Zusammenfassung
Die aktuelle philosophische Diskussion um eine angemessene Bestimmung des Todesbegriffes ist vor allem durch zwei konkurrierende Ansätze geprägt: Gemäß dem einen Ansatz ist der menschliche Tod der Tod des Körpers, gemäß dem anderen Ansatz der Tod der Person bzw. des Bewusstseinslebens. Der vorliegende Beitrag zeigt, dass beiden Ansätzen ein dualistisches und objektivistisches Verständnis des Menschen zugrunde liegt, dessen Anwendung in der Praxis zu zahlreichen Konflikten führt. Um diese Konflikte zu lösen, wird unter Rückgriff auf zentrale Einsichten der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners ein integratives Konzept des menschlichen Todes entwickelt, das es erlaubt, die personale Perspektive auf den Tod einzubeziehen. Auf der Grundlage dieses Konzeptes erscheint es geboten, das Hirntodkriterium als Todeskriterium aufzugeben und die aktuellen Organspendekampagnen grundlegend neu auszurichten.
Abstract
Definition of the problem
Within the current philosophical debate on the adequate definition of human death, death is defined either as the death of the body or the death of the person. However, the application of these notions leads to several practical conflicts, which can be seen first and foremost in the brain-death debate and the discussions on how to increase organ donation.
Arguments
The conflicts are based in both a dualistic and objectivistic notion of the human being which are implied in both definitions of death. In order to solve these conflicts, we are in need of a nondualistic concept of human being which at the same time enables us to elaborate a first- and second-person perspective on death. On the basis of Helmuth Plessner’s philosophical anthropology, such an integrative concept of death can be developed.
Conclusion
Following this concept, it seems reasonable to abandon the brain-death criterion as the criterion for human death and to fundamentally reform the current information campaigns for organ donation.
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Notes
Zu den Handlungskonflikten und Bewältigungsstrategien auf der Intensivstation vgl. Lindemann (2001; 2002). Auf der Basis teilnehmender Beobachtung diskutiert sie Fälle, in denen Mitarbeitende der Intensivstation zwar sprachlich beteuern, vom Hirntodkonzept überzeugt zu sein, in ihrem tatsächlichen Handeln aber eine gegenteilige Überzeugung zum Ausdruck bringen. Drei Beispiele: Ein Mediziner beschreibt beiläufig das Abstellen der Geräte als belastend, weil er „damit letztlich den Tod herbeiführt“ (Lindemann 2001, S. 329); manche Mediziner*innen bleiben nach dem Abstellen der Geräte beim Patienten, bis sein Herz zu schlagen aufgehört hat (Lindemann 2001, S. 329); ein Transplantationsmediziner berichtet davon, wie er in jungen Jahren eine Transplantation verweigert hatte, weil er den Patienten für lebendig hielt: „‚[Ich] war der Meinung: der ist nicht hirntot und bin abgefahren. Hab die Organe nicht entnommen. Und das hat von den Neurologen natürlich mächtig Ärger gegeben‘“ (Lindemann 2001, S. 331). Zu den psychischen Belastungen siehe auch: Kalitzkus (2003), Ralph et al. (2014).
URL: www.pressebox.de/attachment/243277/CLPneu.pdf. Zugegriffen: 15. April 2017.
URL: www.junge-helden.org/. Zugegriffen: 15. April 2017.
Diese Erklärung wird durch entsprechende Umfragen, die die BZgA in Auftrag gegeben hat, gestützt.
Vgl. die Ergebnisse des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes „Ich möchte lieber nicht. Das Unbehagen mit der Organspende und die Praxis der Kritik“, in dem auf der Basis qualitativer Interviewanalysen gezeigt wird, dass eine Ablehnung der Organspende eher in kulturell bedingten Vorstellungen von Tod und Körperlichkeit gründet als in einem Misstrauen gegenüber dem System oder mangelnder Information: Schicktanz et al. (2016). Zur Perspektive von Angehörigen vgl. Ralph et al. (2014).
Vgl. die Beispiele in Fußnote 1.
Wenn ich von „der Perspektive der Handelnden“ spreche, dann meine ich damit allgemeine begriffliche Strukturmerkmale der Vollzugs- und Teilnehmerperspektive im Unterschied zur Beobachterperspektive (vgl. hierzu auch den folgenden Abschnitt dieses Beitrages, in dem ich von der personalen Perspektive der ersten und zweiten Person im Unterschied zur objektivierenden Perspektive der dritten Person spreche). Diese begriffliche Ebene ist von der empirischen Ebene, auf der sich z. B. soziologische Studien bewegen, wenn sie nach der konkreten Perspektive jeweils bestimmter Handelnder fragen, zu unterscheiden.
Nachvollziehbar wird diese Erfahrung der Sprachlosigkeit etwa in Maylis de Kerangals Roman „Die Lebenden reparieren“ (de Kerangal 2015, S. 104–117).
Stoecker (2010, S. 51 ff.) spricht in diesem Zusammenhang von der „Standardanalyse des Todes“, der auch ich in diesem Beitrag folgen werde.
“We are not concerned with the death of the organism that outlives the person.” (Barlett und Youngner 1988, S. 211).
So ein Transplantationsbeauftragter in einem von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) 2007 produzierten Video: „Thema Organspende im Unterricht“ (2007).
Die Forderung, das Hirntodkriterium als Todeskriterium aufzugeben, ist keineswegs neu, sie begleitete die Debatte von Anfang an. Vgl. bspw. die Beiträge in: Hoff und in der Schmitten (1994).
Zu denken ist etwa an den Fall von Jahi McMath; hierzu: Johnson (2016).
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Interessenkonflikt
D. Kersting gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
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Die vorliegende Arbeit erhielt den Nachwuchspreis 2016 der Akademie für Ethik in der Medizin e. V. Sie basiert auf den Ergebnissen der Dissertationsschrift des Verfassers, die im Sommer 2017 unter dem Titel „Tod ohne Leitbild? Philosophische Untersuchungen zu einem integrativen Todeskonzept“ im Mentis-Verlag erscheinen wird. Die Dissertation wurde im Rahmen des von der VolkswagenStiftung geförderten interdisziplinären Forschungsprojektes „Tod und toter Körper“ sowie des Folgeprojektes „Transmortalität“ verfasst.
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Kersting, D. Tod des Körpers oder Tod der Person?. Ethik Med 29, 217–232 (2017). https://doi.org/10.1007/s00481-017-0449-5
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00481-017-0449-5
Schlüsselwörter
- Menschlicher Tod
- Hirntod
- Organspende
- Philosophische Anthropologie
- Person
- Leiblichkeit
Keywords
- Human death
- Brain death
- Organ donation
- Philosophical anthropology
- Concept of person and body