Einer Person, die um Suizidhilfe gebeten wird, stellen sich ethische Fragen auf unterschiedlichen Ebenen. Zunächst erfolgt die Anfrage an ein individuelles moralisches Subjekt und die jeweils eigenen Moralvorstellungen (1). Darüber hinaus erfolgt die Anfrage innerhalb eines bestimmten institutionellen Kontextes mit weiteren moralisch relevanten Herausforderungen an die soziale Rolle des Angefragten (2). Schließlich findet jede moralische Entscheidung in einem sozialen Kontext statt, der die Entscheidung prägt und auf den die Entscheidung wiederum zurückwirkt. Darum sind auch sozialethische Überlegungen relevant (3). Eine verantwortungsvolle individuelle Entscheidungsfindung (4) erfordert Reflexionen auf allen drei genannten Ebenen.
Der Helfer als individuelles moralisches Subjekt
Die Bitte um Suizidhilfe erfordert eine moralische Positionierung. Die eigenen emotionalen Reaktionen und ersten intuitiven Eindrücke werden häufig ambivalent und widersprüchlich sein. Mögliche Reaktionen können sowohl Mitleid als auch Abscheu, empathisches Verständnis, Wut, Trauer oder auch Erleichterung enthalten. Neben den emotionalen Reaktionen steht die rationale Reflexion, die in einem Abwägungsprozess das Für und Wider aufgrund der eigenen moralischen Überzeugungen und weiterer argumentativer Überlegungen analysiert.
Inhaltlich muss sich die um Suizidhilfe gebetene Person im Wesentlichen die folgenden Fragen zur Klärung der eigenen moralischen Haltung stellen:
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Handelt es sich um einen möglicherweise pathologischen oder um einen freiverantwortlichen Suizidwunsch? Gibt es Hinweise auf pathologische Hintergründe, so hat die Behandlung im Sinne der Suizidprävention Vorrang.
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Ist die Frage einer möglichen psychiatrischen Störung und deren Behandelbarkeit aus meiner Perspektive beantwortbar oder ist eine (fach-)ärztliche Begutachtung erforderlich?
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Ist bei Vorliegen einer psychiatrischen Störung eine weitere Behandlung als aussichtslos (therapierefraktär) einzuschätzen?
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Gibt es Handlungsalternativen, die der Suizident in Betracht gezogen hat? Habe ich als angefragter Helfer diese Alternativen ausreichend und angemessen angeboten? Sind diese Angebote vor dem Hintergrund seiner Lebens- und Leidensgeschichte zumutbar?
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Habe ich externe Hilfe angemessen eingebunden?
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Wie bewerte ich den freiverantwortlichen Suizidwunsch im Horizont meiner eigenen moralischen und weltanschaulich-religiösen Überzeugungen? In welcher Weise sind meine moralischen Vorstellungen von Sterben und Tod berührt?
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Welche Bedeutung haben finanzielle Aspekte? Wie und in welchem Ausmaß beeinflussen sie meine Entscheidung?
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Um welchen Beitrag beim Suizid werde ich gebeten? Erlaubt meine moralische Haltung, diesen Beitrag (von einem bloßen Zulassen über Begleitung bis zur aktiven Vorbereitung und Planung) zu leisten?
Dabei ist jeweils abzuwägen:
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Welche Wahrnehmungen, Intuitionen, Emotionen und Argumente sprechen aus Sicht des Suizidwilligen für eine Beendigung seines Lebens? Was davon ist für mich nachvollziehbar (auch wenn ich für mich selbst möglicherweise in vergleichbarer Situation anders argumentieren würde)?
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Welche Wahrnehmungen, Intuitionen, Emotionen und Argumente sprechen aus meiner Sicht gegen die Entscheidung zum Suizid? Liegen auf Seiten des Suizidwilligen andere Wahrnehmungen der Situation oder andere moralische Grundannahmen vor? Wie verhält sich der Suizidwillige zu meiner Wahrnehmung und meinen Gegenargumenten? Zieht er sie in Betracht und kann mit nachvollziehbaren Argumenten darauf eingehen?
Die Beantwortung dieser Fragen verlangt nach einer intensiven Auseinandersetzung mit den Gründen und Überzeugungen des Suizidwilligen und setzt Zeit für Gespräche voraus. Die Bereitschaft, sich auf diesen Prozess einzulassen, sollte ein ethischer Standard zur Prüfung vor einer Suizidhilfe sein.
Die um Hilfe gebetene Person muss für sich klären, ob eine mögliche Suizidhilfe für ihr Gewissen zumutbar ist: Bin ich – auch langfristig – in der Lage, mit dem Wissen zu leben, dass ich einem anderen Menschen beim Suizid geholfen habe und eine Mit-Verantwortung für seinen Tod trage? Könnte ich andererseits damit leben, die Suizidhilfe abgelehnt zu haben?
Der Helfer in seiner sozialen/institutionellen Rolle
Ein Suizidhelfer wird nicht nur als Individuum, sondern immer auch in einer bestimmten sozialen und/oder institutionellen Rolle angefragt: als Angehöriger, als Hausarzt, als Mitarbeiter einer Pflegeeinrichtung, eines Palliativdienstes oder einer Suizidhilfeorganisation. Als Mitarbeiter einer Einrichtung des Gesundheitswesens ist zu berücksichtigen, dass sich eine mögliche Suizidhilfe nicht als private Handlung von der beruflichen und gesellschaftlichen Rolle abtrennen lässt: Als Arzt oder Pflegekraft handelt man immer auch in der professionellen Rolle und wird wahrscheinlich deswegen um Hilfe gebeten. Das bedeutet auch, dass eine Ablehnung der Suizidhilfe den Hilfesuchenden vor die Entscheidung stellt, den Suizid zu unterlassen, allein durchzuführen oder Hilfe durch eine Organisation in Anspruch zu nehmen. Mitarbeiter solcher Suizidhilfeorganisation müssen daher die Bedeutung ihrer Rolle bereits im Vorfeld gründlich und grundsätzlich für sich reflektieren, da sie überwiegend nicht als Privatpersonen wahrgenommen werden und handeln können.
Der um Suizidhilfe Gebetene muss prüfen, ob existierende standesethische Überzeugungen und berufsrechtliche Regelungen mit der Suizidhilfe in Konflikt stehen, und ob er ggf. bereit ist, entsprechende rechtliche Konsequenzen zu tragen, weil er sich aufgrund seines Gewissens zur Beihilfe verpflichtet fühlt. In Betracht zu ziehen sind dabei auch Auswirkungen, die seine Handlung auf das gesellschaftliche Bild und Ansehen seines Berufsstandes haben kann. Dabei sollte der angefragte Suizidhelfer klären, ob dieser Fall eine Ausnahme darstellt oder ob die Suizidhilfe in seiner Tätigkeit zum Regelfall wird.
Mitarbeiter einer Einrichtung im Gesundheitswesen sind Teil eines solidarisch finanzierten Gesundheitssystems. Darum ist auch zu klären, ob und in welchem Umfang im Rahmen der Suizidhilfe öffentliche Mittel in Anspruch genommen werden und ob dies ggf. zu rechtfertigen ist. Hier ist etwa an die durch das Gesundheitssystem finanzierte Arbeitszeit des Arztes, Fragen der Finanzierung von Medikamenten und den Umgang mit Spendenmitteln, etwa in der Hospizarbeit, zu denken. Zu berücksichtigen sind auch Konsequenzen, die sich aus einem möglichen Misslingen eines Suizids ergeben (z. B. Kosten, Haftung).
Sozialethische Aspekte der Suizidhilfe
Wie jede gesellschaftliche Praxis erfordert die ethische Bewertung der Suizidhilfe neben einer individualethischen Perspektive auch sozialethische Überlegungen: 1) In welcher Weise beeinflussen gesellschaftliche Rahmenbedingungen den Sterbewunsch älterer oder kranker Menschen? 2) Welche positiven und negativen Konsequenzen kann die Etablierung von Suizidhilfe für die Beziehungen zwischen Patienten und Ärzten, innerhalb der Familien und in der Gesellschaft insgesamt aufweisen? 3) Welche positiven und negativen Konsequenzen hat die Praxis der Suizidhilfe auf das Selbstverständnis bestimmter sozialer Gruppen, wie etwa der Ärzteschaft oder der Pflegenden? 4) Wie verändern sich das Menschenbild und die Einstellungen zu Leben, Sterben, Krankheit und Tod?
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen
Die soziale Situation insbesondere älterer und kranker Menschen beeinflusst deren Lebensqualität und damit ihren Lebenswillen. Die Angebote für die Betreuung und Pflege dieser Menschen müssen verbessert werden, um den sozialen Druck in Richtung eines Suizids so weit wie möglich zu minimieren. Dazu zählt auch die finanzielle Situation alter und kranker Menschen und ihrer Angehöriger, die nicht durch den ökonomischen Druck einen möglichen Sterbewunsch fördern darf. Gleichzeitig ist kritisch wahrzunehmen, dass Suizide zu erheblichen Einsparungen etwa bei Sozialversicherungsträgern führen können.
Veränderung von Beziehungen
Beziehungen verändern sich durch das Angebot von Suizidhilfe. Menschen mit Behandlungswunsch müssen sich weiterhin darauf verlassen können, dass das Ziel ärztlicher und pflegerischer Bemühungen zu jedem Zeitpunkt auf ihre Lebenserhaltung, Wiederherstellung der Gesundheit oder das Lindern von Leiden ausgerichtet ist. Das Angebot von Suizidhilfe, also einer beabsichtigten lebensverkürzenden Maßnahme, darf das Vertrauen in Mitarbeiter im Gesundheitswesen nicht untergraben. Dies gilt analog auch für Beziehungen in Familien: Kann bereits die Verfügbarkeit der Option einer Suizidhilfe mein Vertrauen schwächen, dass meine Angehörigen sich für meine Pflege und mein Weiterleben einsetzen werden? Andererseits gründet jede Beziehung auch in dem Respekt vor der Autonomie. In diesem Sinn schwächt bereits das Verweigern eines Gesprächs über Suizidhilfe das Vertrauen und damit die Beziehung.
Suizidhilfe und Berufsethos
Das moralische Selbstverständnis von Ärzten, Pflegenden oder ehrenamtlichen Helfern wird sich ebenfalls verändern. Das Zulassen des Todes eines Patienten bezieht sich nicht mehr nur auf das Sterbenlassen an einer Krankheit, sondern auch auf das Zulassen eines vorzeitigen und selbstverfügten Todes. Im Rollenverständnis von Ärzten und Pflegenden entsteht eine neuartige ethische Herausforderung: die Entscheidung, bis wann Angebote im Sinne der Lebenserhaltung gemacht werden können und ab wann ein Angebot zur Suizidhilfe zulässig ist, weil die Angebote zum Leben aus Sicht des Patienten nicht länger zumutbar sind.
Für das eigene Rollenverständnis ist weiterhin bedeutsam, dass der Suizidwunsch eine Zurückweisung von Behandlungs- und Pflegeangeboten darstellt. Hier stellt sich ebenfalls die Frage der Zumutbarkeit der eigenen professionellen Angebote. Die Veränderungen des professionellen Selbstverständnisses von Ärzten und Pflegenden durch die dauerhafte Zurückweisung ihrer professionellen Angebote durch einen Suizid sollten reflektiert werden.
Außerdem ist zu klären, ob die Alternativen zur Suizidhilfe verantwortet werden können. Wenn etwa aufgrund des professionellen Selbstverständnisses eine ärztliche Suizidhilfe abgelehnt wird, könnte die Zahl der einsamen Suizide, der misslingenden Suizide oder der Suizidbegleitung durch Organisationen zunehmen.
Veränderungen im Verständnis vom Menschsein
Angebot und Nachfrage beeinflussen sich wechselseitig. Das Angebot einer Suizidhilfe kann eine eigene Nachfrage erzeugen und muss deshalb verantwortet werden. Das dadurch sich verändernde Verständnis vom Menschen könnte die Bewertung enthalten und fördern, dass ein natürlicher Sterbeprozess und natürlich eingetretener Tod nicht wünschenswert oder hinzunehmen seien. Damit entstünde für jeden Menschen die Notwendigkeit, eine Entscheidung zumindest über die Frage der Verfügbarkeit des eigenen Todeszeitpunktes zu treffen.
Vorstellungen der Machbarkeit und Handhabbarkeit würden sich dann auch auf Art und Zeitpunkt des Todes erstrecken. Lebens- und Alternsprozesse könnten kaum mehr gedacht werden, ohne die Option einer aktiven Beendigung des Lebens zu prüfen. Darüber hinaus könnte auch das (mitmenschliche, professionelle oder finanzielle) Engagement im Umgang mit Sterbenden abnehmen, wenn diese Lebensphase selbst rechtfertigungsbedürftig wird, da die Gruppe der „natürlich Sterbenden“ aus Personen besteht, die willentlich auf den Suizid verzichtet haben.
Sozialethische Bewertungen sollten so gut wie möglich auf empirische Daten Bezug nehmen. Die oben genannten gesellschaftlichen Entwicklungen stellen zunächst hypothetische Spekulationen dar. Daher sollte eine kontinuierliche Begleitforschung stattfinden, die die Auswirkungen der Praxis von Suizidhilfe sozialwissenschaftlich analysiert. Hierzu gehört auch ein internationaler Vergleich. Die durch diese empirischen Daten und Befunde belegten Entwicklungen sollten kontinuierlich einer ethischen Bewertung unterzogen werden.
Entscheidungsfindung: Gewichtung der Argumente
Die ethischen Argumente der unterschiedlichen Reflexionsebenen (individuell, institutionell, sozialethisch) müssen in jedem Einzelfall gegeneinander abgewogen werden und in die Bewertung der Bitte um Suizidhilfe eingehen. Die suizidwillige Person wiederum muss dann, auf die Bewertung durch den Angefragten reagieren, z. B. durch einsamen Suizid oder durch Weiterleben, wenn die erbetene Suizidhilfe abgelehnt wird. Dies sind Konsequenzen der Ablehnung, die möglicherweise Schuldgefühle oder Trauer auslösen. Dadurch wird aber die getroffene Bewertung zum Zeitpunkt der Entscheidungnicht unzutreffend oder moralisch verwerflich.
Zusammenfassend werden noch einmal ethische Argumente für und gegen eine erbetene Suizidhilfe dargestellt, die aus der subjektiven Perspektive der um Suizidhilfe gebetenen Person entscheidungsleitend sein können:
Gründe für eine Suizidhilfe können z. B. sein:
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Respekt vor der Selbstbestimmung: Der Respekt vor der Selbstbestimmung ist ein zentrales Prinzip in der Medizinethik. Es kann als so weitreichend interpretiert werden, dass jeder Mensch grundsätzlich das Recht hat, frei über sein Lebensende zu entscheiden. Dies gilt auch dann, wenn er um Suizidhilfe bittet.
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Mitleid und Barmherzigkeit: Das schwere Leiden eines Menschen erscheint nachvollziehbar nicht erträglich, so dass die Suizidhilfe als Leidensvermeidung begriffen wird. Das Leiden des Anderen kann dann sogar zur Hilfe und Begleitung beim Suizid auffordern.
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Menschenwürde: Wenn Krankheit und Siechtum als nicht mit der Menschenwürde vereinbar wahrgenommen werden, kann der begleitete Suizid eine als menschenwürdig empfundene Alternative darstellen.
Gründe gegen eine Suizidhilfe können z. B. sein:
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Menschenwürde: Das Leben eines Menschen stellt einen absoluten Wert dar. Dies kann im Sinne einer Heiligkeit des Lebens oder als ein Hinweis auf die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens gedeutet werden. Wer z. B. menschliches Leben als von Gott geschaffen versteht, kann der Überzeugung sein, dass der Mensch deshalb nicht das Recht habe, sein Leben zu beenden.
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Fürsorgepflichten: Fürsorgepflichten spielen in Familien und in Einrichtungen des Gesundheitswesens eine wichtige Rolle. Wurde wirklich schon alles getan, um beispielsweise einem Kranken ein Leben und Sterben in Würde zu ermöglichen? Resultiert der Suizidwunsch aus einer mangelnden Kenntnis von Versorgungsangeboten, palliativmedizinischen Optionen oder anderen (z. B. psychologischen, spirituellen) Begleitungsmöglichkeiten? Darüber hinaus können auch moralische Fürsorgepflichten gegenüber Angehörigen gegen eine Suizidhilfe sprechen.
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Sozialethische Verantwortung: Jede individuelle Entscheidung ist von der sozialen Wirklichkeit geprägt, in der wir leben, und wirkt zugleich auf diese soziale Wirklichkeit zurück. Deshalb besteht die Sorge, dass sich durch das Angebot von Suizidhilfe soziale Rollen und Beziehungen negativ veränderten und das Weiterleben alter, kranker oder behinderter Menschen rechtfertigungsbedürftig würde.
Diese Empfehlungen gehen von der Annahme aus, dass ein Wunsch nach Suizidhilfe und die Erfüllung dieses Wunsches nicht in jedem Fall juristisch verboten oder moralisch verwerflich sind. Wenn die Praxis der Suizidhilfe in Deutschland nicht in Händen weniger Personen oder Organisationen liegen soll, ist daher eine Gewissensentscheidung von vielen einzelnen Menschen im Umgang mit Suizidwünschen erforderlich. Die im Rahmen der Empfehlungen dargelegten Fragen, Kriterien und Anregungen sollen einen Beitrag leisten, diese Gewissensentscheidungen so gut begründet wie möglich treffen zu können.