Im Mai 2018 trat die Europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) in Kraft, die einerseits klare Ziele des europaweit harmonisierten Umgangs mit Daten verfolgt, zugleich aber Mitgliedsländern Spielräume zur Datennutzung lässt, etwa in der biomedizinischen Forschung.

Fachexperten und Nachwuchswissenschaftler diskutierten vom 16.–20. Oktober 2019 während einer vom BMBF geförderten Klausurwoche im interdisziplinären Austausch die ethischen, sozialen sowie (Datenschutz-)rechtlichen Herausforderungen der Einwilligung zur Sekundärnutzung immer größerer Datenmengen für die medizinische Forschung. Die Klausurwoche fand am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der TU München unter der wissenschaftlichen Leitung von Alena Buyx und Gesine Richter statt.

Hintergrund sind Entwicklungen in Medizin und Gesellschaft, die nicht nur die Aktualität und Praxisrelevanz der Thematik bedingen, sondern auch verdeutlichen, dass regulatorische, ethische und soziale Dimensionen bei der Auseinandersetzung mit der Zukunft der datenreichen Medizin untrennbar miteinander verwoben sind:

  1. 1.

    die wachsende Vielfalt und Entgrenzung von Daten und die Möglichkeit ihrer Dekontextualisierung und Rekontextualisierung in und für die medizinische Forschung;

  2. 2.

    die zunehmende Durchsetzung der breiten Einwilligung (broad consent) für datenreiche Forschungsprojekte; und

  3. 3.

    die international unterschiedliche Umsetzung der DSGVO im Hinblick auf die Sekundärdatennutzung mit und insbesondere ohne Einwilligung.

Die Tagung begann mit einem Impulsreferat von Alena Buyx, in dem sie in die Arbeit und Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zu Big Data und Gesundheit einführte und insbesondere den Begriff der Datensouveränität zur Diskussion stellte. Anhand des konkreten Anwendungsfalls des Aufbaus einer Daten- und Biomaterial Infrastruktur im Kontext Klinischer Studien der wissenschaftlichen Forschungsplattform des DZHK e. V. gab Monika Krauss, Koordinatorin Ethik am DZHK, Einblick in die Herausforderungen, mit denen sich medizinische Verbundforschung, insbesondere seit Inkrafttreten der EU-DSGVO, konfrontiert sieht. Die deutschlandweit heterogene ethische und datenschutzrechtliche Bewertung von Studien führt dazu, dass multizentrische Forschungsvorhaben bei mehreren Stellen eingereicht werden müssen. Eine Analyse der Fragestellungen aus Voten medizinischer Ethikkommissionen aus den Jahren 2017 und 2018, die bei Einreichung von Studien mit Nutzung der Klinischen Forschungsplattform bearbeitet werden mussten, zeigte, dass Fragen zu den allgemeinen Verfahren und der governance deutlich zurückgingen, während sich die Ethikkommissionen auf Themen rund um die neue EU-Datenschutzgesetzgebung konzentrierten. Fehlende allgemeinverbindliche Leitlinien für den Umgang mit der DSGVO führten dazu, dass verschiedene Grundsatzfragen auf Basis einer rein juristischen und datenschutzrechtlichen Bearbeitung der Gesetzestexte bis heute nicht vollständig aufgelöst werden konnten.

Als juristische Experten begleiteten David Townend, Maastricht University, und Sebastian Graf v. Kielmansegg, Universität Kiel, die Klausurwoche in Hinblick auf die nationale Betrachtung sowie den internationalen Vergleich der Möglichkeiten der Sekundärdatennutzung zu Forschungszwecken. Beide verwiesen darauf, dass die rechtliche Problematik darin liege, für Datenverarbeitung in Big-Data-Konzepten eine geeignete Rechtsgrundlage zu finden. Townend thematisierte die aktuelle politische Diskussion in den Niederlanden, die den Aspekt der Daten-Solidarität in Bezug setzt mit der Sekundärnutzung von medizinischen Daten für Forschungszwecke. Das instruktive niederländische Beispiel lenkte die Diskussion auf die Frage, ob es eine ethische Pflicht gibt, medizinische Daten zu Forschungszwecken bereitzustellen. Angesichts der Möglichkeiten der Datenverknüpfung und der De-Kontextualisierung sei die Frage einer informierten Einwilligung neu zu überdenken.

V. Kielmansegg verwies in der Betrachtung der deutschen Gesetzgebung darauf, dass entweder eine Einwilligung des Betroffenen („opt in“) oder die gesetzlichen Forschungsklauseln in Frage kommen. Die rechtliche Schwierigkeit bei der Einwilligungsvariante liege in der notwendigen Breite der Einwilligung, weil bei Big-Data-Konzepten der konkrete Forschungszweck noch nicht feststehe. Das Konzept des broad consent, das dies zu berücksichtigen versucht, sei rechtlich umstritten und wurde auch von den Teilnehmern überwiegend kritisch gesehen. Empirische Studien an der Universität Greifswald, vorgestellt von Sybille Roschka, und an der Universität Kiel, vorgestellt von Gesine Richter, konnten allerdings eine breite Akzeptanz des broad consent unter Patienten beobachten. V. Kielmansegg argumentierte, dass ein broad consent unter bestimmten Voraussetzungen zulässig sein kann, weil die relative Breite der Entscheidung ihre Autonomie nicht ausschließe. Als Alternative ließen sich die Forschungsklauseln erörtern (z. B. § 27 Bundesdatenschutzgesetz (BDSG)), mit denen sich gewisse Nachteile des Einwilligungsverfahrens, wie eine potentielle Überforderung des Patienten, in der Aufklärungssituation vermeiden lassen könnten. Inwieweit die Forschungsklauseln im deutschen Recht eine Datenverarbeitung ohne Einwilligung in Big-Data-Konzepten erlauben, sei jedoch zweifelhaft. Auf jeden Fall, so v. Kielmansegg, müsste die Datenverarbeitung dann als „opt out“ gestaltet werden, so dass der Betroffene die Möglichkeit hat, ihr jederzeit zu widersprechen.

Einen internationalen Exkurs hierzu bot ein Einblick in das Schweizerische Humanforschungsgesetz und die darin enthaltenen Datenschutzregeln. Andrea Martani von der Universität Basel fokussierte auf die verschiedenen vom schweizerischen Gesetzgeber vorgesehenen Einwilligungsmodelle der spezifischen Einwilligung, der Generaleinwilligung und der vermuteten Zustimmung.

In diesem Zusammenhang beleuchtete auch Patrik Hummel, Universität Erlangen-Nürnberg, den Begriff der Datensouveränität und argumentierte, dass diese nicht auf negative Abwehransprüche beschränkt sei, sondern auch mit positiven Verfügungsaspekten einhergehe und somit zur Datenspende motiviere. Erforderlich seien allerdings entsprechende Mechanismen informierter Einwilligung. Datenspende dürfe nicht am Willen der Individuen vorbei erfolgen.

Die direkt daran anschließende Frage der Datenspende und der Möglichkeiten ihrer Ausgestaltung griff Wiebke Lesch von der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e. V. (TMF) auf und präsentierte Daten aus einer forsa-Umfrage der TMF, die eine breite Akzeptanz der Datenspende in der Bevölkerung nahelegen.

Der öffentliche Abendvortrag von Michael Krawczak, Universität Kiel, zum Thema „Secondary Data Use for Research: Consent or Data Donation?“ setzte sich ebenfalls mit dem Konzept der Datenspende aus Sicht der Forschung auseinander: Ausgehend von den derzeitigen Einwilligungsgrundlagen für die Datennutzung seitens der medizinischen Forschung beschrieb Krawczak die aktuelle Debatte zum Begriff der Datenspende als Chance, den freiwilligen, nicht auf Gegenleistung angelegten Charakter der Forschungsdatenüberlassung zu betonen. Während die informierte Einwilligung ein hohes und oft im Klinikalltag nicht erreichbares Verständnis der Patientinnen und Patienten voraussetze, lebe die Datenspende vom Vertrauen des Datengebers in die Forschenden. Sie sei Ausdruck der Anerkennung der Arbeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und stelle mithin eine bewusste Übertragung von Verantwortung dar. Umgekehrt verlange dies eine Datengovernance, die sicherstelle, dass die Datenspende nicht unethischen Zwecken zugeführt wird und dass effektive Sicherungsmaßnahmen gegen Angriffe und Missbrauch bestehen.

Angesichts der regulatorischen Disparität von Bundes- oder Landesgesetzgebung in Hinblick auf die sekundäre Forschungsnutzung sowie die anhaltenden Unklarheiten zu den Anforderungen einer informierten Einwilligung und die restriktive Handhabung einer Forschungsnutzung ohne Einwilligung, stellte Markus Spitz von der Universität Heidelberg die Frage, ob eine Liberalisierung der medizinischen Forschungsnutzung in Deutschland erforderlich oder gar wünschenswert ist. Weiterhin erörterte er, welche alternativen Konzepte zum Ausgleich von Forschungs- und Patienteninteressen in Betracht kommen.

Die Öffnungsklausel für wissenschaftliche Forschung in der DSGVO macht einen länderübergreifenden Vergleich im Hinblick auf die internationale Kooperation in der datenreichen Medizin notwendig. Da den Mitgliedsstaaten im Rahmen der Öffnungsklauseln der DSGVO für die Forschung die Möglichkeit gegeben wird, eigene Datenschutzregelungen beizubehalten oder zu erlassen, können diese beispielsweise nach Art. 9 Abs. 2j DSGVO für besondere Kategorien personenbezogener Daten eigene Regelungen treffen. Dies führt dazu, dass die Forschungsklauseln in den nationalen Anpassungsgesetzen der Mitgliedsstaaten voneinander abweichen.

Deutschland nutzt den von der EU gegebenen Spielraum breit aus und ermöglicht im neuen Datenschutzgesetz zumindest prima facie die Datenverarbeitung zu wissenschaftlichen oder historischen Forschungszwecken sowie zu statistischen Zwecken ohne Einwilligungserklärung.

Bei grenzüberschreitenden Datenverarbeitungen, die besonders im Forschungsbereich relevant sind, diskutierte Leonie Schrader von der Universität Kiel die derzeit noch offene Frage des anwendbaren mitgliedsstaatlichen Datenschutzrechts.

Ebendiese bestehenden Unsicherheiten im Hinblick auf den internationalen Datenaustausch zu Forschungszwecken unter der DSGVO griff Elena Pavlenko von der Charité Universitätsmedizin Berlin auf und verwies auf die Herausforderungen an den Aufklärungs- und Einwilligungsprozess sowie die Schwierigkeiten des Datenaustauschs über Ländergrenzen hinweg. Für die kognitiven Neurowissenschaften diskutierte sie die Vor- und Nachteile verschiedener Datenaustauschmodelle wie der Public Sharing Strategy, Restricted Sharing Strategy und Dynamic Sharing Strategy.

Die sozialen und ethischen Implikationen sekundärer Datennutzung zu Forschungszwecken beleuchteten Martin Jungkunz und Anja Köngeter vom Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg. Zum einen gingen sie möglichen Datenschutz-Risiken für Patienten im Zuge der Forschung mit ihren Daten nach. Die Wahrscheinlichkeit und das Ausmaß der möglichen Schäden, welche aus einer unautorisierten Nutzung von Gesundheitsdaten resultieren können, sahen sie von vielfältigen Faktoren bestimmt, die sich sowohl aus der Art der Daten als auch aus dem Kontext ihrer Verwendung ableiten lassen. Zum anderen betrachteten sie die Einstellungen der betroffenen Stakeholdergruppen unter Verwendung qualitativer Experteninterviews, um so die gesellschaftlichen Erwartungen, den potenziellen Nutzen und die erwarteten Risiken für Patienten, Ärzte und Institutionen des Gesundheitssystems zu identifizieren.

Im weiteren Verlauf wurde die Thematik erweitert auf die Herausforderungen, die durch neue Methoden von machine learning und Big Data-basierter „künstlicher Intelligenz“ (KI) entstehen. Alena Buyx stellte neue Entwicklungen in der Medizin vor, etwa selbstlernende, autonom entscheidende Algorithmen in der medizinischen Diagnostik und Therapie. Sie diskutierte ethische und soziale Implikationen und unterstrich die Notwendigkeit, ethische Aspekte von Beginn der technischen Entwicklung an zu berücksichtigen. Als weitere Expertin beleuchtete Barbara Prainsack von der Universität Wien ethische Fragen von KI in der datenreichen medizinischen Forschung und betonte nicht nur die neuen ethischen Probleme, sondern auch das Phänomen des „ethics washing“. Damit werde die Entwicklung bezeichnet, dass es seitens Unternehmen mit kommerziellen Interessen an diesem Thema vermehrte Bestrebungen gibt, neue Institutionen zu schaffen und Agenden zu setzen, die sich mit dem Thema der „Ethik“ in einer industriefreundlichen Weise auseinandersetzen. Vor diesem Hintergrund sei es umso wichtiger, in der Diskussion der ethischen, gesellschaftlichen und regulatorischen Aspekte der KI in der Medizin Aspekte der politischen Ökonomie zu berücksichtigen. Das Feld der kritischen Datenstudien (critical data studies) habe hier besonders viel beizutragen. Es leite uns dazu an, die epistemologischen Annahmen datenintensiver Praktiken in der Medizin zu hinterfragen, die Künstliche Intelligenz als soziales und politisches Phänomen und nicht nur als technisches zu untersuchen, und es lenke unseren Blick auf die Machtasymmetrien, die zeitgenössische Datenökonomien kennzeichnen. Die Analyse dieser Aspekte sei zentral, wenn sichergestellt werden soll, dass KI in der Medizin zu einer effektiveren, menschlicheren und gerechteren Medizin beiträgt, anstatt bestehende Ungleichheiten zu vergrößern.

Mit der praktischen Anwendung von KI in der Altenpflege und den damit verbundenen DSGVO-konformen und ethisch akzeptablen Einwilligungskonzeption im Bereich sozialer Robotik beschäftigten sich Anne Wierling, Universität Siegen, und Wulf Loh, Universität Tübingen.

Bei der Anwendung von KI in Form möglicher Pflegeroboter komme eine Vielfalt an Sensorik und Datenverarbeitung zum Einsatz. Gleichzeitig stellen ältere Menschen aufgrund ihrer mangelnden Technikaffinität eine besonders vulnerable Gruppe dar. Herausforderung dieser KI-Anwendung sei es somit, die Informationen zur Einwilligung möglichst leicht verständlich und konkret zu gestalten und bei zunehmender Eingriffstiefe in die Privatsphäre den Zweck weiter zu konkretisieren.

Auf die Frage der moralischen Verantwortung bei der Nutzung von KI ging Daniel Tigard von der Universität Aachen ein. Insbesondere analysierte er, wie die Nutzung datenreicher Medizin verbunden mit künstlich intelligenten Systemen die moralische Verantwortung bei der Bereitstellung von Gesundheitsleistungen stärkt oder gefährdet.

Als Ergebnis der Klausurwoche kristallisierten sich im Spannungsfeld zwischen dem Schutz von Selbstbestimmung und Privatheit von Forschungsteilnehmern, dem Ausschöpfen der unzweifelhaft großen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Potentiale von Big Data sowie den jeweiligen regulatorischen Bedingungen zentrale Forschungsfragen heraus:

  • Welche Verantwortung tragen Forscher, Datennutzer und deren Institutionen im Umgang mit den vielfältigen Daten hinsichtlich neuer regulatorischer Vorgaben?

  • Welche ethischen und sozialen Anforderung an den Aufklärungs- und Zustimmungsprozess zur Datennutzung sollen/können im Zeitalter immer stärkerer Entgrenzung von Daten effektiv umgesetzt werden und wie sind die neuen rechtlichen Vorgaben dazu zu bewerten?

  • Kann das Ideal der informierten Selbstbestimmung im neu geregelten Aufklärungs- und Zustimmungsprozess zur Datennutzung in Zeiten von Big Data noch gewahrt werden und wenn ja, wie?

  • Welche Kompetenzen und Verantwortung mit Blick auf die eigenen Daten sollten Patienten haben und wie können diese erlangt werden?

  • Wie können Wissenstransfer und Kommunikation zu datenreicher Medizin optimiert werden?

  • Wie kann internationale datenreiche Forschung und ein grenzüberschreitender Datenaustausch unter den Vorgaben der DSGVO gelingen?

  • Wie lassen sich die neuen Herausforderungen durch KI-Anwendungen ethisch verantwortlich lösen und regulatorisch abbilden?

Dies bleiben entscheidende Fragen in der Diskussion über Sekundärnutzung von Daten und damit auch von Datenspende für die Forschung in Deutschland – Fragen, denen die Teilnehmer der Klausurwoche in einem geplanten Sammelband nachgehen werden.