Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26.02.2020 wird in Deutschland erneut intensiv über eine mögliche gesetzliche Regulierung der Praxis des assistierten Suizids diskutiert. Im Zentrum der Diskussionen steht dabei eine Berufsgruppe: die Ärzteschaft. Das ist zwar nachvollziehbar, kann aber die Tatsache verdecken, dass auch andere Berufsgruppen sich aktuell verstärkt mit der Frage auseinandersetzen (müssen), wie sie ihre Rolle bei der zukünftigen Ausgestaltung dieser Praxis verstehen. Das betrifft u. a. auch Seelsorger:innen und Mitglieder klinischer Ethikkomitees. Für diese beiden Gruppen ist der vorliegende Sammelband von besonderem Interesse, da er praxisnahe, empirisch informierte und reflektierte Einblicke darüber gewährt, wie diese Berufsgruppen in der Schweiz – einem Land, das schon eine längere etablierte Praxis des assistierten Suizids kennt –, ihre Rolle verstehen und ausgestalten. Darüber hinaus ist der Band für Wissenschaftler:innen aus den Bereichen Theologie, Philosophie und Ethik von Bedeutung. Wobei die Beiträge eine ausschließlich protestantische Diskussion wiedergeben.

Der Gesamteindruck nach der Lektüre der zwanzig Beiträge, die der Sammelband umfasst, wird dadurch bestimmt, dass die Thematik ambivalent ist und schließlich auch bleibt, wie der Philosoph und Theologe Frank Mathwig bereits im ersten Beitrag hervorhebt. Dabei ist die Ambivalenz nicht dadurch gegeben, dass die verschiedenen Autor:innen unterschiedliche Positionen bezüglich der prinzipiellen Legitimität des assistierten Suizids vertreten würden. Vielmehr entspringt sie gerade der grundsätzlichen Anerkennung, sowohl des individuellen Rechts auf selbstbestimmte Entscheidungen bezüglich eines Suizids einerseits als auch des als ebenso wichtig erachteten Lebensschutzes andererseits. Der Theologe Reiner Anselm führt diese Spannung in seinem Beitrag zum aktuellen Streit zur Suizidhilfe innerhalb des Protestantismus auf die Frage der Legitimität der Moderne mit ihrer Hervorhebung des Individuums und dessen Freiheiten zurück.

Ambivalenzen ergeben sich für Seelsorgende zudem in Bezug auf die Vereinbarung ihrer „offiziellen“ Rolle als Repräsentanten einer Institution, in diesem Fall der Kirchen, welche teilweise Wertungen des assistierten Suizids vertreten und daraus Vorgaben für die Seelsorge ableiten, die mit dem individuellen Verständnis der Rolle als Seelsorger oder Seelsorgerin in Widerspruch geraten können. In mehreren Beiträgen – so zum Beispiel in den Berichten aus verschiedenen Praxisfeldern der Seelsorge, die im dritten Teil des Buches wiedergegeben sind – wird deutlich, dass unter Seelsorger:innen ein großer Wunsch darin besteht, auf den jeweiligen Einzelfall eingehen zu können und die eigene Rolle während der verschiedenen Phasen bei einer Begleitung beim Suizid selbst definieren zu können. Der Befund wird auch durch internationale Studien bestätigt, wie aus den Beiträgen von Dorothee Arnold-Krüger und Julia Inthorn sowie aus dem Beitrag von Sebastian Farr hervorgeht.

Ambivalenzen zeigen sich auch zwischen Theorie und Praxis, wobei diese am deutlichsten im Beitrag von Tanja Krones und Settimio Monteverde thematisiert werden, dort in Bezug auf die Praxis der klinischen Ethikberatung, die von den Autor:innen als „Schwester im Geiste“ der Seelsorge verstanden wird. Hier wird ein Spannungsverhältnis zwischen ethisch-philosophischen Theorien einerseits und der klinisch-ethischen Praxis andererseits aufgemacht, das parallel zum Verhältnis zwischen theologischer Ethik und seelsorgerischer Tätigkeit gedeutet wird. Dabei gehen die beiden Autor:innen letztlich von einem Primat der Praxis aus: „Die ethische Reflexion und Beurteilung wurzelt im philosophischen Pragmatismus nicht in der Theorie, sondern in der Praxis“ (S. 91). Die Forderung, die am Ende des Beitrags formuliert wird, es komme auf das achtsame Zuhören an, zeigt jedoch auch die Gefahr einer zu einseitigen Betonung des Pragmatischen und Situativen auf. So richtig die Forderung auch sein mag, so unspezifisch ist sie gleichzeitig. Achtsames Zuhören ist bzw. sollte wesentlicher Bestandteil aller zwischenmenschlichen Interaktionsformen sein, speziell in existentiellen Situationen. Doch kommt es primär darauf an, bleibt offen, was das genuin Ethische am ethischen Beratungsgespräch und der ethischen Expertise sein sollte, übertragen auf die Seelsorge formuliert: das genuin Seelsorgerliche.

Dass Offenheit und Zuhören wesentlich sind für die Tätigkeit der Seelsorge, wird in verschiedenen Beiträgen hervorgehoben. Dass sie jedoch allein nicht ausreichen, wird im Beitrag von Isolde Karle anhand eines Fallbeispiels deutlich. In diesem erwartet Herr F. von der Seelsorgerin ein „Gespräch auf Augenhöhe (…), das ihm zur eigenen Klärung verhilft“ (S. 160). Sterbewünsche, das ist empirisch deutlich nachgewiesen, sind selbst oft von Ambivalenzen geprägt. Im Bedürfnis nach einem Seelsorge-Gespräch kann sich ein Bedürfnis danach verbergen, die eigene Ambivalenz besser verstehen und artikulieren zu können. Um eine Person in einer solchen Situation gut begleiten zu können, sind spezifische Kenntnisse und Kompetenzen vonnöten sowie die Fähigkeit, wie I. Karle im Rückgriff auf Thorsten Moos erläutert, die Spannung zwischen „moralischer Zurückhaltung einerseits und moralischer Positionierung andererseits“ auszubalancieren (S. 161). Damit ist eine weitere Ambivalenz angesprochen, die in einigen Beiträgen thematisiert wird, nämlich diejenige der Seelsorgenden selbst, wenn diese beispielsweise aus Gründen der Solidarität sich zur Begleitung beim Suizid verpflichtet fühlen, gleichzeitig einen Suizid als moralisch problematisch ansehen. Auch diese Ambivalenz muss wahrgenommen und reflektiert, vielleicht sogar speziell aufgearbeitet werden, wie Christoph Morgenthaler in seinem Beitrag darlegt.

Ambivalenzen charakterisieren schließlich auch das, was Florian-Sebastian Ehlert das „suizidale Feld“ (S. 207) nennt. Er nimmt dabei den kommunikativen Aspekt einer Suizidhandlung in den Blick und somit das Netz von Personen, das durch diese Handlung mitbetroffen ist. Ein Netz, das in seinen verschiedenen Beziehungsebenen – neben z. B. den An- und Zugehörigen müssen auch je nach Setting die Professionellen mit in den Blick genommen werden – im Beitrag von Traugott Roser differenziert betrachtet wird. Nimmt man diesen systemischen Blick an, wird deutlich, wie umfassend die seelsorgerische Tätigkeit und die Berücksichtigung der Situation der Angehörigen sein können, wie Susanna Meyer Kunz anhand eines Fallbeispiels darstellt.

Der letzte der vier Teile, in die das Buch gegliedert ist, widmet sich unterschiedlichen kirchlichen Positionen und Stellungnahmen. Hier zeigen sich die angesprochenen Ambivalenzen erneut, vor allem diejenigen zwischen dem adäquaten Verhältnis zwischen Respekt vor der individuellen Selbstbestimmung und dem Lebensschutz bzw. zwischen der Frage nach der Rolle von Seelsorge als Teil einer öffentlichen Institution und dem Dienst am einzelnen Menschen.

Den beiden Herausgebern Michael Coors, Professor für Theologische Ethik an der Universität Zürich, und seinem Mitarbeiter Sebastian Farr ist mit diesem Buch ein wichtiger Beitrag zur aktuellen Diskussion um den assistierten Suizid gelungen, der gerade auch für die aktuellen Diskussionen in Deutschland wichtige Anregungen enthält.