Vom 9.–10. Oktober 2008 fand in Göttingen die internationale Tagung „The Rights of Children in Medicine“ statt, an der sich Wissenschaftler aus Deutschland, Finnland, Großbritannien, Israel und Italien beteiligten. Die Veranstaltung wurde von der Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin der Universitätsmedizin Göttingen und der Arbeitsgruppe „Intersexualität und Ethik“ des Netzwerks DSD organisiert und veranstaltet. Aus Sicht der Medizin, Philosophie, Public Health, Bioethik und des Medizinrechts wurden spezifische Problemfelder und deren ethische und rechtliche Implikationen für die Berücksichtigung der Interessen und des Wohlergehens von Kindern in medizinischen Entscheidungssituationen diskutiert.

Marie Fox und Michael Thomson (Keele/Großbritannien) thematisierten ethische und rechtliche Aspekte der Beschneidung männlicher Neugeborener aus religiösen Gründen. Sie gingen in ihrem Beitrag der Frage nach, ob und inwieweit in Großbritannien das Recht auf körperliche Unversehrtheit eines Kindes dem Eingriff einer nicht-therapeutischen Beschneidung entgegensteht. Die von ihnen vorgestellte Studie zeigt, dass die rechtlichen Regelungen in UK nicht ausreichend sind, um den best interest standard bei medizinischen Eingriffen bei Kindern zu gewährleisten. Sie sprachen sich demgegenüber für eine Praxis medizinischer Entscheidungen aus, in der neben dem best interest-Prinzip vor allem die Bedürfnisse und das Wohlergehen des Kindes im Vordergrund stehen. Bei ärztlichen und elterlichen Entscheidungen solle das ethische Prinzip des Nicht-Schadens handlungsleitend sein und damit ein Kind, das noch nicht einwilligungsfähig ist, vor nicht-therapeutischen Eingriffen, die möglicherweise die körperliche Integrität verletzten, bewahren.

Sabine Müller (Aachen/Deutschland) diskutierte in ihrem Beitrag die Frage, ob Eltern das Recht haben, gehörlosen Kindern die therapeutische Intervention eines Hörimplantats vorzuenthalten. Die gesellschaftliche Kontroverse darüber, ob „Gehörlosigkeit“ eine Behinderung ist oder vielmehr die Zugehörigkeit zu einer Deaf Culture ermöglicht, spiegele sich auch in medizinischen Entscheidungsprozessen wieder. Es sei umstritten, ob Eltern das Recht haben sollten, Kindern die Hörfähigkeit vorzuenthalten. Der Verzicht auf die Implantation eines Hörimplantats könne durch eine entsprechende Behandlung im Erwachsenenalter nicht mehr vollständig ausgeglichen werden, so dass der Eingriff aus medizinischen Gründen in einem möglichst frühen Alter erfolgen müsse. Müller wies darauf hin, dass in Deutschland für diese Fälle keine rechtliche Regelung existiert und dass Eltern stellvertretend für ihre Kinder diese medizinische Behandlung ablehnen können. Ob diese Vorgehensweise ethisch vertretbar sei, stellte sie infrage und argumentierte für ein Recht auf die Fähigkeit, hören zu können, als oberstes Entscheidungsprinzip.

Imme Petersen (Hamburg/Deutschland) stellte eine Studie vor, in der untersucht wurde, welche ethischen Kriterien für die Forschung mit menschlichem Gewebe von Bedeutung sind. Der Fokus der Studie richtete sich auf den Bereich klinischer Studien in der Onkologie, in denen Zellen und Gewebe von minderjährigen Patienten zu Forschungszwecken verwendet werden. Thematisiert wurden die Erwartungen und Bedürfnisse von Eltern, die stellvertretend für ihre minderjährigen Kinder der Teilnahme an klinischen Studien zustimmen, und die Möglichkeit der eigenen Einwilligung von Kindern in ihre Teilnahme an einer Studie.

Pekka Louhiala (Helsinki/Finnland) stellte in seinem Beitrag die Frage, ob und unter welchen Umständen die Therapie mit Hormonen bei Mädchen, bei denen ein überdurchschnittliches Körperwachstum prognostiziert wird, ethisch und medizinisch gerechtfertigt sei. Für eine Induzierung der Pubertät bei Kindern, deren Wachstum von der Norm abweicht, würden hauptsächlich Argumente angegeben, die auf potenzielle negative Konsequenzen einer „unnormalen“ Körpergröße abzielten – wie beispielsweise gesellschaftliche Diskriminierung und Ausgrenzung zu erfahren. Demgegenüber betonte Louhiala, es sei durch Studien nicht erwiesen, dass Wachstumsstörungen grundsätzlich zu psychosozialen Probleme führten. Vielmehr könne man nicht allein von der Körpergröße eines Kindes auf dessen Wohlergehen schließen, sondern müsse immer auch die individuelle und familiäre Situation mit berücksichtigen. Oft würden bei Entscheidungen für oder gegen eine Therapie vor allem die Normvorstellungen und Erwartungen des sozialen Umfeldes und nicht die Bedürfnisse des betroffenen Kindes berücksichtigt. Generell sprach sich Louhiala dafür aus, dass ein Kind in Behandlungsentscheidungen mit einbezogen werden solle und dass dessen Entscheidung gegen eine Behandlung unbedingt respektiert werden müsse.

Den Schwerpunkt des zweiten Tages stellte die kritische Betrachtung der Behandlung von Kindern mit angeborenen Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung (Intersexualität/Differences of Sex Development) dar. Dabei wurde vor allem auf die schwierige Entscheidungssituation hinsichtlich möglicher geschlechtskorrigierender Maßnahmen eingegangen, mit der Eltern und Ärzte konfrontiert sind, wenn ein Kind mit DSD geboren wird. Die zentrale Frage, die in den verschiedenen Beiträgen sowie in der Abschlussdiskussion hierzu immer wieder angesprochen wurde, war jene nach der Partizipation von Kindern bei anstehenden Entscheidungen. Dem Bestreben, möglichst zeitig chirurgisch und hormonell eine Geschlechtsfestlegung vorzunehmen, um die Entwicklung einer frühzeitigen Geschlechtsidentität des Kindes zu ermöglichen und kosmetisch die besten Ergebnisse zu erzielen, steht das Recht des Kindes entgegen, seine Geschlechtsidentität aus dem eigenen Gefühl heraus bestimmen bzw. entwickeln zu können. Dieses Dilemma in einer Intersex-Situation wurde von Petra Zackheim (Haifa/Israel) in einem Fallbeispiel aufgegriffen und diskutiert.

Andrea Virdis (Rom/Italien) gab in diesem Zusammenhang einen Überblick über biologische und kulturelle Faktoren, die bei der Entwicklung der Geschlechtsidentität von Bedeutung sind. Er wies darauf hin, dass die best interests eines Kindes in verschiedenen Kontexten durchaus anders bewertet würden – oftmals ausschließlich nach Maßgabe gesellschaftlicher Erwartungen und Normvorstellungen. Wie Louhiala sprach auch er sich für eine stärkere Einbeziehung der jungen Patienten in medizinische Entscheidungsprozesse aus und für die Anwendung des Prinzips des informed consent in Entscheidungssituationen. Dabei wurden die medizinrechtlichen Aspekte insbesondere von Maya Peled-Raz (Haifa/Israel) in die Diskussion mit eingebracht.

Claudia Wiesemann (Göttingen) stellte die in der Zeitschrift für Kinderheilkunde veröffentlichten Empfehlungen der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Intersexualität und Ethik“ vor. Die nach zweijähriger Arbeit verabschiedeten Empfehlungen berufen sich im Umgang mit Kindern mit Störungen der Geschlechtsentwicklung auf die drei folgenden ethischen Prinzipien: 1. Die Berücksichtigung des Wohls des Kindes und zukünftigen Erwachsenen. 2. Das Recht auf Selbstbestimmung bzw. auf Partizipation von Menschen mit DSD. 3. Die Achtung der Familie und der Eltern-Kind-Beziehung. Wiesemann hob hervor, dass Aspekte dieser Empfehlungen auch auf andere Entscheidungssituationen bei der Behandlung von Kindern Anwendung finden sollten.

In der abschließenden Diskussion über DSD wurde deutlich, dass in verschiedenen Ländern eine Auseinandersetzung innerhalb der Medizin und Medizinethik darüber begonnen hat, welche Kriterien die Interessen und das Wohlergehen von Kindern (und Erwachsenen) bei Behandlungsentscheidungen wahren können. Die Beiträge aus den verschiedenen Ländern zu DSD und zu der Bewertung anderer therapeutischer und nicht-therapeutischer Eingriffe an Kindern zeigten die Notwendigkeit auf, für die Praxis Empfehlungen und Richtlinien zu entwickeln. Weiterhin wurde deutlich, dass Kinder, zur Berücksichtigung ihrer Interessen und ihres Wohlergehens in medizinischen Entscheidungen, das Recht haben sollen, über medizinische Eingriffe, die ihre körperliche und psychosoziale Identität betreffen, mitzubestimmen.