Patrick Schuchter, Philosoph, Gesundheitswissenschaftler und Krankenpfleger, hat mit seiner philosophischen Dissertationsschrift einen Beitrag zur Diskussion einer Ethik der Sorge vorgelegt. Indem er sich nicht der verbreiteten Gewohnheit anschließt, von „Care“ zu sprechen, sondern bewusst den Begriff der Sorge wählt, setzt er einen eigenen Akzent. Den Begriff der Sorge versteht er als den fundamentaleren und philosophisch relevanteren. Der Care-Begriff eigene sich lediglich zur Kritik, nicht aber zur Fundierung einer Ethik. Schuchter hingegen will zeigen, dass „Sorgen tatsächlich die begründende Instanz für Ethik und Moral ausmacht“ und es (wieder) ermögliche, Ethik als Theorie der Lebenskunst zu begreifen (S. 276). Der Autor konzentriert sich auf den Bereich der professionellen Sorge/Pflege im Gesundheitswesen, vornehmlich im Krankenhaus. Dabei wählt er einen unkonventionellen Zugang und entwickelt philosophiegeschichtlich vorgehend eine Kritik der Care-Ethik und der Ethikpraxis im Krankenhaus. Auch im allgemeinen Sprachgebrauch bleibt Schuchter unverkrampft und bemüht sich um inklusive Formulierungen – beispielsweise verwendet er für „man“ häufig auch „frau“.

Schon der Titel kann irritieren: „Sich einen Begriff vom Leiden Anderer“ zu machen, wirkt auf den ersten Blick distanziert und lässt eine abstrakte Herangehensweise vermuten, wo die Praxis doch von Nähe und Intimität bestimmt ist. Jedoch greift der Autor auf eine historisch gereifte Variante der Wendung „sich einen Begriff machen“ zurück, indem er sich auf das sokratisch suchende Gespräch beruft. Das dort vertretene Verständnis des Logos sei nicht lebensferne Abstraktion, sondern „als Fülle, als der Inbegriff eines bestimmten Aspekts der Welterfahrung“ zu verstehen und ermögliche den „Zugang zur Leidenswirklichkeit des anderen Menschen“ (S. 234). Der Leidensbegriff ist hier zentral, denn die Wirklichkeit und/oder die Möglichkeit von Leid rufe Sorge hervor. Leiden sei die Erfahrung von Endlichkeit, als einem Missverhältnis zwischen Können und Wollen. Schuchter definiert Sorge als Praxis der „Einübung in ein gutes Leben“ (S. 80) und somit als einen „Leitbegriff des Philosophierens“ (S. 21). Sorge gründe in „eine[r] Gedankenarbeit des Verstehens und Interpretierens“ (S. 167) und sei somit hermeneutische Arbeit.

Schuchter nähert sich seinem Thema einer „Praktischen Philosophie der Sorge“ systematisch über exemplarisch gewählte historische Beispiele der Sorge für Andere (Florence Nightingale) und über philosophie-historische Erkundungen zur Sorge für Sich (antike Philosophie), um seine These einer hermeneutischen Arbeit von Sorge vorzubereiten. Im dritten Kapitel wird die hermeneutische Struktur der Sorge entfaltet. Zentral für hermeneutisches Arbeiten ist die Auseinandersetzung mit der Narration. Dafür greift Schuchter die Beispiele philosophischen Denkens aus den vorangegangenen Kapiteln wieder auf. Diese philosophiehistorischen Herleitungen und Exkurse sind detailliert aber informativ und nicht voraussetzungsvoll gestaltet – und so auch für philosophisch Unbelesene aber Interessierte geeignet.

Nach dieser umfangreichen und detaillierten Vorarbeit kann sich Schuchter dem Thema einer Ethik der Sorge widmen. Voraussetzung für eine Sorge um Andere sei eine Selbstsorge im Sinne der Selbstbefragung und Selbstthematisierung, um so die Genese des Begriffs aus der Lebenserfahrung zu ermöglichen (S. 109). Dabei vertraut Schuchter auf die Nützlichkeit des philosophischen Diskurses, denn „er verleiht einer vorgängigen und moralischen Intuition Ausdruck“ (S. 129). Eine Grundfrage einer Ethik der Sorge ist für Schuchter: „Wie ist es möglich im Leiden eine Form von Glück zu finden?“ (S. 251). Freundschaft und Sozialität seien Voraussetzung für die Überwindung des Leids, ebenso wie eine epikureisch geformte Lust am Leben, am „Dass“ (S. 257) – hier weist Schuchter zudem auf eine Anthropologie der Natalität, wie sie bei Hannah Arendt zu finden ist, hin. Sich dabei von der Welt aus und sich selbst als Teil der Welt zu sehen (Ernst Tugendhat), befreie vom Egozentrismus einer falsch verstandenen Selbstsorge und ermögliche die Sorge für Andere. So werde Sorge zum zentralen moralischen Phänomen: „Sorge heißt jedenfalls, das Schicksal des anderen Menschen mit der eigenen Selbstschätzung zu verbinden“ (S. 248). Teilnehmendes Verstehen bringe dann die gehörten Geschichten „auf den Begriff“, indem benannt wird, was erstaunt. So sei es möglich, sich einen Begriff vom Leiden des Anderen zu machen. Dies bildet Schuchter zufolge den zentralen Lebenskunstbegriff der Sorge. Für die folgenden Überlegungen zieht der Autor die Mitleidsethik Schopenhauers heran, hält den Sorge-Begriff aber für präziser. Nachdem man sich einen „Begriff gemacht“ habe, folge die Erweiterung der Sorge in die Gestaltung. Die „Lust am Leben und Gedeihen des anderen Menschen“ (S. 324) sei Fundament einer Sorge, die als Prozessethik (S. 322) zu verstehen ist. Die Sorge bilde dabei die „geheime Seele von Normen, Tugenden und Zielen“ (S. 333). Ziel der Entfaltung der hermeneutischen Struktur der Sorge schließlich ist die Entwicklung ethischer Kreativität, die in der Praxis der klinischen Ethik wirksam werden soll.

Diese theoretischen Überlegungen veranlassen Schuchter zu einer Kritik der gängigen Praxis vieler Klinischer Ethikkomitees. Im Krankenhaus, so Schuchter, werde das Ethos des Sorgens in die Logik einer Dienstleitung übertragen (S. 52 f.) und im DRG-System komme es zu einer „Verflachung der Sorge“ (S. 65). Konkret für die Ethikberatung in Krankenhäusern bedeute dies, dass hier ein reduktionistischer Umgang mit (Fall‑)Geschichten drohe (S. 222) und Patientengeschichten verobjektiviert würden, um auf Grundlage einer Prinzipienethik entscheiden zu können. Stattdessen stünden Geschichten für etwas und die hermeneutische Struktur der Sorge ermögliche ein teilnehmendes Verstehen, das zur Neuerschließung der eigenen wie auch der Welt des Anderen führe (S. 227). Schuchter erkennt jedoch an, dass in vielen Fällen durch die zeitintensive Möglichkeit, einen Konflikt professionsübergreifend zur Sprache zu bringen, schon jetzt je eigentliche Sorge geleistet würde – nämlich hermeneutisch-suchende Sorge um zu verstehen.

Vieles für den Krankenhaus-Alltag Wünschenswerte wird bei Schuchter im Sorge-Begriff zusammengefasst. Es besteht aber bei ihm auch eine Tendenz, den Sorgebegriff überzustrapazieren: So z. B. bei den (politischen) Vorschlägen Schuchters zur Umsetzung seiner Theorie in der Organisation Krankenhaus, welches dann am Anspruch, die gesamte menschliche Existenz verbessern zu sollen, zu scheitern droht. Abgesehen davon wäre es aber schade, wenn man am Ende der Lektüre dächte, es ginge nur darum, richtig zuzuhören und sich anrühren zu lassen, denn eine Ethik der Sorge ist Gesundheitsförderung im umfassenden und komplexen Sinne, wie Schuchter pointiert aufzeigt.