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Eigenverantwortung als Verteilungskriterium im Gesundheitswesen

Theoretische Grundlagen und praktische Umsetzung

Personal responsibility as a criterion for allocation in health care

Theoretical considerations and practical consequences

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Ethik in der Medizin Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Die demografische Entwicklung und der medizinische Fortschritt werden die Problematik der Ressourcenknappheit im deutschen Gesundheitswesen in Zukunft weiter verschärfen. Soll nicht nur kurzfristig akuten Sparzwängen ausgewichen werden, steht – wie in verschiedenen Ländern bereits geschehen – auch Deutschland auf Dauer eine Prioritätensetzung im Gesundheitswesen bevor. Diese sollte in möglichst transparenter Weise nach klaren Kriterien erfolgen. Eines der seit einiger Zeit häufig öffentlich zitierten Kriterien der Verteilung von Mitteln in der Gesundheitsversorgung ist die Eigenverantwortung von Patienten. Deren Berücksichtigung in der Allokation von Ressourcen birgt allerdings zahlreiche Probleme. Der vorliegende Beitrag untersucht die gerechtigkeitstheoretischen Grundlagen und die praktischen Probleme bzw. die möglichen Konsequenzen von Eigenverantwortung als Verteilungskriterium im Gesundheitswesen. Auf der Grundlage eines alternativen gerechtigkeitstheoretischen Vorschlags werden drei Möglichkeiten skizziert, Eigenverantwortung von Patienten im deutschen Gesundheitswesen in gerechter Weise stärker zu betonen.

Abstract

Definition of the problem: Personal responsibility of patients for their own health is often cited as a means of allocating health care resources. It is, however, unclear whether applying responsibility as a distributive criterion is just. Several difficulties are associated with the concept of personal responsibility in the medical field. These include in particular theoretical considerations of justice and practical consequences of using personal responsibility as a criterion for distribution. This article investigates these problems and tries to determine conditions of a fair use of self-responsibility as a criterion for allocation of resources in health care.

Arguments – Theoretical considerations: Several theories of a just allocation of resources employ personal responsibility, either as a criterion or as a consequence of allocation. For luck egalitarians, personal responsibility based on free choice is the sole foundation to determine whether persons are entitled to compensation in cases of inequality. In a society structured according to libertarian tenets, personal responsibility is of great importance to large parts of the population. Communitarians value the common good higher than the individual good and regard responsible behaviour to be the individuals’ obligation towards their society. In this article the arguments put forward by proponents of the three standpoints are explored and it is concluded that none of these serves as an adequate starting point for a reform of health care allocation in Germany.

Arguments – Practical consequences: Problems associated with the use of personal responsibility as a criterion for allocation in health care include causality and freedom of personal health behaviour in medicine, information and health literacy of patients, as well as possible impacts on institutional medicine and the patient-doctor relationship. These problems are examined and the conclusion is drawn that personal responsibility for health should only be used as a criterion for the distribution of resources on the macro-level of allocation in health care.

Conclusion: Solidarity, understood as a dual principle of justice, can serve as a justification for employing personal responsibility as a criterion for allocation on the macro-level of health care. In the conclusion of the article, the notion of solidarity is analysed and three possible modes of implementing personal responsibility as a criterion for allocation in a reform of German health care are sketched.

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Notes

  1. Vergleiche z. B. [6, 17, 26, 36]; für grundlegende Überlegungen [34].

  2. „Die Versicherten sind für ihre Gesundheit mitverantwortlich; sie sollen durch eine gesundheitsbewußte Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen sowie durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung und Rehabilitation dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden. Die Krankenkassen haben den Versicherten dabei durch Aufklärung, Beratung und Leistungen zu helfen und auf gesunde Lebensverhältnisse hinzuwirken“ (SGB V, § 1; Hervh. d. Verf.).

  3. Keiner der Autoren, die dem Glücksegalitarismus zugerechnet werden können, entwickelt Verteilungsvorschläge spezifisch für das Gesundheitswesen. Die Theorie des Glücksegalitarismus soll aber auf alle Bereiche des öffentlichen Lebens anwendbar sein und damit auch auf die Gesundheitsversorgung. Beispiele aus dem medizinischen Bereich tauchen regelmäßig in den Schriften auf.

  4. Die Begriffe Brute luck und Option luck sind von Ronald Dworkin geprägt worden [15], den manche als den „Begründer“ des Glücksegalitarismus bezeichnen.

  5. Vergleiche zu diesem Punkt auch die Ausführungen zu „Freiheit“ im zweiten Teil dieses Beitrages.

  6. Dies läuft auf die Einführung eines Alterskriteriums in die Mittelverteilung hinaus.

  7. Auf der Mikroebene der Verteilung erfolgt im medizinischen Bereich die Zuteilung von Ressourcen an einzelne Patienten. Während auf der unteren Makroebene (gelegentlich auch Mesoebene genannt) die Verteilung zwischen verschiedenen Patienten- oder Krankheitsgruppen bzw. medizinischen Fachbereichen vorgenommen wird, findet auf der oberen Makroebene die Ressourcenallokation an unterschiedliche Bereiche des öffentlichen Lebens (Gesundheit, Bildung, Kultur etc.) eines Gemeinwesens statt (angelehnt an [16]).

  8. Für die Feststellung, welche Erkrankungen zu der Gruppe der (am ehesten) verhaltensbedingten Krankheiten gehören, ist eine intensive epidemiologische Analyse vorhandener Literatur (vgl. etwa die Analysen des National Institute for Clinical Excellence, NICE, in Großbritannien) und Erhebung neuer Daten erforderlich, ebenso wie ein Konsens über den jeweils zu tolerierenden „Unsicherheitsfaktor“. Auch bei guter statistischer Datenlage lässt sich natürlich nicht ausschließen, dass es – je nach Erkrankung – einige wenige Patienten geben kann, die eine als verhaltensverursacht klassifizierte Erkrankung haben, ohne das jeweilige Verhalten gezeigt zu haben. Diese Ausnahmefälle werden allerdings mit zunehmendem Wissen über Krankheitsursachen immer seltener werden. Ferner wären in diesen Fällen Ausnahmeregelungen denkbar.

  9. Es erscheint wenig zielführend, die umfassenden Debatten um Determinismus/Indeterminismus oder Kompatibilismus/Inkompatibilismus an dieser Stelle aufzuarbeiten. Für einen Einblick in die auf den Gesundheitsbereich bezogene Debatte vgl. z. B. [8] und als Übersicht [37].

  10. Siehe die Vorschläge im letzten Abschnitt.

  11. Dies gibt es beispielsweise in den USA.

  12. Siehe z. B. [38], S. 126.

  13. Vergleiche verschiedene Beispiele in [12].

  14. Es erscheint wichtig zu unterstreichen, dass „Kernbereich“ nicht gleichbedeutend mit „Minimalversorgung“ ist – s. die drei folgenden Vorschläge zur möglichen Veränderung im Gesundheitswesen.

  15. Tatsächlich stellt Solidarität laut des Sozialgesetzbuches V ein grundlegendes Prinzip in der deutschen Gesundheitsversorgung dar (s.z.B. SGB V § 1 und § 3); allerdings wird eine genauere inhaltliche Beschreibung dort nicht geliefert.

  16. Einen solchen Begriff von Solidarität hat beispielsweise Sass vor Augen, wenn er Eigenverantwortung der Solidarität als ergänzendes bzw. verbesserndes Prinzip gegenüberstellt ([32]).

  17. Moralische Bekannte oder Nachbarn können in grundlegenden Wertfragen vollkommen unterschiedlicher Meinung sein, aber dennoch einzelne Interessen teilen, die sie zu einer Einigung hinsichtlich einzelner Bereiche des öffentlichen Lebens und deren Ausgestaltung befähigen, ohne sich in vielen anderen Wertentscheidungen einander annähern zu müssen.

  18. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten einer Bürgerbeteiligung an Entscheidungen im Gemeinwesen (vgl. z. B. [2, 14, 18, 20]). Denkbar wäre z. B. die Mitbeteiligung von „citizens councils“ nach britischem Muster. Deren Vorschläge werden vom NICE in Großbritannien bei Entscheidungsprozessen für die Prioritätensetzung im Gesundheitswesen mitberücksichtigt.

  19. Die konkrete Umsetzung eines der drei hier skizzierten Vorschläge zur Eigenverantwortung als Verteilungskriterium in der Gesundheitsversorgung unter den geschilderten Voraussetzungen stellt angesichts der enormen Komplexität des deutschen Gesundheitswesen und der zahlreichen Interessengruppen, die in diesem agieren, eine äußerst anspruchsvolle gesellschaftspolitische Aufgabe dar. Die Ausführungen des vorliegenden Beitrages können an dieser Stelle nur programmatisch sein.

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Die vorliegende Arbeit erhielt den Nachwuchspreis der Akademie für Ethik in der Medizin 2005. Eine veränderte Version dieses Textes erscheint in Rauprich O, Marckmann G, Vollmann J (Hrsg) (2005) Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin. Mentis Verlag, Paderborn.

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Buyx, A. Eigenverantwortung als Verteilungskriterium im Gesundheitswesen. Ethik Med 17, 269–283 (2005). https://doi.org/10.1007/s00481-005-0398-2

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