitssystems habe diese berufsbedingten Risiken durch Rationierungen und chronischen Personalmangel noch vermehrt und verschärft. Nicht zufällig entstammten Begriffe wie Burnout und moralischer Disstress (S. 37–40) dem Erfahrungsbereich des Pflegeberufs. Letztlich ist Schrems darum bemüht, professionell Pflegenden konkrete Lösungswege aufzuzeigen, ihre Vulnerabilität in einer Weise zu reflektieren, die nicht nur den Umschlag in die Kehrseite des Verletzens verhindert (Kap. 1.6), sondern zur empathischen Beziehungsgestaltung befähigt.

Der Aufbau einer professionellen Pflegebeziehung (Kap. 2) wird als „Schlüsselelement“ einer personenbezogenen, vulnerabilitätsmindernden Pflege im Rahmen der professionellen Pflegepraxis herausgearbeitet, „um zielführende Pflegeinterventionen zur Erfüllung von physischen und psychosozialen Bedürfnissen planen und durchführen zu können“ (S. 59). Dass der professionelle Aufbau einer Pflegebeziehung die Grundlage für eine jede respektvolle Interaktion in der Pflege ist, werde im Alltag oft vergessen (S. 61), weil nicht als Arbeit ein- und wertgeschätzt. In kritischer Absetzung von einem medikal interventionistischen Behandlungsparadigma zeigen vielfältige Pflegestudien, dass Kommunikation ein zentraler Teil interpersonaler Interaktion ist (S. 65), was insbesondere dementiell veränderte Pflegebedürftige durch sogenanntes „herausforderndes Verhalten“ unterstreichen. Diesbezüglich ist Schrems Hinweis bemerkenswert, dass bisherige Pflegetheorien nonverbale Kommunikationsformen noch gar nicht berücksichtigen (S. 69). Zentral ist für Schrems „die Reflexivität und die Übertragung der Verantwortlichkeit an die Handelnden im Hinblick auf die Selbstverpflichtung zur Erhaltung der Integrität. Die Normen, die das Handeln und den Umgang miteinander bestimmen, werden in der Interaktion generiert“ (S. 76f.). Ethikcodizes und Pflegekonzepte fungieren hier nicht als starre Vorschriften, die standardisiert und routiniert abgearbeitet werden. Sie werden vielmehr als Instrumente zur Selbstreflexion und professionell fundierten Explikation für eine selbstverantwortliche und beziehungsbereite Pflege bestimmt, die sich mutig der unbestimmten „Andersheit des Anderen“ (Kap. 3) stellt und gemeinsam mit ihm eine „gute Pflege“ abstimmt. Insofern sei ein „verstehender Zugang“ für die Erhebung des Vulnerabilitätsgrades (Kap. 4) erforderlich. Auf der Basis der Kenntnis von Typologien zur Erfassung situationsspezifischer Vulnerabilitäten (Kap. 4.1) seien Pflegende aufgerufen, sich der pflegeethischen Herausforderung zu stellen, „Individualität in einer normierten Umgebung zu verwirklichen“ (Kap. 4.2), v. a. durch professionelle Dialogführung (Kap. 4.3) und die Aufforderung zur freien Erzählung, in der Biografie und Pathografie zusammengeführt werden.

Schrems entfaltet den Wert der kommunikativen Arbeit für eine fundierte biopsychosoziale Anamnese im Rahmen des Aufbaus der Pflegebeziehung, die durch Martin Bubers personalistisches Dialogprinzip als durch wechselseitig respektvolle Begegnung zweier Personen ethisch qualifiziert wird (Kap. 5). Das zeige sich insbesondere durch den Verzicht auf Instrumentalisierung und das Ernstnehmen der Freiheit des Andern (S. 115). Schrems unterstreicht neben dem Wert eines vertrauensvollen Dialogs für eine fundierte Pflegeanamnese auch die vulnerabilitätsmindernde Wirkung des Storytellings (S. 120f.) Pflegebedürftiger, das ihren Leiden Raum gibt (S. 125), auch die Förderung einer „narrativen Empathie“ durch „Affektaustausch“ (S. 123). Doch die pflegetherapeutischen Effekte professioneller Gesprächsführung (z. B. Idiolekt, aktives Zuhören etc.) und geschulter Dialogkompetenz fänden in Pflegedokumentationen gemeinhin keinen Niederschlag. So bleibt wesentliche Pflegearbeit unsichtbar. Abschließend unterstreicht Schrems, dass für die nötige Selbstreflexion der Pflegenden auf die eigene pflegespezifische Verletzlichkeit (Kap. 6) auch ein positives „ethisches Klima“ in der Gesundheitsinstitution als Rahmenbedingung unerlässlich ist, wodurch auch medizinische Fehlleistungen Pflegender verringert werden können. Die Einübung von Perspektivwechseln sowie regelmäßige dialogorientierte ethische Fallarbeit unterstützen Resilienz, Authentizität und Selbstverantwortlichkeit Pflegender.

Schrems gelungene praxisorientierte pflegeethische Vulnerabilitätsanalyse zeigt, dass und wie eine authentische, empathische person-zentrierte, professionell geschulte pflegerische Kommunikations- und Beziehungsarbeit einen höchst anspruchsvollen Einsatz der ganzen Person darstellt. Dies im gesamten Gesundheitssektor bis in die Gesundheitspolitik hinein strukturell zu fördern und als Arbeit anzuerkennen, würde die Arbeitszufriedenheit professioneller Pflegekräfte nachhaltig erhöhen.