Zusammenfassung
Forschung an und mit Menschen muss sich legitimieren, d. h. sie muss ihre wissenschaftliche Qualität, Rechtmäßigkeit und ethische Vertretbarkeit aufzeigen. Zu den Rechtfertigungsbedingungen zählt ein „günstiges“ Verhältnis von Nutzen- und Schadenpotenzialen des Forschungsvorhabens. Unabhängige Ethikkommissionen sind den Forschenden zur Seite gestellt, um sie bei der Prüfung und Sicherstellung der genannten Erfordernisse zu unterstützen. Eine zum Gebrauch durch Ethikkommissionen und Forschende entwickelte Nutzen- und Schadentaxonomie sowie ein Schema zur Systematisierung von Chancen-Risiken-Bewertungen wurde nachträglich auf alle Ethikanträge des Jahres 2006 an die Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Universität zu Lübeck angewandt. Unter den 206 analysierten Studienvorhaben lassen 46 % die Chance eines direkten Eigennutzens für die Studienteilnehmer erkennen. Als gruppennützig wurden 12 % der Studienprojekte eingestuft. Sie lassen unmittelbar nach Studienabschluss oder nach wenigen weiteren Studien ein Nutzenpotenzial für Personen mit den gleichen demographischen und klinischen Merkmalen wie die Studienteilnehmer erwarten. 42 % der Ethikanträge bezogen sich auf fremdnützige Studienvorhaben mit Nutzenchancen für die Heilkunde und/oder medizinische Wissenschaft. Das Risiko eines mehr als geringfügigen Eigenschadens wurde bei 53 % der Studien identifiziert. Die Analyse der jeweiligen Nutzenchancen und Schadenrisiken führte bei insgesamt 33 der 206 Studien (16 %) zu einem negativen Ergebnis: Im Urteil der nachträglich durchgeführten Bewertung übertreffen die Nutzenchancen nicht die Schadenrisiken. Studien mit einem mehr als geringfügigen Eigenschadenpotenzial sowie nicht-eigennützige Studien weisen besonders häufig eine negative Gesamtbilanz auf. Eine Prozeduralisierung der Analyse von Chancen und Risiken kann die Transparenz vorgenommener Analyse- und Vergleichsprozesse steigern. Die Kommunikation zwischen Forschenden und Ethikkommissionen sowie unter Ethikkommissionsmitgliedern bei strittigen Studienvorhaben wird erleichtert, die Standardisierung und Harmonisierung der Beratungsabläufe der Ethikkommissionen unterstützt.
Abstract
Background: Clinical research involving human subjects must be ethically legitimatised by being scientifically valid, satisfying legal norms, and adhering to basic ethical requirements such as informed consent and appropriate risk-benefit ratios. Autonomous institutional review boards (IRB) support researchers in meeting these demands. Methods: We propose and test a systematic approach to the ethical analysis of risks and potential benefits in clinical research involving human subjects. The scheme was applied on all study protocols from the year 2006 presented to the IRB of our medical faculty. Results: 46 % of the 206 analyzed protocols promise some potential direct benefit to study participants. 12 % of the planned research projects offer the chance of benefit for future patients with the same demographic and clinical characteristics as the study participants (“group-benefit”). The reminder of the protocols (42 %) reveal potential benefit only for medicine and science through gaining knowledge of clinical, social, or scientific value. More than minimal risks for research participants were identified in about 53 % of the studies. Our ethical analysis and evaluation resulted in 33 out of 206 protocols (16 %) with an unfavourable and hardly justifiable risk-benefit ratio. Conclusion: The developed taxonomy together with our conceptual framework for comparing and balancing potential research benefit and harm can increase the transparency and facilitate the communication between researchers and IRB members. Clear guidance for the IRBs supports the standardisation and harmonisation of ethical review, advice, and approval procedures.
Notes
Wir sprechen von Nutzenchancen und Schadenrisiken, um zu verdeutlichen, dass es sich um die Analyse und Abschätzung probabilistischer Größen handelt.
Eine Übersetzung der in internationalen Schriften gebräuchlichen Wendungen „risk/benefit assessment“ und „risk/benefit analysis“ mit dem Begriff der „Abwägung“ von Chancen und Risiken wird im folgenden Text vermieden, um keine Kommensurabilität der extrem heterogenen Nutzen- und Schadenspotentiale zu suggerieren.
Den Kommissionsmitgliedern wurde das eigene Studienvorhaben im Rahmen einer Sitzung (19.07.2007) vorgestellt und die Einwilligung zur Durchführung eingeholt.
Erfolgt die Zuweisung zu Interventions- und Kontrollgruppe in randomisierter Weise, lässt sich vertreten, dass vor Randomisierung eine Nutzenchance für alle Studienteilnehmer besteht.
Die Risikostufe 1 umfasst potenziellen Eigenschaden, der nach AMG § 41 Abs. 2, Ziff. 2 d [6] als minimales Risiko bzw. minimale Belastung bezeichnet wird.
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Danksagung
Die Studie wurde als Teilprojekt im Rahmen des Verbundprojektes „Nutzen und Schaden aus klinischer Forschung: ethische, rechtliche und empirische Untersuchungen“ (ELSA-Projekt) vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziell unterstützt (Förderkennzeichen 01GP0616).
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Beide Autoren sind seit Jahren in der Forschungsethikkommission der Medizinischen Fakultät der Universität Lübeck tätig.
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Hüppe, A., Raspe, H. Mehr Nutzen als Schaden?. Ethik Med 23, 107–121 (2011). https://doi.org/10.1007/s00481-010-0084-x
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