In dem Maße, in dem die Klinische Ethik an Bedeutung gewinnt und die Erfahrungen damit systematisch reflektiert werden, rückt neben dem individuellen Handeln und Entscheiden immer mehr die institutionelle Umgebung dieses Handelns und Entscheidens in den Blick. Missstände in der Altenpflege aufgrund schlechter Personalbesetzung, die unzureichende Ausstattung mancher Einrichtungen, fragwürdige finanzielle Anreize – die Probleme weisen mehr und mehr nicht auf bloß individuelles Versagen Einzelner, sondern auf Probleme der Organisation, ja auf Systemprobleme des Gesundheitswesens hin.

Die Negativbeispiele für das Versagen von Organisationen zeigen, dass ein hoch entwickeltes Gesundheitssystem oft einfache Dinge nicht ausreichend gewährleistet: gute Information von Patienten, gute Entscheidungsqualität im Sinne der Patienten sowie eine gute, der Situation des Patienten angemessene und seinen Wünschen entsprechende medizinische Versorgung. Stattdessen findet sich oft Unterversorgung (jemand wird mit einem Schlaganfall nicht auf die Stroke Unit verlegt, um die Fallpauschale nicht zu verlieren) oder Überversorgung (fragwürdige Indikationen zu invasiver Diagnostik und Therapie).

Ursachen für Fehlentwicklungen sind u. a. steile Hierarchien, in denen angeordnet und nicht gemeinsam beraten wird, unhinterfragte Routinen von Funktionseinheiten bzw. Abteilungen sowie mangelnde Kommunikation.

Die genannten Probleme sind Herausforderungen für eine ethische Reflexion, die sich nicht auf Einzelakteure begrenzt, sondern die Organisation als kollektiven moralischen Akteur in den Blick nimmt. Wer aber ist der moralische Akteur, um den die organisationsethische Reflexion kreist? Es kommt keineswegs nur auf die Leitungsebene einer Organisation an, sondern auf das Zusammenwirken aller dort beschäftigten Personen. Den einzelnen Beschäftigten kommt moralisch gesehen eine Mitverantwortung für die Kultur und das Funktionieren „ihrer“ Organisation zu, gerade weil die Verantwortung in komplexen Systemen nicht eindeutig zuschreibbar ist, sondern diffundiert.

Dimensionen der organisationsethischen Reflexion sind die Ziele, Aufgaben und die Verfasstheit von Organisationen. Als zentrale ethische Orientierungen treten Verantwortung und Gerechtigkeit sowie Würde und Autonomie aller beteiligten Personen hervor, die sich in Haltungen und Praktiken der Empathie und der Kommunikation konkretisieren. Zusätzlich zu der schon viel diskutierten Qualitäts- und Organisationsentwicklung rückt damit das Thema der Kultur in den Vordergrund. Gute ethische Entscheidungen sind nur im Kontext einer solchen Kultur möglich, die ein Desiderat für weitergehende Forschung darstellt.

Woran es sich festmacht, dass eine Institution des Gesundheitswesens moralisch gut agiert, ist etwa so zu umreißen: Profitiert der Patient von dem, was im Leitbild steht? Wie realisiert sich dieses in Form konkreter Maßnahmen und Strukturen? Wie zufrieden sind die Mitarbeiter? Ist die Institution lernfähig, z. B. im Umgang mit Fehlern, und gestaltet sie Veränderungen gezielt und gemeinsam? Nehmen die Leitungen ihre Verantwortung für die Ermöglichung und Sicherstellung von Kommunikations- und Reflexionsräumen ernst und beteiligen sie sich selbst daran?

Die Arbeitsgruppe Pflege und Ethik in der AEM beschäftigt sich bereits seit zwei Jahren mit dem Thema Organisationsethik, weil die Bedeutung struktureller Probleme gerade auch für die Frage der Rolle und der moralischen Handlungsspielräume der Pflege immer deutlicher wurde. Die AG stellt die Personorientierung ins Zentrum der organisationsethischen Reflexion, nicht nur die Orientierung an der Person des Patienten, die durch die Selbstbezüglichkeit und Eigendynamik von Organisationen leicht aus dem Blick gerät. Es geht vielmehr ebenso sehr um die Person der in ihnen tätigen Akteure, um ihre Anerkennung, Achtung und ihr Wohl, einschließlich der Möglichkeit, im Sinne moralischer Orientierung tätig sein zu können. Die Pflege bietet aus Sicht der AG zwei wichtige Ressourcen für die Unterstützung der Organisations- und Kulturentwicklung. Zum einen bietet ihre Nähe zur Person der Patienten Möglichkeiten für Organisationen, bei der Personorientierung besser zu werden. Dafür muss die Pflege gerade in ihrer Beziehungsqualität gestärkt werden. Einige christliche Träger setzen hier bereits neue Akzente (z. B. durch Fortbildungen für empathische Kurzinterventionen und spirituellen Beistand). Zum anderen ist die Pflege durch ihr vielfältiges Arbeitsfeld geradezu die „wandelnde Schnittstelle“. Auch dies wird bereits genutzt, indem Pflegende z. B. als OP-Koordinatoren oder Case Manager eingesetzt werden. Die Pflege als Berufsgruppe zu stärken, bedeutet übrigens auch, die Frage der Pflegekammern unvoreingenommener als bisher zu diskutieren: Diese werden für das gesamte Gesundheitswesen von Vorteil sein.

Die institutionalisierte ethische Reflexion in Einrichtungen des Gesundheitswesens verbessert die Diskurskultur in Organisationen und damit die Organisationskultur selbst. Damit wird die Klinische Ethik zu einem Baustein von Organisationsentwicklung. Gleichzeitig fordert sie die Organisation heraus, indem sie häufig das thematisiert, was in der Organisation nicht so gut läuft: In den organisationsethischen Diskursen wird ethische Reflexion politischer. Sie benennt nicht nur gegenüber Einzelakteuren, sondern auch gegenüber der Leitungsebene von Institutionen und der Politik moralisch problematische Fehlentwicklungen. Zwischen der Rolle als ethisches Feigenblatt ohne weitere Folgen und der des Anklägers, der die Leitungsebene als unmoralisch „entlarvt“, muss die klinische Ethik einen konstruktiven Weg finden, wie Ethik in Organisationen auch in Bezug auf die Organisation selbst wirksam werden kann. Hier bietet sich eine stärkere Vernetzung von organisationsinternen Strukturen wie QM, Klinische Ethik, Organisations- und Kulturentwicklung sowie Personal- und Strategieentwicklung an.