Zusammenfassung
Eine hilfreiche Beziehung von medizinischen und therapeutischen Betreuungspersonen zu Patient:innen, die an lebendbedrohlichen Krankheiten leiden, ist durch Empathie, beidseitige Offenheit und auch die Bereitschaft, über den Tod zu sprechen, gekennzeichnet. Doch, über den Tod zu sprechen, bereitet oft beiden Seiten große Schwierigkeiten, obwohl dies für die Bewältigung der mit der Krankheit gegebenen Nähe zum Tod sehr hilfreich sein könnte. Auf einige Gründe dafür wird anhand von entwicklungspsychologischen Überlegungen, Gedanken zur speziellen Beziehungsdynamik in Gesprächen, in denen es um die Themen Sterblichkeit, Vergänglichkeit und Tod geht, und anhand von Fallbeispielen eingegangen. Es wird auch auf das Potenzial an Lebendigkeit hingewiesen, das verfügbar wird, wenn es gelingt, diese Themen nicht zu vermeiden, sondern sich dafür zu öffnen.
Abstract
A helpful relationship of medical and therapeutic caregivers to patients who suffer from life-threatening illnesses is characterized by empathy, mutual openness and also the willingness to talk about death; however, talking about death often causes great difficulties for both sides, although this can be very helpful for overcoming the proximity of death associated with the illness. Some of the reasons for this are discussed based on considerations in developmental psychology, thoughts on special relationship dynamics in conversations which are concerned with the topics of mortality, transience and death and based on case examples. The potential for vitality, which becomes available when one succeeds in not avoiding this topic but becoming open to it, is also pointed out.
Keine Zeit für den Tod
Sich auf die Themen Tod und Sterben einzulassen, erfordert Zeit und Raum, welche gerade im Arbeits- und im Fortbildungsalltag in der Medizin ein überaus knappes Gut darstellen. Darüber hinaus fehlt auch ein etablierter Rahmen, eine Form dafür, sich mit diesen Themen kontemplativ und in einem tragfähigen kollegialen Rahmen auseinandersetzen zu können. Wenn im überwältigenden Andrang all dessen, was zu tun ist, das Nachdenken doch einmal Raum findet, wenden sich die Gedanken eher den Fragen zu: Habe ich alles richtig gemacht? Habe ich nichts vergessen? Ist mir kein Fehler unterlaufen? So füllt dann die Angst, einen medizinisch-technischen Fehler zu machen, das Denken aus und nicht die Beschäftigung mit dem Tod.
So wird die Notwendigkeit der Vermeidung von Fehlern mit möglicherweise tödlichen Folgen zur Vermeidung der Auseinandersetzung mit dem Tod. Dies führt dazu, dass lieber zu viel als zu wenig behandelt wird, ungeachtet der Lebensqualität, die dies den Patient:innen ermöglicht, und verstärkt die Befangenheit und Abneigung gegenüber dem Anliegen, der emotionalen Bedeutung des Themas Tod in der Beziehung mit den Patient:innen und ihren Angehörigen überhaupt Raum zu geben.
Zwei Strategien des Umgangs mit dem Tod
Vergänglichkeit, Krankheit, Tod sind Grundtatsachen unseres Lebens, mit denen uns zunächst einmal das Leben selbst konfrontiert. Ist das Kind zuerst einmal noch unbefangen und wendet sich den Phänomenen der Vergänglichkeit und des Todes mit forscherischer Offenheit und Neugier zu, so verändert sich dies einerseits mit dem Älterwerden des Kindes, andererseits aber auch mit den Reaktionen der Erwachsenen auf diese Begegnungen mit Vergänglichkeit und Tod.
Die Haltung, die das Kind aus sich selbst heraus gegenüber dem Tod entwickelt, lässt sich als Mischung aus Verleugnung und Omnipotenz charakterisieren. Beides gerät mit der kognitiven Reifung zunehmend unter Druck und muss dann spätestens mit Eintritt in die Adoleszenz mit realistischeren Betrachtungsweisen in Übereinstimmung gebracht werden. Typische kindliche Ansichten, die bei Jugendlichen oder Erwachsenen als Verleugnung zu bezeichnen wären, sind etwa, dass der Tod reversibel sei, Tote nur schlafen, dass nur Erwachsene sterben, Kinder nicht, dass der Tod nicht mich selbst, nur andere treffen wird. Viele andere Vorstellungen sind Ausdruck einer omnipotenten Abwehr, in der entweder jemand anderer oder das Subjekt selbst als Retter erscheint: Entweder schützen eigene besondere Fähigkeiten, eigenes Gutsein, eigener Mut vor dem Tod, oder andere Wesen beschützen mich, die Eltern, Ärzt:innen, Wissenschaftler:innen, Politiker:innen, der Schutzengel oder Gott.
Auch viele Erwachsene behelfen sich mit solchen kindlichen Strategien, die dann als omnipotent-infantiler Modus der Abwehr der Angst vor Vergänglichkeit und Tod betrachtet werden können. Dieser ist gekennzeichnet durch den Glauben an Etwas, das magisch anmutende Qualitäten hat, und das Selbst retten und ihm die Beschäftigung mit dem Tod ersparen wird. Wenn ich die Omnipotenz mir selbst zuschreibe, kann ich sie in Konsum, Arbeit, die Erschaffung von technischen Mitteln der Unsterblichkeit wie Kryonik oder die Besiedelung des Mars investieren. Wenn ich sie anderen zuschreibe, kann ich in diese als Heiler:innen und Führer:innen investieren und glauben und hoffen, dass ich in der Externalisierung der Lösung des Problems auf Andere meine Ängste abwehren kann.
Der omnipotent-infantile Modus dient der Verleugnung der Realität des Todes; eine reife Haltung des Erwachsenenalters ermöglicht hingegen, die eigene Vergänglichkeit und Sterblichkeit anzuerkennen. Eigentlich bedarf es dazu nur der Hinwendung zur Vergänglichkeit und zum Tod, anstatt sich reflexhaft davon abzuwenden, wie wir es gewöhnlich tun. Gelingt es, sich mit der Thematik der Sterblichkeit zu beschäftigen, relativiert dies die Sicht auf die eigene Person und ihre Rolle und Bedeutung in der Welt. Der Mensch beginnt dann, sein eigenes Selbst nicht mehr als das Zentrum seiner Welt zu betrachten, sondern sieht sich als Teil einer umfassenderen Welt, in der Werden und Vergehen die Grundkonstanten sind.
Hilfreich dafür ist, sich etwas vorstellen zu können, das die Grenzen des eigenen Seins transzendiert und in dem etwas vom eigenen Selbst überdauern kann: Das Selbst, als Teil eines familiären Zusammenhangs gedacht, ermöglicht die Vorstellung vom Weiterleben in den eigenen Nachkommen. Das Selbst als Schöpfer von Ideen und Werken ermöglicht die Vorstellung vom Weiterleben in den eigenen Werken. Das Selbst, materialistisch als Ansammlung von Molekülen und Atomen gedacht, ermöglicht die Vorstellung, im allgemeinen Gesetz von Zerfall und Neuerschaffung aufgehoben zu sein. Eine solche relativierte und dezentrierte Sicht auf das eigene Selbst in der Welt relativiert dann schließlich auch die Bedeutung des eigenen Todes: Wenn ich nicht mehr so wichtig bin, ist auch mein Tod nicht so wichtig.
Diese meist nicht gesuchte, sondern in der Regel durch bestimmte Ereignisse, die eigene Reifung oder das eigene Älterwerden erzwungene Auseinandersetzung kann schließlich zu einer Aussöhnung mit der Zumutung des Todes insofern führen, als man ihr wertvolle Einsichten in die Natur des Daseins verdankt. Kann eine solche reifere Haltung gegenüber Vergänglichkeit und Tod wachsen, so geht dies mit einer Haltung von zunehmender innerer Ruhe und Klarheit einher, gleichermaßen gegenüber dem Tod wie gegenüber dem Leben. Und, weil die Energien nicht mehr im omnipotenten Abwehrkampf der Verleugnung gebunden sind, kann das Leben dann auch mit größerer Vitalität und Präsenz vollzogen und genossen werden (für eine ausführlichere Darlegung dieser Gedanken: Grieser 2018, 2019).
Wie sprechen wir über den Tod?
Für den Umgang mit den durch diese unabweisliche Tatsache des Lebens ausgelösten Gedanken und Ängste und ihre Bewältigung ist natürlich entscheidend, dass die unmittelbaren Bezugspersonen genügend gutes Holding, Containment und Mentalisierung zur Verfügung stellen. Dies gilt für Eltern gegenüber Kindern genauso wie für medizinisch-therapeutisches Personal gegenüber Patienten und deren Angehörigen. Die Bezugspersonen müssen zunächst einmal die Ängste aufnehmen und aushalten können und dann, soweit verfügbar, nachvollziehbare kognitive und hilfreiche emotionale Antworten auf diese letzten Fragen des Lebens zur Verfügung stellen.
Doch geben die Erwachsenen die Probleme, die sie selbst mit Vergänglichkeit und Tod haben, an die Kinder weiter. Weil viele Erwachsene selbst Angst vor dem Thema haben und dieses gewohnheitsmäßig meiden, gelingt es ihnen oft nicht, das zu tun, was hilfreich wäre: so unbefangen wie möglich das Gespräch über das Thema ermöglichen, das Kind oder das Gegenüber dabei emotional halten und selbst Denkmöglichkeiten in Bezug auf den Tod anzubieten. Dies könnte die Angst symbolisierbar und aushaltbar machen.
Doch haben die Erwachsenen selbst Angst und umgehen das Thema. Damit ihnen dies leichter fällt, nehmen sie zum Beispiel fälschlicherweise an, dass sich Kinder gar nicht mit dem Tod beschäftigen würden und deshalb am besten einfach abgelenkt und beruhigt werden wollen. Anstatt dass das Kind eine angemessene Resonanz auf seine Fragen erfährt, erlebt es beim Erwachsenen Unbehagen, Angst, misslingende Verarbeitung dieser Themen. Die Kinder identifizieren sich mit den emotionalen Reaktionen der Eltern, gleichen ihre Gefühlszustände an diejenigen ihrer Bezugspersonen an, auch wenn sie sie nicht verstehen können (dies schon im Säuglingsalter; Tomasello 2020 [2019]); spüren Kinder bei den Erwachsenen Angst und Ablehnung gegenüber bestimmten Dingen oder Themen, reagieren auch die Kinder mit Angst und Ablehnung gegenüber diesen Dingen oder Themen.
Dass aber auch in einer nicht durch Krankheit belasteten Kindheit die Eltern und andere Erwachsene oft vor den Fragen nach dem Tod ausweichen, bleibt nicht ohne Folgen. Die Kinder entwickeln eine Angst vor dem Tod nach dem Modell der Erwachsenen. Ihre nichtwahrgenommene und nichtbeantwortete Angst tritt später in Form von scheinbar unverständlicher „namenloser Angst“ (Bion 1995) und in verschiedenen Formen von Angststörungen zutage. Und, klinisch im Zusammenhang mit somatischen Krankheiten relevant, haben diese Menschen schon als Kind nicht die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnen würde, ihre Angst vor dem Tod mitzuteilen, und dass sich die Bezugsperson dafür interessieren würden und damit nicht überfordert wären.
So berichtet etwa die Kinderonkologin und Palliativmedizinerin Eva Bergsträsser (2022), dass todkranke Kinder weder ihre Ärztin noch ihre Eltern fragen, ob sie bald sterben werden, sondern dass sie diese Frage, wenn sie überhaupt auftaucht, eher an das Reinigungspersonal oder eine Lehrerin richten.
„Sie schützen die Eltern. Das heißt aber nicht, dass sie diese Frage nicht haben. Den Eltern sage ich häufig, dass die Bereitschaft von ihnen kommen muss, für diese Fragen offen zu sein. Viele Eltern sind dazu einfach nicht in der Lage. Auch weil sie häufig maßlos erschöpft sind durch die jahrelange Leidensgeschichte, während der das Kind sie immer mehr braucht und zunehmend fordert.“
Diese aufgrund von frühen Beziehungserfahrungen verankerte Haltung der Vermeidung ist so sehr zur zweiten Natur geworden, dass sie sowohl das Verhalten von erwachsenen und alten Patient:innen weiterhin prägen kann, als auch, dass sie eine offene Beschäftigung mit dem Thema Tod und damit auch die Entwicklung des eigenen Selbst hin zu einer gelasseneren und reiferen Haltung gegenüber der eigenen Vergänglichkeit und dem Tod verhindern kann. Die Entwicklungsaufgabe Tod, die uns das ganze Leben immer wieder begleitet und herausfordert, bleibt dann ausgespart, und anstelle von reifen Bewältigungs- oder Anpassungsmechanismen bleiben die omnipotenten Strategien der Kindheit mit den entsprechend archaischen, abzuwehrenden Ängsten vor Vernichtung dominant.
In der medizinischen oder der psychotherapeutischen Behandlungssituation sind dann die jeweiligen Bezugspersonen, Ärzt:innen, Therapeut:innen die relevanten Erwachsenen, die an die Stelle der früheren Bezugspersonen, in der Regel der Eltern, treten. Sie erben die Übertragung der Patient:innen auf die Eltern, haben aber auch die Chance, neue Erfahrungsmöglichkeiten zu schaffen, indem sie sich anders, offener für die Ängste der Patient:innen und das Thema Tod anbieten können. Dies kann sogar noch bis zuletzt, im Prozess des Sterbens möglich sein und den Patient:innen dann noch entscheidende letzte Entwicklungsschritte hin zur Abrundung ihres Lebens bieten und so das Loslassen am Ende erleichtern. Wiederholt sich jedoch die Erfahrung, dass die Bezugspersonen keine Zeit haben, nicht offen sein können, nicht resonant sind, nicht am Prozess der Trauerarbeit der Patient:innen empathisch teilhaben können, bleiben diese erneut sich selbst überlassen, ohne diese letzte Chance einer korrigierenden Erfahrung im Umgang mit ihren archaisch gebliebenen, auf Krankheit und Tod projizierten Ängsten.
Die Abwehr und die Ablenkungsmanöver der Bezugspersonen können durchaus wahrgenommen werden, und schon ältere Kinder können auch versuchen, sich dagegen zu wehren, wie im folgenden Beispiel.
Die Eltern einer Zwölfjährigen erzählen, dass ihre Tochter neuerdings Anfälle von Melancholie und Trennungsangst an den Tag lege. Dies, seit ihr bewusst geworden sei, dass ihre Kindheit zu Ende gehe. Seit dem Tod einer Nachbarin beschäftige sie sich noch mehr mit Fragen um den Tod. Die Eltern würden alles tun, um ihrer Tochter ihre Ängste und ihre Gedanken an den Tod auszureden. Doch diese reagiere darauf mit Ärger: Sie wolle gar nicht von ihren traurigen Gedanken abgebracht werden. Sie fordere von den Eltern, diese sollten aufhören, ihre Gefühle mit ihren Argumenten widerlegen zu wollen, sie sollten diese Gefühle ernst nehmen und sich darauf beschränken, sie einfach nur zu trösten.
Dass diese Jugendliche weiß, was sie braucht, und darauf beharren kann, stellt die Eltern vor die Herausforderung, zu lernen, ihre eigenen Gedanken und Ängste in Bezug auf den Tod wahrzunehmen und auszuhalten, damit sie mit Empathie anstelle von Abwehr reagieren könnten. Die Eltern selbst verfügen nur über vage Erinnerungen an Gefühle von Trauer, Verlust und Einsamkeit, die ihren eigenen Übergang von der Kindheit in die Adoleszenz begleitet hätten. Deshalb ist ihnen zunächst nicht klar, dass es sich bei dem Erleben ihrer Tochter auch um eine Trauerreaktion handelt, die häufig am Übergang ins Jugendalter auftritt – beim Kind, aber auch bei den Eltern. Zu den Entwicklungsaufgaben am Übergang in die Adoleszenz gehört auf beiden Seiten eine erste Auseinandersetzung mit der Endlichkeit und Vergänglichkeit.
„Das ärztliche Gespräch“
Die Schwierigkeit, über den Tod auf eine hilfreiche Art zu sprechen, ist also eine ganz allgemeine und keineswegs auf das medizinische Feld beschränkt. Auch in unseren Freundesbeziehungen nimmt dieses Thema wenig Raum ein, erstaunlicherweise, da es ja das Thema sein könnte, das uns alle verbindet. Manchmal wissen Ehepartner nicht voneinander, wie sie bestattet werden wollen, weil sie nie über den Tod gesprochen haben. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass sehr viel in Bewegung kommen kann, wenn sich jemand traut, das vermiedene Thema anzusprechen. Ein Beispiel aus einer Paartherapie mit einem älteren, kinderlosen Paar:
Das Thema Tod ist omnipräsent, aber vor allem in Form von aus der Vergangenheit herandrängenden traumatischen Erfahrungen, weshalb beide die Grundeinstellung entwickelt hatten, dass es gesünder sei, diesem scheinbar immer regressiv in die Vergangenheit verweisenden Thema so wenig Raum wie möglich in ihrer Beziehung zuzugestehen. Doch als sich der Therapeut davon nicht abschrecken lässt und die Frage aufwirft, ob sie sich auch schon einmal über den in der Zukunft irgendwann anstehenden Tod Gedanken gemacht hätten, stellt sich heraus, dass sie vor lauter Angst und habitueller Abwehr gegenüber dieser Vorstellung noch nie darüber gesprochen hatten und keine Idee haben, was passieren würde, wenn der/die Andere stirbt.
Weil sie nun am Therapeuten erleben, dass dieser ohne Angst bereit ist, mit dem Paar in das Thema hineinzugehen, lassen sie sich nach kurzem Zögern auf diese bis zu diesem Zeitpunkt noch ungedachten und offenen Fragen ein. Überraschenderweise können sie dann nicht nur relativ schnell Vorstellungen entwickeln, was sie selbst im Falle des Todes des/der Anderen für Handlungsmöglichkeiten entwickeln könnten, wie beispielsweise mehr Kontakte mit anderen Menschen aufnehmen oder ein vernachlässigtes Hobby wieder aufzunehmen. Sondern es ergibt sich in dem Gespräch auch der naheliegende Gedanke, dass diese Ideen ja auch jetzt schon aufgegriffen und umgesetzt werden könnten und dadurch ihr Leben bereichert würde.
Dieses Beispiel zeigt nicht nur, welche Bewegungen mit wenig zeitlichem Aufwand möglich werden, wenn man den emotionalen Widerstand bei sich selbst und den Patient:innen zu überwinden vermag und das Gespräch über das Thema Tod ermöglicht. Es zeigt auch, dass oftmals, wenn über den Tod nicht gesprochen wird, es nicht nur so ist, dass der Mensch seine Gedanken darüber nicht äußert, sondern dass er sie für sich selbst noch nicht einmal denken kann. Die Abwehr gegen solche diffusen, unbewusst bleibenden Ängste bindet viel Energie, die dann für den libidinösen Vollzug des Lebens fehlt.
Doch gehört es nicht einmal zum Common Sense der Psychotherapie, die existenziellen Fragen um den Tod und den Sinn des Lebens aufzusuchen, womit sie sich oft den Zugang zu den tiefsten Fragen und Ängsten des Menschseins vergibt. In der Medizin, in der es vielleicht häufiger manifest um die Vergänglichkeit des eigenen Lebens, um Tod und Sterben geht, sieht es auch nicht besser aus. Hier haben, zusätzlich auch vor dem Hintergrund der belastenden Arbeitsbedingungen, die ärztlich und pflegerisch tätigen Personen gelernt, die privaten Anteile ihrer Persönlichkeit durch die Identifikation mit ihrer Rolle aus ihrer Arbeit herauszuhalten. Und zu dieser Rolle gehört unter anderem die Orientierung am Primat des Heilens, das den Tod als Versagen brandmarkt, als größtmöglichen Fehler, und damit aus dem fachlichen Denken ausschließt.
Um auf die spezifischen Schwierigkeiten im medizinischen Kontext einzugehen, möchte ich auf die Arbeit des Psychoonkologen Fritz Meerwein (1922–1989) zurückgreifen. Meerwein (1986) bemühte sich in vielen, immer wieder umgearbeiteten Auflagen seines zuerst 1969 erschienenen Buches Das ärztliche Gespräch, den praktizierenden Ärzt:innen die wichtige Rolle des emotionalen Erlebens ihrer Patient:innen vor Augen zu führen und Hinweise darauf zu geben, wie eine für den Behandlungs- und Heilungsprozess förderliche Ärzt:innen-Patient:innen-Beziehung entstehen kann.
Meerwein beschreibt verschiedene Varianten, wie im ärztlichen Gespräch nicht auf den Tod als einen emotional hoch bedeutsamen Sachverhalt eingegangen wird; manchmal entsteht so anstelle eines Gesprächs gegen die Angst „ein angsterregendes Gespräch“ (Meerwein 1986, S. 134). Im Kapitel „Das Gespräch mit dem sterbenden Patienten“ beschreibt Meerwein das Zusammenspiel der Abwehr des Themas Tod aufseiten der Ärzt:innen und aufseiten der Patient:innen. Man könne nicht mit Patient:innen über deren Todesangst sprechen, ohne die eigene Todesangst zu reaktivieren, stellt er fest. Und Ärzt:innen haben nicht weniger Todesangst als andere Menschen, möglicherweise, nach einer von Meerwein zitierten Studie aus den Siebzigerjahren, sogar mehr. Die Ärzt:innen haben wegen ihrer eigenen abgewehrten Todesangst Hemmungen, sich mit ihren Patient:innen auf das Thema Tod einzulassen, und die Patient:innen wollen ihren Arzt oder ihre Ärztin auch nicht unnötig mit diesem Thema belasten, weshalb die Patient:innen ihre Ärzt:innen schonen. „Sie wollen den Arzt nicht mit unangenehmen Fragen in Verlegenheit bringen, da sie fürchten, sonst von ihm gemieden oder verlassen zu werden“ (Meerwein 1986, S. 149).
Für den Umgang von Ärzt:innen und Pflegepersonen mit todkranken oder sterbenden Patient:innen ist es indessen nötig, sich deren Gedanken und Ängsten in Bezug auf die Endlichkeit des Lebens, das Sterben und den Tod zu öffnen. Dies erfordere, meint Meerwein, sich auf Kurt Eissler beziehend, eine tiefe Identifikation mit diesen Patient:innen, das heißt, die Fähigkeit, den Kranken so zu begegnen, wie man selbst in einer solchen Lage behandelt werden möchten. „Nur eine solche Identifikation ermöglicht dem Kranken, ein ‚archaisches Vertrauen in die Welt‘ entwickeln und so sein Schicksal annehmen zu können“ (Meerwein 1986, S. 150).
Was der Arzt, die Ärztin tun kann, ist, dem Patienten, der Patientin als unterstützendes Gegenüber, als gutes Objekt, zur Verfügung zu stehen. Dies kann ermöglichen, frühere innere hilfreiche Erfahrungen mit Bezugspersonen anzusprechen und so die Hoffnung aufrechtzuerhalten, dass die Patientin, der Patient das, was bevorsteht, bewältigen kann, ohne die psychische Katastrophe erleiden zu müssen, als die der Tod und das Sterben oft fantasiert werden. „Hoffnung vermitteln heißt auch das Teilen aller Überlebens-Phantasien, die der Patient allem besseren, rationalen Wissen zum Trotz“ (Meerwein 1986, S. 150) entwickelt hat und an denen er weiter festhalten möchte. Dies und die Wiederbelebung der guten inneren Erfahrungen, die der Patient, die Patientin früher machen konnte, ermöglicht das Erleben „des inneren Gehaltenwerdens“ (Meerwein 1986, S. 151). Der Zugriff auf diese, sich auf frühere Beziehungserfahrungen beziehenden Ressourcen ist aber auch davon abhängig, dass dieses Gehaltenwerden auch in der aktuellen Beziehung zur ärztlichen oder zur pflegerischen Bezugsperson erlebt werden kann.
Die Herausforderung liegt für die ärztliche, therapeutische oder pflegerische Begleitperson also einerseits darin, dass sie, sobald sie sich der inneren Situation des Patienten, der Patientin angesichts des Themas Tod öffnet, sich den eigenen Fragen und Ängsten in Bezug auf ihre eigene Sterblichkeit stellen können muss. Andererseits wird sie zu einem besonderen, vielleicht sogar einmaligen Objekt für den Patienten und erlebt die Intensität der Ängste, aber auch die Wünsche nach Beziehung und Rettung ganz unmittelbar mit. Dies beschreibt Michel de M’Uzan auch noch für den sterbenden Menschen, der den ganzen Rest seiner Lebenskräfte, alle noch verfügbare libidinöse Energie auf die Bezugspersonen richten kann, als ob sie die Bezugspersonen seiner Kindheit wären und über die omnipotente Macht verfügen würden, ihm in seinem Zustand zu helfen. Diese „Erfahrung einer erstaunlichen libidinösen Expansion und eines gesteigerten Bindungsverlangens“ (de M’Uzan 1998 [1996], S. 1050) des sterbenden Menschen stellt für die Bezugspersonen eine sehr berührende Erfahrung dar, kann aber zugleich auch als sehr anstrengend und aufzehrend erlebt und deshalb gemieden werden.
Und am Ende müssen der Arzt, die Ärztin, wenn sie sich auf die Todesgedanken und das Sterben eines Patienten einlassen, auch über die Fähigkeit verfügen, die dazu gehörige Trauerarbeit zu vollbringen, um dafür bereit sein, „den Patienten zu verlieren, sich von ihm zu trennen“ (Meerwein 1986, S. 152).
Den Tod denken
Über den Tod sprechen heißt notwendigerweise auch den Tod denken können, auch wenn dies immer nur provisorisch, hypothetisch oder magisch-märchenhaft möglich ist. Das, was wir nicht denken können, macht uns mehr Angst als das, was wir denken können. Dabei ist Denken hier nicht als ein rein kognitiver Vorgang gemeint, sondern als die eine Hälfte eines auch mit Emotionen verbundenen Erlebens. Nur, was uns emotional bewegt, kann uns auch emotional weiterhelfen. Hier muss an die Stelle unseres dualistischen Denkens mit der Aufspaltung in Kognition und Emotion eine ganzheitlichere, integriertere Erlebnisweise treten. Nur so können wir die Phänomene erfassen, um die es im Prozess der Auflösung unseres Wahrnehmens und Denkens im gewohnten Rahmen unserer dreidimensionalen Welt mit der Zeit als scheinbar linear voranschreitender vierten Dimension geht.
Das Denken, wie es von Bion beschrieben wurde, ist Teil eines Prozesses, der namenlose Angst und bedrohliche Gedanken in emotional aushaltbare Vorstellungen transferieren kann. Auch hier ist wieder zentral, dass das funktionierende Containment, die Grundlage für diesen Prozess, zunächst einmal in der Interaktion zwischen dem Subjekt und seinen Bezugspersonen entwickelt und als erfolgreich und wirkkräftig erlebt werden muss.
Welche Art Denken sich schlussendlich für den einzelnen Menschen als hilfreich erweist, hat einerseits damit zu tun, welche der beschriebenen Strategien des Umgangs mit dem Tod bei ihm aktuell dominieren, andererseits damit, welche Gedankenwelt ihm in seinem kulturellen Umfeld zur Verfügung steht und ihm selbst plausibel und hilfreich erscheint. Dies ist für den an einer traditionellen Religion orientierten erwachsenen Menschen eine andere als für ein Kind oder für eine:n Naturwissenschaftler:in. Einen großen Unterschied macht, ob wir Leben und Tod mit unserem westlichen Weltbild betrachten, in dem das Leben linear auf eine Zukunft orientiert ist und der Tod ein möglichst lange und mit allen Mitteln zu verhinderndes Ereignis darstellt, gegen das angelebt werden muss, oder ob wir uns in einem für östliche Philosophien wie Buddhismus oder Hinduismus typischen zirkulären Weltbild verstehen, in dem Vergänglichkeit, Tod und Wiederkehr Grundkonstanten des Daseins darstellen. Letztere beschreiben die Existenz als ein Leben mit dem Tod, die westliche Sicht hingegen als ein Leben gegen Tod, was etwa Sartres Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens angesichts der Sterblichkeit des Menschen war.
„May I be alive when I die“
Für den Psychoanalytiker und Arzt Donald W. Winnicott war beispielsweise der Gedanke wichtig, dass es für seine Angst vor dem Sterben hilfreich sein würde, wenn er sich aus der Sicht des Arztes genau vorstellen könnte, wie der körperliche Prozess seines Sterbens ablaufen wird. Gleichzeitig war es Winnicott ein zentrales Anliegen, sein Sterben ganz bewusst und lebendig erleben zu können: „My God! May I be alive when I die“ – diesen von ihm als Gebet bezeichneten Wunsch schrieb er nieder, als er sich in hohem Alter daran machte, einige autobiografische Dinge festzuhalten (zit. nach C. Winnicott 2016). Warum war Winnicott der Gedanke so wichtig, bei seinem Sterben lebendig zu sein?
Eine der späten theoretischen Einsichten Winnicotts war, dass die Angst vor dem Zusammenbruch, die viele Menschen in therapeutische Behandlung führt, oft nicht eine Angst vor einem bevorstehenden Zusammenbruch ist, sondern davor, dass sich ein schon geschehener und als katastrophal erlebter Zusammenbruch wiederholen könnte. Doch kann dieser frühere Zusammenbruch nicht in einer bewusstseinsfähigen Erinnerung aufgefunden werden, weil das Kind damals zu jung gewesen war, um sich später daran erinnern zu können. Auch panikartige Angst vor dem Tod, meint Winnicott (1991 [1974]), könne als eine Erscheinungsform dieser Angst vor der Wiederholung eines früher erlebten todesähnlichen seelischen Ereignisses verstanden werden.
Zu solchen frühen Zusammenbrüchen des sich entwickelnden Selbst kann es zum Beispiel kommen, wenn der Säugling oder das kleine Kind von seinen Bezugspersonen emotional nicht angemessen versorgt wurde und dadurch sein psychischer Apparat zu lange überfordert war. Dies kann sich auch später im Leben so auswirken, als ob das frühe, aufkeimende Selbst gestorben wäre oder als ob die zentrale Bezugsperson nicht lebendig gewesen wäre.
Einige biografische Hinweise sprechen dafür, dass Winnicott eine depressive Mutter hatte, und eine solche, nicht von lebendiger Präsenz geprägte Erfahrung mit der Mutter kann dann als Erinnerungsspur die Angst hinterlassen, später, erneut wieder alleingelassen, schlimmen Erfahrungen ausgesetzt zu sein, ohne hilfreiche Präsenz eines lebendigen Anderen.
Schon das Studium der Medizin hatte Winnicott gewählt, um nicht von anderen abhängig sein zu müssen, sein eigener Retter sein zu können: Er hatte sich als Jugendlicher das Schlüsselbein gebrochen und deswegen einen Arzt aufsuchen müssen; dadurch wurde ihm klar, dass er sein Leben lang damit rechnen musste, krank und von Ärzten abhängig zu werden. Deshalb beschloss er, lieber gleich selbst Arzt zu werden (Phillips 2009 [2007]).
Winnicotts Wunsch, lebendig zu sein, wenn er stirbt, könnte also auch bedeuten, nicht wieder in jenen Zustand tödlicher Verlassenheit und Hilflosigkeit geraten zu wollen, die er möglicherweise als Kind erlebt hatte. Lebendig bei seinem eigenen Sterben sein, wäre also gleichbedeutend damit, noch bis zuallerletzt über ein lebendiges und erlebnisfähiges Selbst verfügen zu können, was voraussetzt, dass sowohl lebendige innere wie auch empathische und resonante äußere Bezugspersonen zur Verfügung stehen.
Diese Lebendigkeit des Selbst wäre zumindest in unserer diesseitigen Vorstellung auch die Voraussetzung dafür, dass man das, was kommen könnte, falls noch etwas mit und nach dem Tod kommen würde, erleben und nicht verpassen würde. Möglicherweise hatte Winnicott die Hoffnung, dass der Tod nicht das Ende wäre; er war ein gläubiger Mensch und hatte seinen Aufzeichnungen die folgenden Zeilen von T. S. Eliot vorangestellt (zit. nach C. Winnicott 2016):
„What we call the beginning is often the end
And to make an end is to make a beginning.
The end is where we start from.“
In seinen Aufzeichnungen erfüllte sich Winnicott seinen Wunsch, indem er die Realisierung dieses Wunsches als geschehen annahm. Er beschreibt sein Sterben, ganz aus der sachlichen Perspektive des Mediziners, und stellt dann fest: „Mein Gebet wurde erhört. Ich war lebendig, als ich starb. Das war alles, um was ich gebeten hatte, und ich hatte es bekommen“ (zit. nach C. Winnicott 2016, Übers. J. G.).
Die Gewissheit über das Näherrücken des höheren Alters und des Todes kann zu Weiterentwicklungen der Persönlichkeit führen, zu kreativen Lösungen von offen gebliebenen Lebensthemen, bis zuletzt. So wie Winnicott vielleicht erst in der Vorbereitung auf seinen Tod, in der Niederschrift seiner Gedanken über das Sterben, seine Furcht vor der Wiederholung eines als Kind erlebten katastrophalen Zusammenbruchs bewältigen konnte.
Der Wunsch, lebendig zu sein beim eigenen Sterben, erfordert einiges, nicht nur Bezugspersonen, die zeitlich, aber auch emotional verfügbar sind, sondern auch eine Abwesenheit von Demenz und unerträglichen Schmerzen. Wie wir wissen, hat auch das Schmerzerleben seinen psychischen Anteil, und es ist kaum zu unterscheiden, wie viel seelischer Schmerz im körperlichen Schmerz untergebracht wird. Gerade die Schmerzen lösen nun aber die hilfreichen und erlösenden Gaben von Morphium aus, ohne dass wir wissen, was dies im Erleben der Sterbenden für einen Unterschied macht, lebendig oder sediert zu sterben. Auf jeden Fall erfordert die Verabreichung einer Morphiuminjektion ungleich weniger personellen, zeitlichen und emotionalen Aufwand als bei dem leidenden Menschen zu sitzen, seine Hand zu halten und mit ihm zu sprechen. Analog ist zu bedenken, wie viel Angst vor dem Tod – und andere intensive, auch libidinöse, Gefühle – in Alters- und Pflegeheimen offiziell deshalb mit Neuroleptika in Schach gehalten werden müssen, weil zu wenig Pflegepersonal zur Verfügung steht (Vögeli 2022). Bei genauerer Betrachtung würden wir hier aber auch auf eine generelle Tendenz in unserer Kultur stoßen, dass Ängste grundsätzlich medikamentös ver- und entsorgt werden sollen.
Wechseln wir für einen Moment in eine ganz andere, unserem westlich-naturwissenschaftlich geprägten Denken fernliegende kulturelle Hintergrundtheorie, nämlich zum tibetischen Buddhismus, so lassen sich auch noch weitere Gründe dafür finden, warum es existenziell wichtig sein könnte, lebendig und bewusst zu sein, wenn man stirbt. In der tibetischen Vorstellung verlässt der Geist nämlich erst einige Zeit nach dem Eintritt des klinischen Todes den Körper, und dass er dies möglichst ungestört und in vollem Bewusstsein tun kann, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass er sich dann für seine Wiedergeburt ein geeignetes Objekt wählen kann. In einer solchen Vorstellung ist der Tod auch nicht Vernichtung, sondern ein Schritt in einem umfassenderen Prozess der Entwicklung und Transformation des Bewusstseins.
Die Angst vor der Angst überwinden
Keineswegs ist der Tod immer grausam und das Sterben schlimm. Im Kontext von Medizin und Klinik nehmen die Vorstellungen über den Tod und die Aussicht auf das Sterben jedoch, weil sie nicht in Beziehungen eingebettet, vorbereitet und mentalisiert werden, eine potenziell traumatische Qualität an. Betrachten wir die Situation des kranken Menschen im medizinischen Umfeld unter der Perspektive des Traumas, so lassen sich basale Ratschläge aus der Traumapädagogik auf die Gesprächssituation mit dem Kranken übertragen. Um die folgenden fünf Themen, die von Martin Baierl (2014) als „fünf sichere Orte“ bezeichneten Grundanliegen, gilt es, sich zu kümmern, damit sich die Betroffenen sicher fühlen können:
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Sie müssen sich an einem äußeren sicheren Ort befinden.
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Sie brauchen Menschen, die beschützen und Gefahren abwehren können.
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Sie sollten selbst die Fähigkeit entwickeln können, Gefahren abzuwehren und Herausforderungen zu meistern.
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Sie sollten über einen spirituellen sicheren Ort verfügen.
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Sie sollten die Möglichkeit haben, sich an einen inneren sicheren Ort zurückziehen können.
Der Vermeidung des Themas Tod liegt oft jene Form von Angst zugrunde, deren eigentlicher Inhalt nicht eine bestimmte befürchtete Gefahr ist, sondern die Angst, von der Angst selbst überwältigt zu werden. Wie die geschilderten Beispiele zeigen, ist dies jedoch im Rahmen einer haltenden Beziehung in der Regel nicht der Fall, sondern es bestätigt sich, was Melanie Klein schon in ihren ersten Kindertherapien postuliert hatte: Ängste zu thematisieren, kann die Ängste abschwächen, sofern dies damit einhergeht, dass die Beziehung zu einem Objekt vertieft werden kann, beispielsweise zur Therapeutin oder zum Therapeuten. Die Erfahrung, mit den eigenen Ängsten ernst genommen und verstanden zu werden, kann dann zum genauen Gegenteil des Befürchteten führen, nämlich zu Entspannung und mehr Lebendigkeit:
„Es ist in der Tat bemerkenswert, daß gerade sehr schmerzliche Deutungen – und ich beziehe mich hier vor allem auf Deutungen, die den Tod oder tote verinnerlichte Objekte betreffen … – die Hoffnung wiederbeleben und dem Patienten das Gefühl einer größeren Lebendigkeit geben können“ (Klein 1961, zit. nach Hinshelwood 1997 [1994], S. 113).
Es kann hilfreich sein, zu differenzieren, welche unterschiedlichen Hintergründe die jeweils individuellen Ängste der Patient:innen haben können, weshalb ich hier eine Reihe von typischen Formen dafür anführe, wie der Tod gedacht und erlebt wird. Jede kann mit einer unterschiedlichen Qualität von Angst, aber auch von Hoffnung, verbunden sein:
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der Tod als Trennung, Verlust:
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Verlassenwerden von den wichtigen Anderen,
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Verlassenwerden von sich selbst,
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eigenes schuldhaftes Verlassen der Angehörigen;
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der Tod als Mord, gewaltsames Ereignis:
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der Tod als Strafe;
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der Tod als Fehler, eigenes Verschulden, für das man sich schämen muss;
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der Tod als Auflösung, Zerfall:
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katastrophisch, psychotisch,
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medizinische/naturwissenschaftliche Vorstellungen;
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der Tod als Erlösung und Befreiung;
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der Tod als Übergang:
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etwas, die Seele/das Leben verlässt den Körper,
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naturwissenschaftlich und/oder spirituell gedacht,
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Rückkehr in etwas Altes,
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Übergang in etwas Neues, ein Jenseits.
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Die jeweils unterschiedlichen Qualitäten der Ängste, die durch die Gedanken an Vergänglichkeit und Tod aktiviert werden, färben das Erleben nicht nur der Patient:innen, sondern auch der Bezugspersonen auf verschiedene Art und Weise. Sie sind mit unterschiedlichen biografischen Vorerfahrungen und psychischen Verarbeitungsweisen verknüpft und lösen unterschiedliche emotionale Reaktionen und Antworten beim Gegenüber aus.
An hilfreiche Vorerfahrungen anknüpfen
Unterstützend in Krisen aller Art ist oft, wenn es gelingt, an hilfreiche Vorerfahrungen in früheren Krisen anzuknüpfen, im Falle von Vergänglichkeit und Tod insbesondere, wenn diese eine spirituelle, über die eigene Existenz und die der realen Bezugspersonen hinausweisende Qualität beinhalten. Oft können solche Erfahrungen in einem therapeutischen Gespräch aufgefunden, in Beziehung zur aktuellen Angst gesetzt und in der therapeutischen Beziehung validiert werden, wie in folgendem Fallbeispiel:
Die Patientin, Anfang Vierzig, befindet sich schon längere Zeit in Psychotherapie. Sie beginnt die Stunde aufgewühlt, weil es bei der Kontrolluntersuchung des Tumors ihres Vaters einen unklaren Befund, der weitere Abklärungen nötig macht, gab. Sie würde unbedingt etwas tun wollen und fühlt sich völlig hilflos und ohnmächtig. Auf die Frage, was sie würde tun wollen, antwortet sie: „Etwas, das die Sache wegmachen würde.“ Sie würde also gern, wie ein Mädchen, an omnipotente Kräfte appellieren, um dem Vater zu helfen, doch lässt sich dies nicht mit dem erwachsenen Denken einer vierzigjährigen akademisch ausgebildeten Frau in Übereinstimmung bringen. Deshalb fühlt sie sich ohnmächtig. Erst als diese Ohnmacht, nichts tun zu können, anerkannt und gemeinsam in der Stunde ausgehalten werden kann, kann die Patientin die dahinter verborgene Angst formulieren, dass ihr Vater sterben wird.
Doch diese Möglichkeit, dass der Vater sterben könnte, wenn auch vielleicht erst in zwanzig Jahren, lehnt die Patientin rundweg ab. Diesen Gedanken will sie nicht haben. Sie sei voller Widerstand dagegen und voller Wut. Wir gehen der Wut nach, die sich der Reihe nach zunächst auf ihre Mutter richtet, die sich nicht gut genug um ihren Vater gekümmert habe, dann auf ihren Vater, der sich nicht gut genug um sich gekümmert habe, und schließlich auf sie selbst, die sich nicht gut genug um ihren Vater gekümmert habe, und auf ihren Bruder, der sich gar nicht mit der Krankheit des Vaters beschäftige. Ich ergänze, dass diese Wut, die sie heftig empfindet, aber als völlig inakzeptabel ablehnt, häufig gegenüber Menschen auftritt, deren Krankheit einen belastet, weil dieses Kranksein eine Zumutung ist und Ängste auslöst, die man nicht haben möchte. Und dass diese Wut, wenn es um den Tod geht, noch weitere Kreise ziehen kann, sich bei gläubigen Menschen sogar gegen Gott richten kann, warum er einem das antut, oder auf das Leben an sich, weil es unausweichlich auf den Tod zu führt.
Die Patientin sagt, bisher habe sie sich nie mit dem Tod beschäftigt, den wolle sie nicht. Ich sage, jeder werde irgendwann mit der Tatsache, dass es den Tod gibt, konfrontiert und müsse dann einen Weg finden, damit zurechtzukommen; in ihrem Fall biete nun die Krankheit ihres Vaters vielleicht die Chance, ihr Konzept vom Leben so zu erweitern, dass auch der Tod darin einen Platz finden kann. „Eine Chance nennen Sie das? Da kann ich mir Schöneres vorstellen, etwa an die Kirmes zu gehen, das wäre eine Chance!“, erwidert sie aufgebracht. Ich höre den Wunsch, den kindlichen Modus der Verleugnung aufrechterhalten zu können, werbe aber weiter für die Chance, dass die Beschäftigung mit dem Tod ein Weg sein könne, um sich weniger zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen Verleugnung des Todes und Ohnmacht hin- und hergerissen zu fühlen.
Daraufhin denkt die Patientin längere Zeit nach und sagt dann, „die Endlichkeit von allem“ habe sie nie bedacht. Bisher sei ihr ihr Leben als endlos vorgekommen. Nach weiterem Nachdenken: Wenn alles endlich ist, kann man sich wohl besser fokussieren auf das, was es in dieser Endlichkeit gibt. Dann würde man sich wohl über Kleinlichkeiten weniger ärgern und über anderes mehr freuen. Nach einigem Schweigen kommt mir in den Sinn, wie gerne die Patientin in ihrem Garten arbeitet, und sage: Die Wahrnehmung der Endlichkeit würde das Leben zwar etwas begrenzen, zugleich aber auch erweitern, zum Beispiel um das Wissen um Werden und Vergehen der Dinge, wie etwa mit den vier Jahreszeiten, wo auf Frühling und Sommer, Herbst und Winter folgen, in denen die Blätter abfallen und Pflanzen absterben können. Darauf meint die Patientin: „Sie meinen den Kreislauf in der Natur.“ Dann sagt sie plötzlich, mit starker, freudig klingender Stimme, als ob sie etwas Großartiges entdeckt hätte: „Und man ist ja gar nicht allein! Erinnern Sie sich, als ich dieses Erlebnis hatte, als ich so sehr krank war (COVID-19), dass ich an den Punkt kam, wo ich nur noch loslassen konnte, alles loslassen musste, gar keine Kräfte mehr hatte, und als mir plötzlich dieses Licht erschien, das mir zeigte, hier ist der Weg, hier geht es weiter? Es muss ja gar nicht so sein, dass man im Sterben ganz allein ist. Da gibt es eine Leichtigkeit, etwas geht weiter.“ Nach weiterem Nachdenken schließt die Patientin: „Aber wie das alles zusammengehört, all diese Gedanken, das ergibt für mich noch keinen Sinn.“
Quintessenz
Spätestens mit dem Tod wird unsere bisherige konventionelle Konstruktion unseres Bildes von der Wirklichkeit und damit unseres Bildes von unserem Leben radikal infrage gestellt und sich auflösen. Das wird uns überraschen und ängstigen, wenn wir darauf nicht vorbereitet sind. Sich schon vorher auf diese Relativierung und Erweiterung einzulassen, kann sich zunächst bedrohlich anfühlen, kann uns aber für die vielfältigen Möglichkeiten des Lebens wie des Sterbens offener und damit auch lebendiger machen.
Die Beschäftigung mit dem Tod führt uns unsere Unvollkommenheit und die Beschränktheit unserer Möglichkeiten vor Augen. Wenn uns dies in unseren Zielen bescheidener werden lässt, dann sind wir damit zugleich auch reifer geworden. Dies unterstützt eine Abkehr von der omnipotenten Strategie des Heilenwollens und -müssens als absolut gesetztem Ziel der Medizin und eine Hinwendung zur Empathie als Hilfsmittel zur Bewältigung von lebensbedrohlicher und unheilbarer Krankheit. Damit kann der Blick von Ärzt:innen oder Therapeut:innen und damit vielleicht auch der Blick der Patient:innen selbst und ihrer Angehörigen auf die wesentlichen Dinge des Lebens gerichtet werden. Und am Ende gilt es auch zu akzeptieren, dass es Menschen gibt, die bis zuletzt nicht über den Tod und ihr Sterben sprechen möchten, und die Herausforderung anzunehmen, sie und ihre Angehörigen trotzdem empathisch zu begleiten.
Literatur
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Grieser, J. Über den Tod sprechen. Forum Psychoanal 39, 189–203 (2023). https://doi.org/10.1007/s00451-023-00500-4
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