Zusammenfassung
Ausgehend von einem konstruktivistischen Kulturbegriff stellt sich die Frage, wie in konkreten ethischen Konflikten im Gesundheitswesen kulturelle Differenzen konstruiert und moralisch relevant werden. Ein Konzept, das diese intersubjektive Konstruktion von Differenz und die damit verbundenen moralisch relevanten Machtasymmetrien zu analysieren erlaubt, ist das Konzept des „Othering“. Einzelne Aspekte des Othering im Gesundheitswesen und die Frage seiner Reichweite werden diskutiert, insbesondere die Frage, wie sich moralisch problematische Formen des Othering zur anthropologischen Unvermeidbarkeit von Asymmetrien im Verhältnis des Selbst zum fremden Anderen verhalten. Die Autoren benennen Strategien zur Vermeidung der moralisch fragwürdigen Aspekte von Othering. Diese Strategien beruhen auf der Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion der Wahrnehmung des Anderen und der Bewertung moralischer Positionen als basale ethische Kompetenzen.
Abstract
Definition of the problem
The paper discusses how the construction of cultural differences gains influence on moral conflicts in health care and how the phenomenon of Othering can be dealt with in an ethically responsible way.
Arguments
The construction of difference is interpreted by reference to the concept of Othering which describes the dynamics of reinforcing asymmetries in relations between the Self and the Other. Different aspects of this concept and its relation to the anthropological unavoidableness of asymmetries between Self and Other are discussed.
Conclusion
Although an asymmetric perception and evaluation of conflicts is unavoidable, there are strategies to deal with Othering in an ethically responsible way in the context of health care. The basic ethical competence needed therefor is the capacity for critical self-reflection because this is a prerequisite for truly understanding and accepting the Otherness of the Other without falling back on cultural prejudices and stereotypes.
Notes
Sprachlich ist „Othering“ eine Verlaufsform, gebildet aus dem englischen „other“ (dt. der/die andere, andersartig). Daher wurde als deutsche Übersetzung das Wort „VerAnderung“ (Reuter 2002) vorgeschlagen. Da der englische Begriff in der Fachliteratur aber etabliert ist, werden wir im Folgenden bei diesem bleiben, ohne ihn zu übersetzen.
Vgl. dazu unten. Zur Notwendigkeit der Differenzierung dieser beiden Unterscheidungen vgl. Waldenfels (2012), S. 20 f.
Es geht hier nicht darum, zu behaupten, dass der Vorgang sich notwendig so abspielen müsse wie im konkreten Beispiel. Wir rekonstruieren vielmehr an einem konkreten Beispiel aus der Gesundheitsversorgung, wie ein Prozess des Othering sich entwickelt und zu einem ethischen Konflikt führt.
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Coors, M., Neitzke, G. „Othering“: Die Konstruktion des Anderen im Gesundheitswesen. Ethik Med 30, 191–204 (2018). https://doi.org/10.1007/s00481-018-0489-5
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