Der Ausdruck „Angewandte Psychoanalyse“ ist verwunderlich, denn: Wo sollte es denn um eine Psychoanalyse jenseits der „Anwendung“ gehen oder je gegangen sein? Gemeint ist, und das mehr oder minder seit Beginn der psychoanalytischen Theoriebildung und Behandlungskonzeption, die Anwendung der Psychoanalyse auf andere Bereiche als die klinische Situation.

Freud wollte die Psychoanalyse bekanntlich als eine Theorie des psychischen Funktionierens, eine Methode zur Untersuchung seelischer Vorgänge und eine Behandlungsmethode verstanden wissen. Was aber wird dann angewandt? Allzu oft ist hier in der Geschichte der Psychoanalyse der Eindruck entstanden, es werde die Theorie, gebildet im viel beschworenen „Junktim aus Heilen und Forschen“ der klinischen Psychoanalyse, also im Behandlungszimmer, genommen und zur Erklärung anderer, nichtklinischer Phänomene zur vermeintlichen Anwendung gebracht.

Auf diese Weise aber droht die Psychoanalyse, ihre Wissenschaftlichkeit einzubüßen. Wer seine Ostereier selbst versteckt, der wird sie zwar finden, aber besonders spannend ist das nicht, die Freude ist nicht besonders groß, und die Nachbarn schauen einen auch komisch an. Denn natürlich können wir Romanfiguren mit Ödipuskomplex finden, Staatsoberhäupter mit paranoider Abwehr oder ein polymorph-pervers aufgeführtes Free-Jazz-Stück.

Nicht nur fehlt es einem solchen Zugang aber an Offenheit gegenüber den Ergebnissen, es mangelt ihm auch an einer nachvollziehbaren Begründung. Eine psychoanalytische Filmbetrachtung beispielsweise muss nicht „replizierbar“ sein, aber es muss deutlich werden, in welcher Weise sich jemand, erst recht unter Nutzen der subjektiven Erfahrung, seinem Gegenstand zugewendet hat.

Die Anwendung, in der es in der Angewandten Psychoanalyse in wissenschaftlicher Sicht gehen sollte, ist also eine der Methode. Hier kann sich die Psychoanalyse aus dem Behandlungszimmer herausbewegen, indem sie ihr Vorgehen einer konsequenten Reflexion des eigenen In-Beziehung-Stehens auch dazu nutzt, etwas anderes zu verstehen als eine Behandlungsbeziehung.

Im Fall einer (nichtklinischen) „Anwendung“ der Psychoanalyse als Methode braucht es allerdings Antworten darauf, wie die Beziehungsreflexion vonstattengehen soll, wenn wir es mit einem Kunstwerk oder einem sozialen Phänomen zu tun haben. In welche Art von Beziehung treten wir zu einem Kunstwerk ein? Wie können wir was verstehen, und wie „deuten“ wir das, mit dem wir uns auf diese Weise auseinandersetzen? Psychoanalyse ist immer auch kritische Praxis – wie verändert „Angewandte“ Psychoanalyse? Und was?

Die Beiträge dieses Themenheftes widmen sich der Aufgabe, den psychoanalytischen Zugang für unterschiedliche künstlerische Medien (Sprache und Bild, Moment und Bewegung) beispielhaft zu erkunden und dabei auch zu Überlegungen dazu zu gelangen, was die psychoanalytische Methode in ihrer „Anwendung“ ausmacht. Außerdem geht es um die Frage nach dem Gesellschaftsbezug der Psychoanalyse in einer empirischen Sozial- und Kulturforschung, ebenso wie im Einbezug der „kulturellen“ Rahmung von Kunst.

Dominic Angeloch setzt sich in seinem Beitrag mit einer spezifischen methodischen Figur der psychoanalytischen Erkenntnisbildung auseinander: dem Mut zur relativen Steuerlosigkeit im Dienst des Mitvollzugs. Er greift in seiner literaturpsychoanalytischen Interpretation auf die Figur des Steuermanns Palinurus in Vergils Aeneas zurück. Palinurus klammert sich so sehr am Steuerrad des Schiffs fest, dass er es mit sich reißt, als er im Sturm über Bord geht. Mit Bion kann diese Figur derart aufgenommen werden, dass es eines Sich-Überlassens bedarf, um psychoanalytisch zu Verstehen und Erkenntnis zu gelangen. Dieser Hinweis, so Angeloch, lässt sich methodisch verallgemeinern und macht nicht nur klinisches Arbeiten, sondern auch die Anwendung der Psychoanalyse in außerklinischen Bereichen aus.

Es folgt ein Beitrag zum Verhältnis von Psychoanalyse und Film, den Hannes König vorlegt. Er stellt mit Freud heraus, dass es bei der Psychoanalyse neben den drei von Freud beschriebenen Merkmalen (s. oben), um eine Form der Gesellschafts- bzw. Ideologiekritik geht. Auch König hebt, in Gestalt des szenischen Verstehens, besonders hervor, dass theoretische Überlegungen und Interpretationen von Kunstwerken einzig die Folge eines emotionalen Kontakts sein können, in den Betrachtende mit einem Film verwickelt werden. Er zeigt dies anhand einer Interpretation des Films Sieben Minuten nach Mitternacht.

Stephan Engelhardt wählt in seinem Beitrag den Zugang zur bildenden Kunst bzw. Kunst-Performance, am Beispiel eines Gemäldes von Caravaggio und einer Performance durch Marina Abramović. Er stellt heraus, dass wir in der Kunst mit unserem Begehren konfrontiert werden und damit auch mit dessen unliebsamen und unerträglichen Aspekten. Über etwas, das Engelhardt „mimetische Resonanzprozesse“ nennt, haben wir als Betrachtende Teil an einer Szene des Begehrens. Ferner wird ein Vorschlag dafür gemacht, die (in diesem Fall traumatische) Lebensgeschichte des Künstlers bzw. der Künstlerin in die Interpretation der Szene, die uns gezeigt wird und deren Teil wir werden, einzubeziehen.

Jede Kunstinterpretation findet in einem sozialen und kulturell-gesellschaftlichen Rahmen statt. Das meint eben auch die Perspektive makrosozialer, gesellschaftlicher Prozesse, in der sich Kunst unweigerlich bewegt (mit der Folge, dass eine Interpretation in einer Gruppe oft als methodischer Weg gewählt wird). Und dies in besonderer Weise: Kunstwerke sind nicht nur als Teil von Kultur und Gesellschaft produziert und ausgestellt und sie nehmen sich, in unterschiedlichem Abstraktionsgrad, auch nicht nur Soziales zum Gegenstand einer künstlerischen Darstellung – sie führen unweigerlich auch eine Kritik der Verhältnisse vor, sie sind Mittel gegen individuelle oder soziale Abwehrfiguren der Vermeidung, genauer hinzusehen.

Insofern eignet sich auch der Einbezug der psychoanalytischen Sozialforschung, wie Markus Brunner, Florian Knasmüller und Julia König ihn in ihrem Beitrag liefern. Die Autoren und die Autorin rekonstruieren Freuds Anliegen einer Kultur- und Gesellschaftskritik und machen dieses für eine psychoanalytische Sozialforschung nutzbar. Auch hier erhält die umstandslose (und ahistorische) „Anwendung“ von Theorie auf einen Gegenstand eine klare methodische Absage. Stattdessen wird das metathoretisch von Lorenzer konzipierte szenische Verstehen, das alle vorangegangenen Beiträge methodisch trägt, in seinen Wurzeln und seiner Weiterführung in einer tiefenhermeneutischen Kulturanalyse nachgezeichnet. Schließlich wird das Vorgehen anhand der Auswertung eines biografisch narrativen Interviews zum Thema Coronamaßnahmen und -proteste exemplifiziert.

Die Auseinandersetzung mit der sogenannten Angewandten Psychoanalyse bleibt wichtig, und die Aufgaben, vor denen jene steht, zeigen sich weiterhin deutlich: Wie finden wir auf einer methodischen Ebene Entsprechungen zu Konzepten wie Gegenübertragung, Widerstand oder Deutung? Welchen Stellenwert erhält die Rahmung durch gesellschaftliche Prozesse? Was macht eine Kunstinterpretation gültig? Dabei ist es aussichtsreich, im Spannungsfeld der verschiedenen Kunstgattungen und -medien zu erkunden, wo sich die psychoanalytischen Betrachtungen von Literatur, Film und bildender Kunst begegnen. Dass die Musik hier außen vor bleibt, hat seine Gründe nicht in der Konzeption des Themenheftes, sondern ist planerischen Unwägbarkeiten geschuldet – sodass zu hoffen bleibt, dass ein Nachtrag aus Sicht der Musikpsychoanalyse hier eine weitere, gleichsam intervisorische Perspektive auf das hier Erarbeitete bereitstellen wird.

Timo Storck