Die anhaltende Bedrohung

Auch wenn nach zwei Jahren Pandemie die Inzidenzen der „coronavirus disease 2019“ (COVID-19) etwas gesunken sind und gegenwärtig eine ganz andere Katastrophe – der russische Angriffskrieg auf die Ukraine – die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bestimmt, sind die Folgen der Pandemie für unser Alltagsleben nach wie vor präsent und die Unsicherheit über die Entwicklung des Virus im kommenden Herbst und Winter nicht gebannt. Das „severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2“ (SARS-CoV-2) hat unser soziales Leben und den psychoanalytischen Rahmen, in dem wir arbeiten, verändert. Die Nähe zu anderen Menschen ist gefährlich geworden. Der Atem, das Sprechen sind potenzielle Überbringer einer Erkrankung mit zum Teil schweren oder todbringenden Verläufen. Das Virus entzieht sich wie alle Viren unserer sinnlichen Wahrnehmung und ist erst dingfest zu machen, wenn wir erkranken. Wir wissen nicht, was passiert, wenn Analytiker und Patient sich live begegnen, auch wenn der Sessel weit von der Couch abgerückt ist, Luft‑/Virenfiltergeräte Einzug gehalten haben und das analytische Paar sich im weitestmöglichen Abstand begrüßt und eine FFP2-Masken-Verkleidung auf sich nimmt (FFP: „Filtering-Face-Piece“ der Klasse 2). Ein Telefon- oder Internetkontakt ist mit einer noch weitreichenderen Veränderung des analytischen Rahmens verbunden (Analyst anonymous et al. 2020; Erlich-Ginor 2020; Krzakowski 2020; Sedlacek 2021; Zoubek-Windaus 2021). Einige Autoren verweisen auf die Unheimlichkeit von COVID-19 (Heimerl 2020; Küchenhoff 2020; Perelberg 2021; Triest 2021). Das Virus wäre damit nach Freud gleichzeitig etwas „… ehemals Heimische(s), Altvertraute(s)“ (Freud 1919, S. 259), „… was im Verborgenen hätte bleiben sollen und hervorgetreten ist“ (S. 254).

Ist COVID-19 unheimlich? Das Unheimliche als das Heimische, Altvertraute

Freud schreibt dem Erleben von Unheimlichem eine anthropologische Universalität zu. Das Unheimliche evoziert in uns Urängste von Ohnmacht, Hilflosigkeit und tiefem Schrecken: ein spukendes Haus, der Tod, die panische Angst, wenn wir uns im Nebel verlieren, die Begegnung mit einem Doppelgänger oder eine Situation, in der wir mehrmals am Tag der immer gleichen Zahl begegnen und uns in magischem Denken verlieren (Freud 1919, S. 250–255). Ein Hintergrund seiner Beschäftigung mit dem „Un-Heimlichen“ ist Freuds Interesse am „Gegensinn der Urworte“; ein Thema, dem er, angeregt durch die Ergebnisse des Sprachforschers Abel (1884), in seiner gleichlautenden Arbeit neun Jahre zuvor nachgegangen ist (Freud 1910c). Er illustriert das Antithetische des Unheimlichen exemplarisch anhand des weiblichen Genitals, von dessen Unheimlichkeit ihm zahlreiche „neurotische Männer“ berichtet haben (Freud 1919, S. 258).

„Dieses Unheimliche [des weiblichen Genitals; Anm. d. Verf.] ist aber der Eingang zur alten Heimat des Menschenkindes, zur Örtlichkeit, in der jeder einmal und zuerst geweilt hat … und wenn der Träumer von einer Örtlichkeit oder Landschaft noch im Traume denkt: Das ist mir bekannt, da war ich schon einmal, so darf die Deutung dafür das Genitale oder den Leib der Mutter einsetzen. Das Unheimliche ist also in diesem Fall das ehemals Heimische, Altvertraute. Die Vorsilbe „un“ an diesem Worte ist die Marke der Verdrängung.“ (Freud 1919, S. 259)

Mit dieser Passage verweist Freud auf die Frühzeit unseres Lebens, die wir nicht erinnern, deren Erinnerungsspuren jedoch in uns als „embodied memories“ (Leuzinger-Bohleber 2017) wirksam sind. Wenn dem SARS-CoV‑2 etwas Unheimliches in diesem Sinne innewohnt, ist zu fragen, welche Erinnerungsspuren unserer Frühzeit es sind, die wir aus dem Territorium unseres bewussten Lebens ausgelagert haben und die in der Hochphase der Pandemie durch täglich auf uns einstürmende Bilder, Zahlen und öffentliche Debatten in uns eingedrungen sind. Denn SARS-CoV‑2 ist zunächst (wie alle Viren) nicht unheimlich. Wir haben Kenntnisse über Viren, es gibt jährliche Grippewellen, und auch SARS-CoV‑2 ist, obwohl zu Beginn der Pandemie neu und en détail noch nicht erforscht, wie alle Viren ein Parasit, dessen Spezifität nach und nach durch wissenschaftliche Erforschung erschlossen werden kann. Das Unheimliche des Virus erschließt sich erst dann, wenn wir eines der Phänomene ganz besonders in den Blick nehmen, das Freud in seiner Arbeit über das Unheimliche beschreibt: die „Beziehung zum Tode“ und die damit verbundene Hilflosigkeit und Ohnmacht (Freud 1919, S. 256). Sie ist eine von mehreren verdrängten infantilen Vorstellungen und Triebwünschen, die Freud entlang Der Sandmann von Hoffmann und zahlreicher Märchen und Mythen illustriert. Sein Fazit:

„… mit dem Animismus, der Magie und Zauberei, der Allmacht der Gedanken, der Beziehung zum Tode, der unbeabsichtigten Wiederholung und dem Kastrationskomplex haben wir den Umfang der Momente, die das Ängstliche zum Unheimlichen machen, erschöpft.“ (Freud 1919, S. 256)

Freud schreibt unserer Beziehung zum Tod und zu Toten gemäß unserer primitiven Seelenschichten animistische, unheimliche Vorstellungen zu. Unter unserer Abwehr der Rationalität und Pietät einem Toten gegenüber verbirgt sich die Angst, dass er ein „Feind der Überlebenden“ sei und uns mitnimmt, „als Genossen seiner neuen Existenz“ (Freud 1919, S. 256), oder die Vorstellung, scheintot begraben zu werden „… die Krone der Unheimlichkeit“ (Freud 1919, S. 257). Doch auch in dieser unheimlichen Fantasie lassen sich altvertraute Wurzeln entdecken, die auf etwas verweisen, was

„… ursprünglich nichts Schreckhaftes war, sondern von einer gewissen Lüsternheit getragen wurde, nämlich der Phantasie vom Leben im Mutterleib.“ (Freud 1919, S. 257)

Es ist unsere Beziehung zum Tod, zu Toten und zu unserer Sterblichkeit, die durch das Virus in uns etwas Unheimliches evoziert. Mit einer „unaufhaltsamen Invasivität“ (Triest 2021, S. 167) hat SARS-CoV‑2 innerhalb eines Jahres zu einer globalen katastrophischen Todesrate geführt: Anfang April 2021 gab es mehr als 2,7 Mio. Tote; ein Jahr später, im Mai 2022, sind es über 6 Mio. Das Unheimliche dieses

„Virus des Schreckens … [ist] die Botschaft des Todes, die es direkt auf unsere Türschwelle legt (und dabei gleichzeitig unsere Fähigkeit unterminiert, ihn zu verleugnen).“ (Triest 2021, S. 167)

Mit der pandemischen Ausbreitung und den hohen Todeszahlen unterscheidet sich COVID-19 von den bisherigen Grippewellen, die die jetzt lebenden Generationen erlebt haben. Die letzte Pandemie, die Spanische Grippe, ist weitgehend aus unserem kollektiven Gedächtnis verschwunden, als sei sie eine „Fußnote des 1. Weltkriegs“ (Spinney 2017, S. 9 ff.), obwohl 2,5–5 % der damaligen Weltbevölkerung an ihr verstarben (Spinney 2017, S. 12). Bohleber und Leuzinger-Bohleber (2021) erinnern daran, dass bei Ausbruch von COVID-19 die meisten Länder, obwohl vor pandemischen Entwicklungen längst gewarnt worden war, die Gefahr einer sich ausbreitenden Epidemie zunächst nicht ernst nahmen. Doch die kurz darauf täglich gezeigten Bilder aus Norditalien in den Medien erzwangen unsere Aufmerksamkeit: überfüllte Intensivstationen, auf denen Patienten hilflos an Atemgeräten angeschlossen waren, sowie erste Diskussionen über das Dilemma von Triage-Situationen. Bohleber und Leuzinger-Bohleber zitieren einen Arzt aus Bergamo:

„Diese neue Realität konfrontiert uns: mit unserem Tod, unserer Einsamkeit, mit unserer Beziehung zur Natur. Wir sind fragile Wesen. Solange alles gut ist, fühlen wir uns allmächtig. Aber ein Virus genügt, um unser gesamtes System zu zerstören.“ (Stefano Manera in: Schnibben und Schraven 2020, S. 114, zit. in Bohleber und Leuzinger-Bohleber 2021, Übers. v. Verf.)

Es waren eindringliche Bilder und Interviews, die unsere Verdrängungsschranke angegriffen und uns mit einer Situation der Ohnmacht konfrontiert haben, in der wir, würden wir schwer erkranken, vollständig auf die Hilfe der Ärzte und des Krankenhauspersonals angewiesen wären. Erinnerungsspuren unserer frühesten Entwicklung der ersten Wochen und Monate werden freigesetzt, eine Zeit der vollständigen Hilflosigkeit, verbunden mit einer Fülle an chaotischen Sinnesreizen, die wir (noch) nicht ordnen konnten und die deshalb fremd und ängstigend waren. Ein Neugeborenes ist angewiesen auf sicherheitgebende Objekte, die seine Ängste mildern. Diese frühen Objekterfahrungen sind in unseren Körpern als Erinnerungsspuren wirksam, sodass das Unheimliche dieser Pandemie sowohl die Konfrontation mit Tod und Sterblichkeit bedeutet als auch eine Wiederkehr dieser Erinnerungsspuren unserer ersten Lebenszeit. So wurden zum Beispiel in verschiedenen deutschen und internationalen TV-Berichterstattungen immer wieder Szenen gezeigt, in denen Pfleger und Pflegerinnen die intubierten Patienten auf den Bauch drehten, eine notwendige Maßnahme für das Überleben. Diese Bilder erinnern an unsere versorgenden frühen Objekte, die uns halfen, uns auf den Bauch zu drehen, als wir es noch nicht selbst vermochten.

Abwehr des Unheimlichen

Wenn wir Freuds Überzeugung folgen, dass der Tod unbegreiflich bleibt, keine Repräsentanz hat und „unser Unbewusstes … jetzt so wenig Raum wie vormals für die Vorstellung der eigenen Sterblichkeit [hat]“ (Freud 1919, S. 255), dann hat diese Pandemie mächtig an dieser unbewussten Überzeugung gerüttelt, was zu umso heftigeren unbewussten Gegenmaßnahmen führte. Doch zunächst sei eine milde Variante dieser Abwehr erwähnt, die wie eine Verniedlichung der Pandemiegefahr erscheint: die bis heute als Emblem verwendete Darstellung von bunten, tausendfach vergrößerten SARS-CoV-2-Kugeln mit lustigen Stacheln. Triest merkt an, dass die Todesbedrohung der Pandemie abgelöst wurde

„… von einer ‚wissenschaftlichen‘, mikroskopischen Darstellung des Virus in fröhlichen Farben – als sei die ästhetische Symmetrie seiner goldenen Kronen genug, um es in den Bereich des Unbewussten zurückzudrängen, aus dem es gekommen ist – jedoch vergebens. Unbewusstes Grauen sickert dennoch in den ‚Raum, in dem wir leben‘.“ (Triest 2021, S. 166)

Er versteht dieses Grauen mit Winnicott (1991) als etwas, was längst geschehen ist: Unsere „Angst vor dem Zusammenbruch“ in der Zukunft hat mit Katastrophen zu tun, die längst in unserer Frühzeit stattgefunden haben. Er zieht eine Verbindung zu „… dystopische[n] Fernsehserien und Science-Fiction-Romane[n] der Gegenwart …“, deren Schrecken in uns bereitliegt, um das, was gegenwärtig geschieht, als etwas zu erleben,

„von dem die Menschheit schon immer geglaubt hat, dass es eintreten würde. Nichts wirkt so stark wie die Manifestierung phantasierter Katastrophen in der Wirklichkeit – die Furcht vor einem „Zusammenbruch“ in der Zukunft, der schon stattgefunden hat, wie es Donald Winnicott nannte.“ (Triest 2021, S. 166)

Heimerl zentriert in seiner Arbeit auf das Virus als unheimlichen Fremdkörper. Manche seiner Formulierungen lese ich wie einen Versuch, dem Virus etwas von seiner Bedrohung zu nehmen, wenn er zum Beispiel dem sehr realen Virus den Charakter eines Fremdkörpers zuschreibt – was zweifellos stimmt –, daraus jedoch den Schluss zieht, dass wir es mit einem „komplexe[n] begrifflich[en] Gefüge“ zu tun haben. Und: „Das Virus wird als eindringendes Element in die Zelle, den Einzelkörper und den kollektiven Körper verstanden …“ (Heimerl 2020, S. 321, Hervorhebung vom Verf.).

Doch das Virus ist ein eindringendes Element; das Eindringende ist das Charakteristikum des Virus. Es als eindringendes Element zu verstehen, lese ich wie ein Bemühen, es auf der Ebene unserer Vorstellung anzusiedeln und ihm damit etwas von der Bedrohlichkeit zu nehmen.

Küchenhoff beschreibt SARS-CoV‑2 als ein Virus, was etwas Unheimliches in uns auslöst und konzeptualisiert es als ein unheimliches Objekt, dessen man sich entledigen kann, indem man „es beispielsweise in ein Hirngespinst im Rahmen von Verschwörungstheorien verwandelt“ (Küchenhoff 2020, S. 364). Er verweist auf Verschwörungserzählungen, in denen das Virus als Agens feindlicher Mächte (China) verstanden wird, ein Vorgang, mit dem das unheimliche Objekt „projektiv verankert“ wird (Küchenhoff 2020, S. 364). Doch diese kollektiven Abwehrvorgänge sind nicht nur „harmlose“ Projektionen, sondern gehen zum Teil, wie in der QAnon-Bewegung, mit massenpsychotischen Botschaften einher. Darüber hinaus wird in dieser Passage und im Duktus der ganzen Arbeit, ähnlich wie bei Heimerl (2020), das Ausmaß der faktischen körperlichen Bedrohung durch das Virus eher beiseitegelassen. Das Zentrieren darauf zu untersuchen, wie wir das Virus in seiner Unheimlichkeit erleben und verstehen oder wie wir es projektiv von uns fernhalten, läuft Gefahr, die Faktizität des Virus als Eindringling in unsere Körper mit möglichen Todesfolgen an den Rand zu drängen. Mitte Mai gibt es global über 6 Mio. COVID-19-Tote, in Deutschland sind es über 137.000. Der Tod kommt in beiden Arbeiten nicht vor – Heimerl (2020) erwähnt ihn nur im (metapsychologischen) Rahmen des Todestriebs –, die unheimliche Konfrontation mit unserer Sterblichkeit wird nicht benannt, obwohl diese Dimension an einer Stelle der Arbeit von Küchenhoff unübersehbar ist. Es geht dabei um einen von ihm zitierten Artikel in der taz vom 26.03.2020, in dem der (ungenannte) Autor seine „morbide Angstlust“ und seinen Einverleibungswunsch der täglichen COVID-19-Zahlen beschreibt.

„Dieser stete Blick auf die Zahlen … Als könnte ich nur so die Rasanz des Geschehens verstehen. Mit morbider Faszination fresse ich die Zunahme mehrmals am Tag in mich hinein, sauge sie auf. Das Bild des Einverleibens ist mit Absicht gewählt. Da ist etwas, das genährt werden will … Es ist Angst … Aber nicht nur das. Da ist auch Faszination, fast eine Lust an der Angst.“ (taz 26.03.2020 2020; in Küchenhoff 2020, S. 365)

Es ist naheliegend, mit Freud und Abraham anzunehmen, dass das, was als unheimliche Todesbedrohung Angstlust in uns auslöst und unbedingt einverleibt werden muss, um es zu bannen, Ausdruck des primitiven Triebwunsches ist, die Wucht des Virus, der wir ausgesetzt sind, unschädlich zu machen. So wie wir im melancholischen Modus über ein oral-kannibalistisches Einverleiben des verlorenen Objekts die Unerträglichkeit des Verlusts zu regulieren versuchen, so begegnen wir der Todesbedrohung mit eben diesem Vorgang: Wir fressen die Zahlen der Infizierten und Toten und wähnen uns unbewusst in der Illusion, auf diese Weise die Todesgefahr einverleibt und damit gebannt zu haben.

Kollektive Abwehr

Gesellschaftlich sind während der Zeit der Pandemie zahlreiche Gruppierungen entstanden, die sich als Demonstrationen gegen die Coronapolitik zusammenfassen lassen und von denen ein Teil der Teilnehmer dem Unheimlichen dieser Pandemie mit kollektiver Verleugnung begegnet und sich halluzinatorischen Beschwörungen hingibt: Das Virus gibt es nicht; es ist eine bösartige Erfindung der Mächtigen, der „Eliten“, um uns zu entmündigen und zu manipulieren („Coronadiktatur“). Diese Konstrukte individueller und kollektiver Angstbewältigung sind nicht nur bizarr, sondern politisch besorgniserregend, wenn Individuen und Gruppen mit VerschwörungsmentalitätFootnote 1 – die „Querdenker“, die radikale QAnon-Bewegung mit ihren massenpsychotischen Botschaften, ebenso einige der radikalen Impfgegner – die Verleugnung des Virus zum Anlass nehmen, rechtsradikale, antisemitische und fremdenfeindliche Parolen zu verbreiten. Individuen und Gruppen, die sich mit Kampfbegriffen wie „Fake News“ und „Coronadiktatur“ lautstark Gehör verschaffen und sich wie Helden und Rebellen zum Schutz der Menschenrechte inszenieren, pervertieren demokratische Grundrechte. Es kommt zu schockierenden Verzerrungen unserer Geschichte, wenn Demonstranten sich einen Davidstern mit der Aufschrift „ungeimpft“ anheften, oder wenn sich, wie in Hannover während einer Querdenker-Demonstration gegen die Coronapolitik, eine Teilnehmerin selbstvergessen als Sophie Scholl des 21. Jahrhunderts inszeniert. Hier ist eine gefährliche Mischung verschiedener Ideologien und politisch rechtsextremer Strömungen zu beobachten, die einer interdisziplinären Forschung bedarf. Ich will mich an dieser Stelle darauf begrenzen, auf die Autoritarismus-Studie von Decker und Brähler (2020) zu verweisen, in der die Autoren eine hohe Einstellungssignifikanz in Bezug auf Verschwörungserzählungen, autoritative Einstellungen und rechtsorientierte, fremdenfeindliche und antisemitische Überzeugungen darlegen. In einem Kapitel dieser Studie geht es um das Thema „Aberglaube, Esoterik und Verschwörungsmentalität“ (Schließler et al. 2020, S. 283–308). Der erhobene Befund für die Verbreitung von Verschwörungsmentalität in Deutschland ergibt eine hohe Zustimmung von 66,2 % zu drei Items, in denen es um Aussagen über verschwörerische Mächte geht, die das gesellschaftliche Leben bestimmen. (Das erste Item heißt zum Beispiel: „Die meisten Menschen erkennen nicht, in welchem Ausmaß unser Leben durch Verschwörungen bestimmt wird, die im Geheimen ausgeheckt werden“; Schließler et al. 2020, S. 288). Die Autorinnen und Autoren orientieren sich an den „Studien zum autoritären Charakter“ von Adorno et al. (1973), in denen Aberglaube und Verschwörungsmentalität als Teil des autoritären Syndroms konzeptualisiert sind und auf unbewussten Projektionen eigener unliebsamer Eigenschaften und Gefühlen basieren.

„Der Glaube an eine COVID-19-Verschwörung geht mit klassisch autoritären Dispositionen einher … Schon Adorno et al. (1973) haben die Schwierigkeit beschrieben, zwischen einem wirklich unautoritären Menschen und dem rebellischen Typ des autoritären Charakters zu unterscheiden. Der ‚Rebell‘ gehe nur ‚pseudo-revolutionär‘ (ebd., S. 328) gegen die Autoritäten vor, die in seinen Augen schwach sind. … Der ‚regressive Rebell‘ (vgl. Nachtwey und Heumann 2019) befreit sich dabei zwar vielleicht von der Autorität etablierter politischer Institutionen und Akteure, eventuell jedoch nur, um sich in diesem Zuge anderen, besseren, weil stärker erscheinenden Autoritäten zu unterwerfen.“ (Schließler et al. 2020, S. 304)

Das Beschwören dunkler Mächte, die das Virus erfinden, verstehe ich als eine unbewusste Dynamik, die entsteht, wenn die Abwehr der Verleugnung und der Projektion nicht ausreicht. Die unbewusst wirkende Ahnung, der Realität eines gefährlichen Virus ausgesetzt zu sein, braucht ein weiteres Abwehr-Ventil: Massendemonstrationen ohne Maskenschutz und Abstand, die zur weiteren Ausbreitung des Virus beitragen: eine Identifizierung mit dem Virus-Aggressor. Alle drei Abwehrvarianten sind Ausdruck der unbewussten Dynamik, der eigenen Machtlosigkeit, einem schwer kontrollierbaren Geschehen gegenüber etwas entgegenzusetzen. Verschwörungserzählungen entstehen in bedrohlichen Situationen, deren Ursachen nicht verlässlich auszumachen und nicht zu beherrschen sind. Körner (2020) erinnert an die Pestepidemie des 14. Jahrhunderts, in der

„Verschwörungstheorien … nach Schuldigen, nach dunklen Mächten [suchen] … Im Falle der großen Pest wurden vor allem die Juden verantwortlich gemacht (‚Brunnenvergifter‘), die im Verdacht standen, als ‚auserwähltes Volk‘, als das sie sich selbst darstellten, die Weltherrschaft anzustreben.“ (Körner 2020, S. 385)

So lassen sich im öffentlichen Raum drastische kollektive Verleugnungen, Projektionen und Identifizierungen mit dem Aggressor beobachten. Mit welchen Abwehr-Gefahren Analytiker und Patient rechnen müssen, wenn radikale Rahmenveränderungen vor allem mit dem Verlust der leiblichen Präsenz einhergehen, soll Gegenstand des nun folgenden dritten Schwerpunkts meiner Arbeit sein. Hauptinteresse ist eine kritische Auseinandersetzung mit den in einem Teil der psychoanalytischen Literatur zur Pandemie formulierten zuversichtlichen Stimmen, in denen die Arrosion des Rahmens zwar benannt, aber (pragmatisch) als überwindbar eingeschätzt wird und die Fortsetzung des analytischen Arbeitens nicht infrage gestellt, sondern manchmal sogar als bereichernd beschrieben wird.

Radikale Veränderungen des analytischen Rahmens

In persönlichen Berichten und Veröffentlichungen wird deutlich, wie verschieden die Setting-Änderungen waren und zum Teil noch sind. Es gibt Analytiker und Analytikerinnen, die seit Ausbruch der Pandemie nur telefonisch oder per Video arbeiten; andere haben live mit Maske weitergearbeitet; wieder andere lehnen grundsätzlich Masken für beide ab, mit der Begründung, es sei unabdingbar für die analytische Arbeit, das Gesicht zu sehen. Inzwischen haben vermutlich die meisten Analytiker, die je nach aktueller Gefahrenlage überwiegend/oder auch live arbeiten, Veränderungen in ihrem Behandlungsraum vorgenommen: Masken, kein Händeschütteln, weiter Abstand zwischen Couch und Sessel, Desinfektionsmittel, Virenfiltergeräte. Der telefonische oder Internet-Kontakt geht mit einer weitreichenden Rahmenveränderung einher, ein Rahmen jenseits dessen, was Bleger (1993, S. 269) einen „idealen Standardrahmen“ nennt, der selbstverständlich da ist und „stumm“ (Bleger 1993, S. 268), und den wir erst wahrnehmen und reflektieren, wenn er Störungen unterliegt. Die Störung des Rahmens in der Pandemie – der Telefon‑/Videokontakt – ist, weil radikal, vermutlich für die meisten Analytiker mit großer Irritation und einem Ringen um das Bewahren der analytischen Haltung verbunden. Die Herausforderungen für die Patienten sind breit gefächert. Manche Patienten brauchen so sehr die körperliche Präsenz, die vertraute Couch, dass sie einen Telefonkontakt ablehnen und es vorziehen, eine auch lange Pause in Kauf zu nehmen. In einem Stundenprotokoll einer Behandlung aus dem International Journal (Anonym 2020, S. 777) erlebt der Patient den Telefonkontakt als „better than nothing“, fühlt sich aber so, als ob er in ein Vakuum spricht: „I am speaking into a vacuum. We are speaking through a tube.“ Anderen Patienten scheint der telefonische Kontakt auf ihrer eigenen Couch eine größere Freiheit zu geben, mehr als sonst über ihre sexuellen oder aggressiven Triebwünsche zu sprechen, weil sie sich ohne die körperliche Nähe zum Analytiker sicherer vor den Gefahren fühlen, die damit einhergehen. Der ausschließliche Kontakt über die Stimme kann sowohl mit großer Intimität als auch mit Fremdheit und Verlorenheit einhergehen. Manche Patienten erleben die Stimme des Analytikers in ihrem Ohr wie ein unangenehmes Eindringen, andere wie eine beruhigende Lautmelodie, die an die frühe Zeit unserer Entwicklung erinnert und Spuren von Wohlbehagen und Sicherheit mit sich bringt.

Vignette: das Virus als Projektionsterrain und die Leere der Analytikerin

Einer meiner Patienten zeigte eindrücklich, wie der durch das Virus erzwungene Telefonkontakt vor Triebgefahren schützen kann, und wie die Übertragungsbewegungen durch das Virus wie durch ein Brennglas verstärkt und abgewehrt werden. Herr L. hatte mich vor drei Jahren wegen zermürbender Ängste aufgesucht, ständig etwas falsch zu machen, Frauen mit seinen Zärtlichkeiten zu bedrängen und Schaden durch Ansteckung (zum Beispiel Aids) anzurichten. Er ist nun durch das Virus in Alarm-Stimmung versetzt und gleichzeitig entlastet, weil er die von außen auferlegten Kontaktbeschränkungen sorgfältig einhält und so von den Gefahren intimer Kontakte befreit ist: Sie sind „verboten“. (Der Patient hat keine Freundin, sondern diverse, sexuelle Begegnungen mit Frauen). Doch er ist auch irritiert, weil er nicht weiß, ob er mit seiner außerordentlich strengen Einhaltung der Regeln seinen Ängsten vor Beschädigung aus dem Weg geht, indem er sich – bis auf den Live-Kontakt zur Analytikerin – eine strikte Kontaktsperre auferlegt hat, verbunden mit massiven Einsamkeitseinbrüchen und Wut. Gleichzeitig entsteht durch die nun entstandene Exklusivität unserer Beziehung – ich bin neben dem Mitbewohner die einzige Kontaktperson – eine Situation, in der die Übertragungsbewegungen hochaufgeladen sind: Die unbewussten Ängste, mir mit seinen erotischen, auch ödipalen Sehnsüchten zu schaden, mich zu infizieren, sind nun dringlich im Raum, ebenso die Wut und Angst, von mir gebunden und eingesperrt zu werden. Die Analytikerin, das Behandlungszimmer werden zum Sehnsuchtsort für Intimität und sind gleichermaßen eine Falle. Doch das Virus erweist sich als Ausweg und wird zum Widerstand gegen diese Übertragungsgefahren. Als sein Mitbewohner an COVID-19 erkrankte, vereinbarten wir, erst einmal telefonisch weiterzuarbeiten. Er ist deprimiert, fühlt sich eingesperrt, scheint aber auch erleichtert, nicht zu mir kommen zu müssen. Er wagt nicht, auch nicht mit Maske, spazieren zu gehen. Das innere Gefängnis ist vom äußeren schwer zu unterscheiden. Ich sage ihm:

Analytikerin (A): Wenn Sie mit Maske spazieren gehen, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Sie jemanden anstecken oder angesteckt werden. Aber Sie sind dennoch unruhig dabei. Ihre tiefe Angst, Schaden anzurichten, jemandem etwas Schlimmes anzutun, wird jetzt durch das Virus wie durch ein Brennglas verstärkt.

Patient (P): Ja, es ist wie eine Echokammer, ich weiß, es ist Blödsinn, nicht rauszugehen, es ist alles so irrational.

A.: Und jetzt müssen Sie auch noch mich schützen, und wir müssen telefonieren, obwohl das für Sie sehr unangenehm ist. Auf der anderen Seite sind Sie vielleicht auch erleichtert, weil Sie über einige intime Dinge telefonisch nicht sprechen können.

Der Patient hatte mir von seiner Angst erzählt, dass andere ihn durch hellhörige Wände hören könnten. Er hat außerdem beim Telefonieren Erinnerungen an frühere Sexplattformen in seiner Pubertät, was mit erdrückenden Schamzuständen und der Angst verbunden war/ist, digital belauscht, ertappt zu werden. Ich fühle mich, obwohl die angedeuteten virtuell-sexuellen Erfahrungen eine eigentümliche Spannung erzeugen, weit weg von ihm, leer, durch das Zurückhalten seiner Einfälle wie abgeschnitten. Der veränderte Rahmen ist für mich wie ein Einbruch in unsere vertrauten Begegnungen. Er kann mir einen Albtraum wegen seiner Ängste, belauscht zu werden, nicht erzählen. Eine Freundin, mit der er einen kurzen Kontakt vom Fenster aus hatte, hätte er so gern zu sich eingeladen, hatte aber panische Angst, sich und dann mich anzustecken. Er ist verzweifelt und weiß nicht mehr, ob es die realen Gefahren des Virus sind, die ihn ans Haus fesseln; ob ich ihn einsperre, fernhalte vom „Leben“, von den Frauen, oder ob es seine alten Ängste sind, mit seiner Triebhaftigkeit Schaden anzurichten, mich anzustecken und krank zu machen.

So werden Ansteckungsgefahr und die damit einhergehenden Einschränkungen zu Schauplätzen der Übertragung und bieten gleichzeitig Schutz vor drohenden Triebgefahren. Die „ureigenen“ Grundkonflikte werden in eine andere Form gegossen, sodass der Analytiker gehalten ist, diese besonderen Übertragungs- und Abwehrschauplätze in seine Deutungsarbeit einzuschließen. Und die Analytikerin hat durch den Einbruch des vertrauten Rahmens mit Zuständen der Leere zu tun und fühlt sich ferngehalten, vom Fluss der Einfälle, die dieser Patient aus Angst und Scham durch den erzwungenen Telefonkontakt noch weit mehr als sonst zurückhalten muss.

Der innere Rahmen des Analytikers und die leere Couch

Israelische Analytiker, die sich nach dem Ausbruch der Pandemie in einer WhatsApp-Gruppe zusammengefunden haben, diskutieren, ob es, da viele Kolleginnen und Kollegen per Zoom arbeiten,

„… überhaupt möglich sei, in einen Zustand der Reverie zu kommen, wenn der Analytiker aufmerksam auf den Bildschirm schaut, auf dem sein eigenes Bild zu sehen ist … Während einige … die Distanz wie ein Verlassenwerden erlebten, verleugneten andere sie: ‚Wir waren nie so nah‘, eine Bemerkung, mit der ein Patient auf das große Bild des Analytikers anspielte.“ (Erlich-Ginor 2020, S. 7, Übers. v. Verf.)

Der beschriebene Zoom-Kontakt ist bemerkenswert, denn er weicht durch die visuelle Dimension des analytischen Paares noch stärker als das Telefon vom üblichen Setting ab; eine irritierende Variante, weil das schutzgebende Aussparen des Blickkontakts entfällt, – vielleicht Ausdruck des gemeinsamen Wunsches, sich wenigsten virtuell „nah“ zu sein? Doch was ist das für eine Nähe? Wir wissen nicht, was dieser Satz des gerade zitierten Patienten bedeutet: „Wir waren nie so nah“. Die Autorin vermutet Verleugnung der Distanz, was naheliegend ist. Aber vermutlich ist diese Verleugnung angesichts einer schwer zu ertragenden Verlassenheit ein überlebensnotwendiger Schutz, und dieser Patient/diese Patientin schafft sich über die Visualisierung des Analytikers auf dem Bildschirm eine Nähe zu ihm, die mit Fantasien angefüllt ist, um die Distanz zu ertragen.

Und der Analytiker? Kann er angesichts der leeren Couch und des radikalen Verlusts der leiblichen Präsenz den Angriffen auf den Rahmen standhalten und seinen inneren Rahmen halten, um die analytische Arbeit fortzusetzen? Wenn wir der Konzeptualisierung von Bleger (1993) und Parsons (2007) folgen, dann ist ein annähernd sicherer innerer Rahmen eine basale Bedingung für die analytische Arbeit. Und immer dann, wenn der äußere Rahmen Störungen unterliegt, wird das Halten des inneren Rahmens in einem noch größeren Maß unabdingbar, um die analytische Arbeit fortzusetzen. Bleger (1993) unterscheidet diesen Rahmen von dem des Patienten. Der Rahmen des Patienten wird von seiner Phantomwelt, das heißt von seinen frühesten Strukturen, vor allem der Abhängigkeit bestimmt. Diese

„… früheste psychische Struktur und Abhängigkeit des Patienten können nur innerhalb des Rahmens des Analytikers analysiert werden. Daher sollte dieser weder mehrdeutig noch veränderlich sein, noch sollte man ihn verändern.“ (Bleger 1993, S. 279)

Churcher verweist neben Bleger auf Civitarese, Churcher, Parsons und andere, die das, was wir den inneren Rahmen nennen, konzeptualisiert haben. Wenngleich sie darunter

„… nicht allesamt dasselbe verstehen, stimmen sie darin überein, dass er vor allem in Situationen, in denen das äußere Setting gestört oder gefährdet ist, für die Aufrechterhaltung oder Wiederbelebung des analytischen Prozesses unabdingbar ist.“ (Churcher 2016, S. 71)

Bleger (1993) subsumiert unter den Rahmen des Analytikers nicht nur die Vereinbarungen mit dem Patienten, die Couch, Frequenz, Stundendauer und so weiter, sondern auch die analytische Haltung und das Deuten. Wenn der äußere Rahmen wie zurzeit Veränderungen unterliegt, sind genau diese letztgenannten Elemente von großer Bedeutung. Parsons (2007) versteht unter dem inneren Rahmen („internal setting“) vor allem eine möglichst große Freiheit für seine eigenen Fantasien, Gefühle und Gedanken in der gleichschwebenden Aufmerksamkeit und eine „emotional availability“ nicht nur für den Patienten, sondern auch für sein eigenes Vorbewusstes/Unbewusstes.

„… wenn der innere Rahmen des Analytikers intakt ist, können Störungen/Verletzungen (infringements) des äußeren Rahmens … in die Analyse eingehen.“ (Parsons 2007, S. 1444, Übers. v. Verf.)Footnote 2

So wertvoll und orientierunggebend diese Gedanken über die Bedeutung des inneren Rahmens für den Analytiker sind, für den gegenwärtigen Verlust des Live-Kontakts im Behandlungszimmer greifen sie nur begrenzt. Dieser Verlust ist radikal. Krzakowski (2020) verweist darauf, dass der virtuelle Kontakt oftmals zu einer großen Müdigkeit des Analytikers führt, weil der libidinöse, an die leibliche Präsenz gebundene, mit Erregung („co-excitation“) einhergehende Kontakt verlorengegangen ist. Ähnlich formuliert Erlich-Ginor (2020, S. 6), dass sich nicht nur viele Patienten vom Analytiker verlassen fühlen, sondern dass auch der Analytiker „… verwaist [ist] durch den physischen Verlust der Patienten. Die Couch ist leer, so wie unsere Zoom-Räume oder Telefonnummern unsere neuen Adressen wurden“. Und auch Zoubek-Windaus zieht aus einigen klinischen Vignetten unter anderem das Fazit, dass

„die Reduktion der Sinneseindrücke … zur Folge [hat], dass sich die leiblich atmosphärischen Schwingungen nicht mehr in der gleichen Weise ausprägen können und sich die träumerische Aktivität und Einstimmung auf die Patienten verändert. Es wird tendenziell mehr „gedacht“ und in Worten mitgeteilt, um die geschilderten Defizite zu überbrücken.“ (Zoubek-Windaus 2021, S. 1171).

So ist das analytische Arbeiten ohne Live-Kontakt über eine lange Zeit nicht nur eine radikale Veränderung des äußeren Rahmens, sondern auch ein Angriff auf den inneren Rahmen des Analytikers. Der Frage, ob Psychoanalyse unter diesen Bedingungen überhaupt möglich ist, begegnet Küchenhoff mit der (vielleicht pragmatisch, vielleicht „realitätsgerecht“) zu nennenden Einschätzung, dass es der Not der Situation geschuldet ist, weiterzuarbeiten und innerhalb des „verbogenen Rahmen(s)“ mit unseren Patienten das zu erkunden, was

„die äußeren Veränderungen in diesem Feld [dem bipolaren Feld der Analyse; Anm. d. Verf.] bewirken, und wie sie andere, vielleicht sogar erhellende neue Gedanken und Gefühle hervorbringen ….“ (Küchenhoff 2020, S. 371)

Auch wenn ich insofern zustimme, als es keine Alternative zum „Weitermachen“ gab, so mischen sich erhebliche Zweifel über die tendenziell zuversichtliche Einschätzung, und zwar genau wegen des treffenden Adjektivs des „verbogenen Rahmens“. Ein verbogener Rahmen ist ein beschädigter Rahmen. Auch Perelberg (2021) kann ich zunächst zustimmen, wenn sie schreibt, dass die Analysen ohne leibliche Präsenz gut „überleben“, wenn beide über ein annähernd stabiles Bild ihrer Beziehung und ihrer gemeinsamen Arbeit verfügen. Dennoch denke ich, dass der Verlust der leiblichen Begegnung mit unseren Patienten ein Einbruch ist. Und ich habe Zweifel, ob es mir gelungen ist, die unvertrauten Rahmenveränderungen in meine analytische Aufmerksamkeit und Deutungen einzuschließen und mit den Patienten in einem intensiven emotionalen Kontakt zu bleiben, das heißt, meinen inneren Rahmen zu schützen. Auch die im International Journal of Psychoanalysis während der Pandemie erschienene klinische Diskussion (Bronstein 2020; Chervet 2020; Ehrlich 2020; Grier 2020) über die analytische Arbeit einer (unbekannt bleibenden) Analytikerin (Anonym 2020) zeigt, wie verwirrend und schwer zugänglich unbewusste Bewegungen des analytischen Paares bleiben, wenn die leibliche Präsenz wegfällt. Es ist ein Dokument darüber, wie Analytiker und Analytikerinnen um den Erhalt ihrer analytischen Haltung ringen. Der innere Rahmen und die analytische Haltung können, wenn überhaupt, annähernd unbeschädigt überleben, wenn wir anerkennen, dass die radikalen Rahmenveränderungen einen Einbruch unseres analytischen Arbeitens bedeuten, und nicht nur eine geringfügige Veränderung. Und vielleicht ist die von Krzakowski (2020) beschriebene Müdigkeit des Analytikers auch Ausdruck einer unbewussten Abwehr, die Realität dieses Einbruchs anzuerkennen.

Erlich-Ginor (2020) hat ihrem Artikel ein Foto von Triest (dem Verfasser des von mir zu Beginn zitierten Artikels) vorangestellt, auf dem eine Matratze auf einem einsam gelegenen, wilden, sommerlichen Rasen zu sehen ist. Dahinter steht ein ausrangierter Sessel. Das Foto ist eins von vielen, die Triest in der ersten Woche des Lockdowns in Israel gemacht hat. Es sind Variationen, in denen jeweils eine Matratze und ein Sessel im Freien abgebildet sind. Dieses Foto ist mit „Wilde Analyse“ betitelt und kreiert, so Erlich-Ginor, „sowohl ein unheimliches Gefühl als auch eine Sehnsucht, zu unserem normalen Arbeitsleben zurückzukehren“. Und es fängt etwas ein, von der Irritation über die „Ver-rücktheit“ des vertrauten Behandlungsraums in eine unbekannte Landschaft, der das analytische Paar ausgesetzt war.