Zusammenfassung
Anhand einer Falldarstellung aus der dritten Generation Ost, zu denen die Geburtsjahrgänge 1975–1985 in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zählen, wird gezeigt, warum die rechtsradikalen Ideale der NS-Zeit nach dem Fall der Mauer in dieser Generation wieder auftauchten. Das hatte schwere Folgen für die ostdeutsche Nachwende-Gesellschaft. Eine Abwehr von Schuld und Verantwortung bei den NS-Tätern hatte nach der narzisstischen Kränkung durch den verlorenen Krieg und nach dem Verlust ihres idealisierten Objekts Adolf Hitler nicht zum erwarteten psychischen Zusammenbruch im Volk der Täter geführt, sondern zu einer Kryptisierung, die ein individuelles Leugnen und Vergessen ermöglicht hat. Dies wurde in der ehemaligen DDR durch den antifaschistischen Gründungsmythos begünstigt und hat vielen NS-Tätern und Mitläufern eine Eingliederung auch in die sozialistische Gesellschaft ermöglicht.
Durch den erneuten tiefgreifenden Umbruch der 1990er-Jahre wurden viele Wendekinder haltlos und von ihren Eltern alleingelassen. Sie waren der besonderen Gefahr ausgesetzt, sich rechtsradikalen Gruppen, die damals viele ostdeutsche Kleinstädte beherrschten, anzuschließen. Wie sie damit unbewusst das kryptisierte Erbe ihrer Großelterngeneration weiterführen, wird mittels der Fallvignette veranschaulicht.
Abstract
Using the case study of the third generation East, which includes the birth cohorts 1975–1985 in the German Democratic Republic (GDR), it is shown why the radical right-wing ideals of the Nazi era resurfaced in this generation after the fall of the Wall. This had serious consequences for the East German post-reunification society. A defense against guilt and responsibility among the Nazi perpetrators, after the narcissistic mortification caused by the lost war and the loss of their idealized object Adolf Hitler, had not led to the expected psychological breakdown among the people of the perpetrators, but to a cryptization that made individual denial and forgetting possible. In the former GDR this was facilitated by the anti-fascist founding myth and enabled many Nazi perpetrators and supporters to integrate into the socialist society.
Due to the renewed profound upheaval of the 1990s, many children of the turnaround were left helpless and alone by their parents. They were exposed to the particular danger of joining right-wing extremist groups, which dominated many small East German towns at the time. The case vignette illustrates how they thus unconsciously continued the cryptized legacy of their grandparents’ generation.
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M. Johne gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Nach einem Vortrag auf der 10. Deutschsprachigen Internationalen Psychoanalytischen Tagung (DIPsaT) in Leipzig im Oktober 2022
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Johne, M. Das unbewusste Bewusste. Forum Psychoanal 39, 135–148 (2023). https://doi.org/10.1007/s00451-023-00507-x
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