Einführung

Pflegefachpersonen nehmen wie keine andere Profession Menschen in ihrer Leiblichkeit und Vulnerabilität wahr. Pflege als Beziehungs- und Berührungsberuf gewinnt ihre Qualität aus der – auf der Basis der Werte der PflegeFootnote 1 – professionell gestalteten Beziehung zum pflegebedürftigen Menschen. Damit sind Pflegefachpersonen sowohl im konkreten Einzelfall, auf der institutionellen Ebene als auch im grundsätzlichen gesellschaftlichen Diskurs über (künftige) gesetzliche Regelungen als Gesprächspartner:innen hinzuzuziehen. Die Expertise der Pflege ist in diesem Kontext unverzichtbarFootnote 2, insbesondere dann, wenn es um die Interpretation von und den Umgang mit Sterbewünschen und um Fragen der Suizidassistenz geht. Zugleich sind Pflegefachpersonen darauf angewiesen, förderliche Strukturen und eine Kultur in ihrer Einrichtung vorzufinden, in der sie ihrer Pflicht zum Eintreten für die pflegebedürftigen MenschenFootnote 3 nachkommen können (Advocacy).Footnote 4 Entscheidungen des Pflegemanagements, aber auch die Prozessgestaltung angrenzender Berufsgruppen, wie etwa der Medizin, haben dem Rechnung zu tragen. Neben organisatorischen und strukturellen Voraussetzungen ist nicht zuletzt die Pflegebildung gefragt, die Pflegefachpersonen zu einem professionell verantworteten Umgang mit dieser sensiblen Thematik zu befähigen. Das gilt in besonderer Weise für die Primärqualifikation in beruflicher Bildung und Studium, aber auch für Angebote der Fort- und Weiterbildung.

Professionelle Verantwortung

Die Verantwortung von PflegefachpersonenFootnote 5 liegt gemäß dem international konsentierten beruflichen Selbstverständnis in vier Aufgabenbereichen: Gesundheit fördern, Krankheiten verhüten, Gesundheit wiederherstellen sowie Leiden lindern und ein würdiges Sterben unterstützenFootnote 6. Das Pflegeethos wird als ein menschenrechtlich fundiertes verstanden, nicht nur im Kontext des assistierten Suizids. Leitend sind für Pflegefachpersonen das Recht auf Leben und Wahlfreiheit, das Recht auf Würde und auf respektvolle Behandlung.

Für alle Bereiche der Berufsausübung gelten ethische Werte wie Selbstbestimmung, Gerechtigkeit, Empathie, Verlässlichkeit, Fürsorge, Mitgefühl, Vertrauenswürdigkeit und Integrität sowie eine grundlegende Haltung der Wertschätzung von Vielfalt und der Nicht-Diskriminierung als unverzichtbar.Footnote 7 Der Umgang von Pflegefachpersonen mit Sterbewünschen und ihre Positionierung zum Thema des assistierten Suizids ist vor diesem normativen Hintergrund zu verstehen. Eine einheitliche Haltung der Pflege als Profession zur Frage der ethischen Bewertung eines Sterbewunsches, eines Suizids oder einer Suizidassistenz lässt sich indes daraus nicht ableiten.

Das Thema des assistierten Suizids tangiert professionelle und persönliche Wertvorstellungen. Die Begleitung der suizidwilligen Person kann Pflegefachpersonen per se weder trägerseits noch von der Institution vorgeschrieben werden und muss der Freiheit des Gewissens überlassen bleiben.Footnote 8 Es besteht das Recht, an einer Sterbebegleitung im Rahmen eines assistierten Suizids nicht mitzuwirken. Eine Pflegefachperson kann und darf für sich entscheiden, ob sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren kann, Menschen zu denen eine Pflegebeziehung besteht, auf diesem letzten Weg zu begleiten.Footnote 9 Die Verantwortung einer professionellen Sterbebegleitung, die Wahrnehmung physischer, psychischer, sozialer und spiritueller Bedürfnisse und die Pflicht zur Linderung belastender Symptome bleiben auch angesichts eines bevorstehenden assistierten Suizids bestehen.

Einbindung der pflegerischen Expertise

Die Pflegefachpersonen sind im Kontext des assistierten Suizids auf mehreren Ebenen angesprochen bzw. einzubinden. Auf der ersten Ebene des intensiven und kontinuierlichen KontaktesFootnote 10 zu den pflegebedürftigen Menschen sind sie als deren Vertrauenspersonen häufig erste Ansprechpartner:innen wenn Sterbewünsche oder Suizidgedanken aufkommen. Pflegefachpersonen sind hierbei mit uneindeutigen Situationen, schweren und leidvollen Krankheitsverläufen und hoher Ambivalenz konfrontiert. Sie können innerhalb des interprofessionellen Teams, in dem sie agieren, Aussagen zu den situativen Ängsten und Nöten, zu den persönlichen Wertvorstellungen, wie auch zu möglichen Konstellationen, in denen der Suizidwunsch „von außen“ beeinflusst wird, einbringen. Zu der notwendigen Einordnung der Sterbe- und Suizidwünsche, hinsichtlich ihrer Stabilität und Freiverantwortlichkeit aber auch in Bezug auf die LebensqualitätFootnote 11 kann die Profession einen spezifischen Beitrag leisten. Die Empfehlungen und Entscheidungen von Teams sind aus ethischer Perspektive ohne die Perspektive der Pflege qualitativ schlechter.

Auf der zweiten Ebene der Einbindung, der institutionellen Ebene, sind Prozesse, Leitlinien und Standards grundsätzlich partizipativ und transparent mit den Pflegenden zu entwickeln. Zudem bedarf es konkreter organisationsethischer Strukturen, die eine niederschwellige, zeitnahe systematische Reflexion ethischer und rechtlicher Verunsicherungen, Irritationen und Fragestellungen ermöglichen. Um die moralische Belastung zu verringern, ist ein offener Austausch – bestenfalls unter Einbezug aller Beteiligten und Betroffenen – notwendig.Footnote 12

Die neuen Anforderungen und Optionen durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (vom 26. Februar 2020) fordern indes die Profession heraus, das Verständnis des professionellen Auftrages vertieft zu reflektieren und sich auf der dritten, der gesellschaftlichen und politischen Ebene mit ihrer Expertise einzubringen. Dazu bedarf es der Einbindung in Prozesse der politischen Meinungsbildung, insbesondere im Rahmen der aktuellen Gesetzesinitiativen und der damit verbundenen Verordnungen.

(Weiter‑)Bildungsprozesse

Vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts (vom 26. Februar 2020) ist es erforderlich, dass sich Pflegende mit der ganzen Bandbreite von Sterbe- und Suizidwünschen auseinandersetzen. Im Kontext pflegerischer Primärqualifikation ist es allerdings sinnvoll, zunächst entsprechende thematische Schwerpunkte zu setzenFootnote 13, insbesondere im Rahmen der

  • Langzeitpflege (stationär und ambulant)

  • Palliativpflege

  • Pflege psychisch erkrankter Menschen

  • Pflege kognitiv eingeschränkter Menschen

Angehende Pflegefachpersonen haben im Rahmen ihrer Ausbildung das Recht auf eine hinreichend differenzierte Einführung in die Rechtslage bezüglich verschiedener Formen der Sterbehilfe und Sterbebegleitung. Dies korrespondiert mit der hohen praktischen Relevanz dieser Thematik. Zur Entwicklung einer berufsethisch fundierten Identität und einer verantwortungsvollen Berufsausübung ist parallel die Auseinandersetzung mit der Professionsgeschichte, gerade hinsichtlich der Fragen von LebenswertentscheidungenFootnote 14, unumgänglich. Ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt muss die Suizidprävention sein.Footnote 15

Um eine professionelle berufliche Identität entwickeln zu können, ist für angehende Pflegefachpersonen die Beschäftigung mit den eigenen Werten, der professionellen Rolle, ihren Rechten und dem Schutz ihrer moralischen Integrität von zentraler Bedeutung. Die kritische Auseinandersetzung mit Veränderungen und der historischen Bedingtheit pflegeethischer Positionen ist kontinuierlich einzuüben. Die in der Pflegeethik zentrale Fürsorgeorientierung ist hinsichtlich eines Berufsalltags zu reflektieren, in dem Suizid- und Sterbewünsche nicht selten als Zurückweisung des professionellen pflegerischen Fürsorgehandelns erlebt werden.

Für die berufliche Weiterentwicklung sind Angebote zur Erweiterung und stetigen Aktualisierung des Wissens über rechtliche Spezifizierungen und ethische Vertiefungen notwendig. Situative Einordnungen zum Thema Todes- und Sterbewünsche in der Pflege und Gesellschaft wie auch differenzierte Maßnahmen der Suizidprävention müssen in der Fort- und Weiterbildung fachspezifisch aufgegriffen werden.

Ausblick

Pflegefachpersonen begleiten Menschen in deren letzter Lebensphase. Ihrem gesellschaftlichen Auftrag und ihrem beruflichen Selbstverständnis gemäß übernimmt Pflege Verantwortung, um ein selbstbestimmtes und menschenwürdiges Leben und Sterben zu ermöglichen, Leiden zu lindern und eine hochwertige palliative Versorgung zu realisieren. Unter den aktuellen Bedingungen eines gesamtgesellschaftlichen Care-Mangels, der die pflegerische Versorgung mit voller Härte trifft, sind Diskurse über ein selbstbestimmtes Sterben im Sinne eines assistierten Suizids mit besonderer Sensibilität zu führen. Die zu erwartende Versorgungsqualität im Fall der Pflegebedürftigkeit und Abhängigkeit hat durchaus Einfluss auf das Aufkommen von Sterbe- und Suizidwünschen und auf das Verständnis, das diesen Wünschen in der Gesellschaft entgegengebracht wird. Pflegende benötigen, um ihre spezifische Expertise zum Wohle des Menschen auf allen Ebenen wirksam werden zu lassen, adäquate Rahmenbedingungen, partizipative Strukturen, Zeit und Ressourcen in den Einrichtungen und von Beginn an in der Pflegebildung.

Aus diesen Gründen ist die Pflege als Profession an allen Diskursen zum assistierten Suizid, zur Weiterentwicklung von Versorgungsstrukturen, von Prozessen und Verfahren in legitimierterFootnote 16 und transparenter Weise gemäß ihrer Expertise und Verantwortung zu beteiligen.