Zusammenfassung
Immer häufiger geht es in Beratung und Therapie um die Stützung des verunsicherten Selbst, die Klärung drängender Identitätsprobleme. Und oftmals stoßen wir hinter Gefühlen von Selbstzweifeln, Überforderung, Orientierungslosigkeit und Nichtzugehörigkeit auf offene oder verdeckte Schamthemen. Gleichzeitig erleben wir im mitunter Grellen und Distanzlosen der öffentlichen Inszenierungen, im zunehmend Harten und Unversöhnlichen gesellschaftlicher und politischer Kontroversen eine Art „befreiter Schamlosigkeit“, die Achtung, Toleranz und demokratische Umgangsformen zu gefährden droht. Dieser Artikel beleuchtet die Doppelrolle der Scham als Hüterin und als potenzielle Zerstörerin menschlichen Identitätsgefühls und diskutiert die Vielfalt von Schamempfindungen und Schamanlässen in ihrer Auswirkung auf individuelle und gesellschaftliche Konflikte.
Abstract
Counselling and therapy are increasingly about supporting the insecure self and clarifying pressing identity problems. Behind feelings of self-doubt, excessive demands, disorientation and not belonging, we often come across open or hidden issues of shame. At the same time, in the sometimes flashy and distant nature of public productions, in the increasingly harsh and irreconcilable social and political controversies, we experience a kind of “liberated shamelessness” that threatens to endanger respect, tolerance and democratic manners. This article sheds light on the dual role of shame as a guardian and as a potential destroyer of human sense of identity and discusses the diversity of feelings of shame and reasons for shame in their impact on individual and social conflicts.
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Conzen, P. Identitätsprobleme und verletzte Schamgefühle. Forum Psychoanal (2024). https://doi.org/10.1007/s00451-024-00546-y
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