Psychotherapie bei psychotischen Störungen und das Problem der Binnendifferenzierung

Die Ätiopathogenese und die dynamische Entwicklung psychotischer Erkrankungen sind weiterhin nur unzureichend verstanden, insbesondere mit Blick auf den Einzelfall. Zwar existieren verschiedene Zugänge zur Beurteilung der Wahrscheinlichkeit der Ausbildung einer Psychose („Ultra-high-risk“[UHR]-Kriterien, im Wesentlichen die Basissymptome und das Schizotypie-Konstrukt; Übersicht bei Schultze-Lutter et al. 2019), doch sind diese klinisch nur bedingt handlungsleitend. Das aktuell prominenteste Paradigma zur Erforschung psychotischer Störungen ist die biologische Psychiatrie, welche psychotisches Erleben und Verhalten mit zugrunde liegenden genetischen Variationen erklärt. Intraindividuelle Unterschiede in Hirnphysiologie, Erbgut und umweltbedingten Risikofaktoren werden mit Unterschieden in Symptomatik, Störungsverlauf und Ansprache auf verschiedene Neuroleptika in Verbindung gebracht.

Es gibt Hinweise auf einen möglichen Paradigmenwechsel: In der wissenschaftlichen und psychiatrisch-psychotherapeutischen Öffentlichkeit verbreitet sich ein Bewusstsein für die Grenzen pharmakologischer und molekulargenetischer Forschung zur Behandlung psychotischer Erkrankungen. Insbesondere die zum Teil schweren und irreversiblen nachteiligen Wirkungen der Medikation und die mangelnde Adhärenz der PatientinnenFootnote 1 fallen ins Gewicht (Dixon et al. 2010), sowie die Tatsache, dass antipsychotische Medikamente zwar überwältigende Erfahrungen dämpfen, zugrunde liegende physiologische Prozesse aber nicht kurativ verändern. In Reaktion darauf erfährt die Möglichkeit psychotherapeutischer Behandlung – vor allem kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) und vermehrt darin auch das metakognitive Training (MKT) – eine steigende Beachtung. Randomisierte Kontrollgruppenstudien (RCTs) an Gruppen finden verlässlich Belege für ihre Wirksamkeit (Jauhar et al. 2014). Psychotherapie bei psychotischen Störungen wird entsprechend in der S3-Leitlinie, die die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN, 2019) verfasst hat, als integraler Therapiebestandteil empfohlen.

Auch verschiedene psychodynamische Behandlungsmodelle zur Therapie von psychotischen Störungen liegen vor; beginnend vor allem mit Pionierarbeiten der Psychoanalytikerin Frieda Fromm-Reichmann, die das klassische analytische Paradigma zur Behandlung insbesondere der Schizophrenie modifizierte (Bullard 1959). Wirksamkeitsevidenz wurde jedoch lange nur im Rahmen von naturalistischen Studien ohne Kontrollgruppen gefunden. Ein Cochrane Review aus dem Jahr 2001 kam zu dem Schluss, dass keine Hinweise auf Wirksamkeit vorliegen (Malmberg und Fenton 2001). Mittlerweile konnten für einige Behandlungsmethoden Wirksamkeitsbelege erbracht werden (ambulante Intensive Short-Term Dynamic Psychotherapy; Abbass et al. 2015; psychodynamische Kunsttherapie für akut psychotische Patienten, Montag et al. (2014); Supportive Psychodynamic Psychotherapy im stationären Rahmen, Rosenbaum et al. 2012). Weiterhin werden zurzeit zwei RCT-Studien im ambulanten Rahmen durchgeführt (Mentalisierungsbasierte Psychotherapie, Weijers et al. 2016; psychodynamische Psychotherapie der Schizophrenie, Lempa et al. 2016). Insgesamt besteht aus psychodynamischer Sicht weiterhin Nachholbedarf, was Wirksamkeitsstudien für psychosespezifische Therapien betrifft.

Wir argumentieren hier darüber hinaus dafür, den Diskurs mehr auf die genuinen Stärken des psychoanalytischen Zugangs hin zu fokussieren und dabei aber die Anbindung an die „extrapsychoanalytische“ Forschungslandschaft aufrechtzuerhalten. Dies kann geschehen, indem empirische Studien psychoanalytisches „Know-how“ auf bestehende Probleme in einem Forschungsfeld anwenden und dann eine (hoffentlich) überzeugende Demonstration der Möglichkeiten eines psychoanalytisch-verstehenden Zugangs liefern. Wie kann dies im Bereich Psychose aussehen? Ein viel diskutiertes und schwerwiegendes Problem besteht in der Binnendifferenzierung psychotischer Störungen. Wie vielfach beschrieben, wurde mit der Einführung der Deskriptivnosologie psychischer Störungen in DSM und ICD zwar das Problem der Reliabilität gelöst, aber gleichzeitig eine bedeutsame Leerstelle in Bezug auf Prognostik, Indikationsstellung und Behandlungsplanung erzeugt. Das Bemühen um Theorieabstinenz in der Klassifikation hat zu einer Taxonomie mit geringer psychopathologischer Validität und klinischer Nützlichkeit geführt (Schultze-Lutter et al. 2018). Früher vorgelegte differenzierte phänomenologische Typologien von zum Beispiel Bleuler oder Leonhard sind aus der klinischen und der Forschungslandschaft nahezu verschwunden. Heutige ICD- und DSM-Kategorien für psychotische Störungen beschränken sich auf die Benennung von Symptomclustern, deren diagnostische und prädiktive Validität bereits seit der Formulierung der DSM-III-Kriterien infrage gestellt wurde. Diese „neo-Kraepelin’sche“-Nosologie wird als ein zentrales Hindernis für Weiterentwicklungen im Verständnis psychotischer Erkrankungen kritisiert, weil sie weder diagnostische noch prädiktive Validität aufweist (Markon 2013).

Eine mögliche Antwort auf dieses Problem ist die Suche nach empirisch besser fundierten Störungsmodellen, die im Sinne einer dimensionalen Psychopathologie die tradierte, aber nicht mehr haltbare Vorstellung aufgeben, dass sowohl zwischen Störungsbildern als auch zwischen Gesundheit und Krankheit scharfe Grenzen bestünden (Barrantes-Vidal et al. 2015). Solche Modelle lassen sich aus psychoanalytischer Sicht ergänzen, indem die Binnendifferenzierung psychotischer Störungen auch daran ausgerichtet wird, was sich in der klinischen Arbeit als besonders relevant erweist, nämlich dem subjektiven Erleben der Betroffenen und dem Beziehungsgeschehen. Allgemein gesprochen wird anhand klinischer Klassifikation versucht, bei Patientinnen klinisch und/oder ätiologisch bedeutsame Unterschiede wie Gemeinsamkeiten zu identifizieren und auf deren Basis Typologien zu bilden. Unsere forschungsleitende Annahme ist, dass solche bedeutsamen Unterschiede und Gemeinsamkeiten vor allem auch im Beziehungsverhalten und -erleben zu suchen sind.

Beziehungsdynamiken und psychoanalytische Theorie

Die S3-Leitlinie für die Behandlung von Schizophrenie beschreibt, dass Psychotherapie bei jedem Schweregrad und in jedem Stadium der Erkrankung zum Einsatz kommen soll. Es geht also sowohl um Patienten in ambulanter Psychotherapie als auch um Patienten in der Akutpsychiatrie. Die therapeutische Beziehung ist dabei das „Nadelöhr“, durch das jede Intervention gehen muss, damit sie Patientinnen erreicht. Jeder, auch jeder psychiatrische oder pflegerische Patientenkontakt, kann auf Basis einer psychotherapeutischen Haltung erfolgen oder eben nicht. Unter psychotherapeutischer Haltung verstehen Lempa et al. (2016) eine dialogisch orientierte Position, die darauf ausgerichtet ist, mit den Patienten in einen verbindlichen emotionalen Kontakt zu gelangen. Zur Frage, wie dies in der Arbeit mit psychotisch erlebenden Patientinnen gelingen kann, klaffen Lücken in der Forschungsliteratur. Patienten mit psychotischem Erleben haben den Ruf, „schwierig“ zu sein. In ihrer stationären Behandlung gibt es häufig geschlossene Türen, Fixierungen und andere Zwangsmaßnahmen – obschon zunehmend Konzepte Verbreitung finden, die vollständig darauf verzichten (Zinkler und Waibel 2019).

Hier wird ein Aspekt der Beziehungsgestaltung relevant, welcher Praktikern wohlbekannt ist, der in der wissenschaftlichen Diskussion aber auffallend wenig Beachtung findet: Psychotische Phänomene gehen mit heftigen Emotionen einher, Angst an erster Stelle. Diese oft existenziellen Ängste werden auch in der therapeutischen Beziehung erlebbar, und für die Behandelnden besteht die Möglichkeit, sich unbewusst mit diesen Ängsten zu identifizieren (Lempa et al. 2016). Gelingt es uns nicht, diese Ängste selbst anzuerkennen und zu verstehen, laufen wir im Sinne von Agieren und Mitagieren (Klüwer 1983) Gefahr, aus diesen heftigen Gefühlen der Gegenübertragung heraus die therapeutische Beziehung zu gestalten und Behandlungsentscheidungen zu treffen. Wenn wir das Beziehungsverhalten und die Emotionen der Patientinnen nicht verstehen – oder realistischer: uns nicht einmal für sie als prinzipiell verstehbar interessieren – müssen wir ein Festhalten an der Symptomatik, die Verweigerung der Medikamenteneinnahme und vor allem affektiv hochaufgeladenen Eigentümlichkeiten des Beziehungsverhaltens seitens dieser Patienten fast zwangsläufig nur als Ärgernis, als mangelnde Therapiemotivation, „non-compliance“ oder sogar als persönliche Kränkung oder Bedrohung verstehen und entsprechend handeln. Dies wiederrum stellt eine enorme Belastung für die Arbeitsbeziehung dar, einem wichtigen Prädiktor des Therapieerfolgs, auch in der Psychosenpsychotherapie (Shattock et al. 2018).

Um bessere – das heißt: kooperativere und therapeutischere – Beziehungen zu Patientinnen mit psychotischem Erleben aufbauen zu können, ist es notwendig, die idiosynkratische Gestalt ihrer Psychopathologie (sensu Karl Jaspers) zu verstehen (Schultze-Lutter et al. 2018); auch dahingehend, wie und warum sie sich in Beziehungen manifestiert. Küchenhoff (2012) hält es für entscheidend, den psychotisch erkrankten Menschen als Person zu konzeptualisieren. Eine „Psychiatrie der Person … lebt aus der Dialektik von Klassifikation und Einzigartigkeit“ (Küchenhoff 2012; S. 31). Eine rein biologisch ausgerichtete Nosologie leistet nur die Klassifikation, kann die Subjektivität der Kranken aber nicht berücksichtigen. Das psychotische Erleben der Patientin wird so leicht zu einem reinen Defekt, einer Hirnerkrankung mit psychischen Begleiterscheinungen. In einer Klassifikation, die zweifellos notwendig ist, müssen biologische Konzepte dementsprechend ergänzt werden, um solche, die den Weg zur Besonderheit des Einzelfalls eröffnen können. Um sich auf die Sinnhaftigkeit und die existenzielle Bedeutsamkeit einer psychotischen Symptomatik einlassen zu können, ist eine verstehende Psychopathologie nötig, welche sich zum einen in der phänomenologisch-anthropologischen Schule der Psychiatrie, zum anderen in der Psychoanalyse findet.

Vor dem Hintergrund dieser beiden Traditionen fordert Atwood (2017, S. 34 f.) explizit eine verstehende Typologie psychotischer Störungen mit Ausgangspunkt im Erleben der Patienten: „Stellen Sie sich ein diagnostisches Bezugssystem vor, das [anstatt einer Beurteilung aufgrund von Symptomen] individuelle Erfahrungswelten hinsichtlich ihrer gezeigten Inhalte und Themen gruppiert“:

So kann man zum Beispiel erwähnen, dass einige Welten durch ein Thema der persönlichen Vernichtung gekennzeichnet sind, sich in wiederholenden Erfahrungen äußern, ausgelöscht und in ein Nichtsein verwandelt zu sein. Andere Welten weisen einen Hintergrund von Stabilität und Wirklichkeit auf, aber darin existiert eine objektlose Vorahnung, ein Gefühl, bedroht zu sein, aber ohne klares Bild darüber, was die Gefahr sein könnte. Eine dritte Gruppe von Welten, abweichend von den ersten beiden, könnte jene sein, in denen das persönliche Gespür von Echtheit abgetreten wurde, an ein versklavendes Muster von Gefügigkeit, um ansonsten gefährdete Bindungen an emotional bedeutsame Andere zu sichern. (Atwood 2017, S. 34 f.)

Atwood schlägt also eine Typologie aufbauend auf psychoanalytischem Verstehen vor. Sie verläuft entlang der inneren Dilemmata (Mentzos 2015), wie sie innerhalb der Beziehung zu psychotischen Erkrankten erlebbar werden können.

Harder und Rosenbaum (2015) stellen zusammenfassend verschiedene psychoanalytische Modelle dar, mit deren Hilfe psychotische Symptome aus der Beziehung zwischen Klinikerin und Patient heraus als sinnhaft und funktional erschlossen werden sollen (zum Beispiel ein zunächst irrational erscheinender Vergiftungswahn einer Patientin als Regulation des Nähe-Distanz-Dilemmas). Hierzu erscheinen auch empirische Befunde von Bedeutung, die nahelegen, dass in klinischen Stichproben Umweltstressoren (vor allem Missbrauchserfahrungen in der Kindheit) inhaltlich mit der idiosynkratrischen Manifestation wahnhaften Erlebens im Zusammenhang stehen (Reiff et al. 2012).

Trotz dieser weitreichenden Möglichkeiten psychoanalytischer Psychosekonzepte wurden sie bislang fast nur innerhalb der psychoanalytischen Community rezipiert, und ihre klinische Umsetzung wurde zu selten außerhalb der psychoanalytischen Junktimforschung untersucht. Hier besteht auch eine theoretische und epistemologische Kluft: Anders als DSM und ICD versteht die Psychoanalyse Störungen auf Basis von dysfunktionalem Beziehungsverhalten, unbewussten Konflikten und strukturellen Funktionen. Dies führt dazu, dass aus psychoanalytischer Sicht einerseits Unterschiede zwischen Patienten bedeutsam werden, die in ICD und DSM nicht abgebildet werden können – Henkel et al. (2018) konnten dies mittels der OPD für zwei Patientinnen zeigen, die laut DSM exakt dieselben Diagnosen haben – und andererseits Patientinnen mit verschiedenen ICD-Diagnosen eine vergleichbare Psychodynamik haben können. Eine psychoanalytische Nosologie der Psychosen mit ihren prognostischen und behandlungstechnischen Implikationen taucht aber bislang in der internationalen Psychotherapieforschung so gut wie nicht auf. Dies lässt sich nur zum Teil mit dem Desinteresse der Psychotherapieforscher erklären – vielmehr mangelt es noch an Möglichkeiten, ein psychoanalytisches Verständnis von Psychosen mit den Methoden der Psychotherapieforschung zu erfassen, sodass dieses dann zu bestehenden Konzepten und vorliegenden Befunden in Beziehung gesetzt werden könnte.

Die hier vorgestellte Studie soll einen Beitrag zur Anschlussfähigkeit psychodynamischer Konzepte an die Psychotherapieforschung liefern, und zwar mittels der empirisch gestützten Entwicklung einer psychoanalytischen Typologie psychotischer Störungen.

Die Studie „Therapie und Psychodynamik von Patient*innen mit psychotischen Symptomen“

Wie die bisherigen Validierungsstudien und Anwendungen in der Psychotherapieforschung zeigen (Übersicht bei Both et al. 2019), kann die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD) eine Schlüsselfunktion bei der Verbindung von psychodynamischem Denken und empirischer Psychotherapieforschung einnehmen. Die OPD erlaubt die Integration von psychoanalytischen Krankheitskonzepten (Funktionalität der Symptomatik) und Erkenntnismitteln (Verstehen der Funktionalität der Symptomatik durch „In-Beziehung-Stehen“ zum Patienten) mit den methodischen Möglichkeiten der Psychotherapieforschung. Die Studie Therapie und Psychodynamik von Patient*innen mit psychotischen Symptomen (T3PS-Studie) ist ein Versuch, die aus einer solchen Verbindung entstehenden Möglichkeiten nutzbar zu machen. Mittels OPD können einige der zentralen psychodynamischen Spezifika eines Falls erfasst und kategorisiert werden, und zwar auf eine Weise, die es erlaubt, sie dann zu einer Vielzahl weiterer Fälle in Beziehung zu setzen.

Forschungsdesign und Auswertungsstrategien

Die Studie fußt auf der Prämisse, dass einerseits manche klinisch bedeutsamen Unterschiede zwischen Patientinnen von den DSM-Kategorien für psychotische Störungen nicht abgebildet werden und andererseits auch klinisch relevante Ähnlichkeiten durch eine Zuordnung zu verschiedenen DSM-Kategorien verdeckt werden können. Weiterhin wird nicht von einer kategorischen Trennung zwischen psychotischen und nichtpsychotischen Menschen ausgegangen, sondern von einem psychotischen Kontinuum. Dies meint die Annahme eines fließenden Übergangs von gelegentlichen psychotischen Erfahrungen in der Allgemeinbevölkerung über klinisch wenig auffällige Psychosen bis hin zum Vollbild einer schizophrenen Störung. Bisherige Befunde zum mehrdimensionalen Persönlichkeitskonstrukt Schizotypie unterstützen dies (Barrantes-Vidal et al. 2015). Der Fokus der T3PS-Studie liegt auf einer klinischen Stichprobe aus einem möglichst großen Spektrum psychotischer Störungen. Die Datenerhebung erfolgt im Rahmen stationärer Behandlungen in drei kooperierenden Kliniken: dem Ludwig-Noll-Krankenhaus Kassel, dem Asklepios Fachklinikum Göttingen und dem Asklepios Fachklinikum Tiefenbrunn.

Die Datenerhebung und -auswertung folgt einem sequenziell erklärenden Mixed-Methods-Design (Abb. 1): Im ersten Schritt, der quantitativen Datenanalyse, sollen mittels der statistischen Methode der latenten Klassenanalyse („Mixture-modelling“-)Gruppen von Patienten identifiziert werden, die sich hinsichtlich einer Kombination aus Psychodynamik (OPD-Achsen „Beziehung“, „Konflikt“ und „Struktur“) und Symptomatik ähneln. In der anschließenden qualitativen Datenanalyse sollen die psychodynamischen – also vor allem beziehungsbezogenen und innerlich konflikthaften – Charakteristika dieser Gruppen anhand von Transkripten der OPD-Interviews, Posttherapieinterviews und Beziehungsepisodeninterviews (BEI; s. Abschn. „Behandlerinnen-Instrumente“) konzeptuell ausgearbeitet werden. Im Sinne der Grounded-Theory-Methodologie werden zentrale Beziehungsepisoden der Patientinnen Schritt für Schritt mittels Kodierung von Beziehungsthemen und Beziehungserleben analysiert und sowohl innerhalb einer Person als auch interindividuell kontrastiert. Das Ziel ist dabei, dass zunehmend ein Bild der spezifischen Psychodynamik der Patiententypen entsteht. Auf diese Weise erfolgen eine konzeptuelle Ausarbeitung und Modifikation der zunächst statistisch gefundenen Gruppen. Es ergibt sich letztlich eine datengestützte Typologie von Patientinnen mit psychotischem Erleben.

Abb. 1
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Mixed-methods-Design und Auswertungsstrategien

Im letzten Schritt soll eine klinische Validierung der Typologie erfolgen. Zu diesem Zweck sollen detaillierte, systematische Einzelfallanalysen durchgeführt werden, um „Good-outcome“- und „Bad-outcome“-Verläufe bei Patienten, die gemäß der entwickelten Typologie verschieden zugeordnet werden, zu untersuchen. Die Einzelfallanalysen folgen dem „hermeneutic single-case efficacy design“ (HSCED; Elliott 2002). Dieser Ansatz zielt darauf ab, anhand einer Kombination aus quantitativen und qualitativen Ergebnis- und Prozessdaten zu rekonstruieren, ob im Laufe einer Behandlung therapeutische Veränderungen eingetreten sind, und in welcher Weise die Behandlung damit in ursächlichen Zusammenhang gebracht werden kann. Dadurch wird geprüft, inwieweit die psychoanalytisch begründete Typologie etwas von den behandlungsrelevanten Besonderheiten der einzelnen Patientinnen abbildet. Es wäre eine klinische Validierung der entwickelten Typologie erreicht, wenn sich anhand ihrer etwas davon verstehen ließe, warum einzelne Behandlungen mehr oder weniger erfolgreich verlaufen sind. Bei der Beurteilung des Behandlungserfolgs soll nicht nur die Frage nach „clinical recovery“, sondern auch nach „personal und social recovery“ gestellt werden. Die Typologie wäre somit auch ein Werkzeug zur differenziellen Indikation: Bei welchen Patienten lassen welche Behandlungs- und therapeutischen Beziehungscharakteristika welche Unterschiede erwarten?

Zusammenfassung der Fragestellungen

  1. 1.

    Lassen sich anhand psychoanalytischer Konzepte klinisch bedeutsame Unterschiede bei Patienten mit psychotischem Erleben erfassen?

  2. 2.

    Wie unterscheiden sich charakteristische Behandlungsverläufe dieser Patienten?

Datenerhebung und Instrumente

Stichprobe und Einschlusskriterien

Die Rekrutierung von insgesamt n = 100 Patienten erfolgt über drei kooperierenden Kliniken – eine stationär-psychiatrisch-psychotherapeutische Einrichtung und zwei Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie mit regionalem Versorgungsauftrag. Die Patientinnen werden in der Woche nach der Aufnahme auf Station oder, andernfalls, frühestmöglich auf die Studie angesprochen und um Teilnahme gebeten. Nach erfolgter Aufklärung und schriftlicher Einwilligung der Patienten werden sie in die Studie aufgenommen. Folgende Einschlusskriterien wurden festgelegt:

  • Behandlungsdiagnose Schizophrenie, schizophrenieforme Störung, schizoaffektive Störung, wahnhafte Störung, kurze psychotische Störung, nicht näher bezeichnete psychotische Störung oder Bipolar-I-Störung,

  • Alter zwischen 18 und 70 Jahren,

  • keine neuropsychiatrische Erkrankung,

  • keine schwere Suchterkrankung,

  • keine hochakute Selbst- oder Fremdgefährdung,

  • ausreichende Deutschkenntnisse für diagnostische Interviews,

  • informierte Einwilligung in die Studienteilnahme.

Eine psychopharmakologische Behandlung stellt kein Ausschlusskriterium dar, soll aber detailliert dokumentiert werden. Ebenso wird, angesichts der Fragestellung, in Bezug auf Vorbehandlungen und Zeit seit Krankheitsbeginn eine möglichst heterogene Stichprobe angestrebt. Die Ethikkommission der Universität Kassel beurteilte die Durchführung der Studie als ethisch unbedenklich.

Patienten-Instrumente

Das OPD-Interview, das Strukturierte Klinische Interview nach DSM‑5 (SCID-5) und das Interview zur Positive and Negative Syndrome Scale (PANSS) sollen innerhalb der ersten beiden Wochen nach Aufnahme geführt werden. Ein zweites PANSS-Interview und das Client Change Interview (CCI) werden in der Woche vor dem Behandlungsende geführt. Alle Gespräche werden video- oder audiografiert. Die Fragebogenerhebung erfolgt zu Beginn und am Ende der Behandlung sowie 6 Monate nach der Entlassung.

Interview zur Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (Arbeitskreis OPD 2014)

Die OPD bietet eine Systematik, in der klinisch relevante psychodynamische Konstrukte beobachtungsnah kategorisiert werden können. Die drei Achsen Beziehung („Wo entsteht in Beziehungen Leid? Welche Szenen entstehen?“), Konflikt („Was sind die zentralen unbewussten motivationalen Lebensthemen?“) und Struktur („Welche Fähigkeiten zur Selbst‑, Emotions- und Beziehungsregulation stehen zur Verfügung?“) werden von einem zertifizierten Interviewer/Rater anhand eines ca. 90-minütigen psychodynamischen Interviews eingeschätzt und anschließend durch einen zweiten Rater gegengeratet. Insbesondere werden aktuelle und biografische Beziehungsepisoden zu wichtigen anderen erfragt, um ein lebendiges Bild von den Beziehungsrepräsentanzen und den strukturellen Möglichkeiten der Patientinnen zu erhalten. Die Anwendung der OPD auf psychotische Krankheitsbilder wurde bereits erfolgreich erprobt (Uzdawinis et al. 2010), wenngleich es auch zusätzliche Herausforderungen gab. Auch einzelne andere Störungsbilder bringen psychodynamische Besonderheiten mit sich, die eine gewisse Anpassung des Manuals notwendig machen (zum Beispiel OPD-Modul für Abhängigkeitserkrankungen). Die aktuelle Revision der OPD‑2 zur OPD‑3 strebt an, die Besonderheiten psychotischer Störungen stärker zu berücksichtigen. Die T3PS-Studie kann als eine erste Validierung dieser Modifikationen dienen.

Strukturiertes Klinisches Interview nach DSM-5, klinische Version (Beesdo-Baum et al. 2019)

Das SCID-5-CV ist ein Leitfadeninterview zur Erfassung psychischer Störungen entlang den Kriterien des DSM‑5. Es wird von einem geschulten Interviewer durchgeführt. Um den Aufwand für die Patientinnen zu begrenzen, werden nur die Module zu affektiven und psychotischen Störungen erfragt (Module A–D; durchschnittliche Interviewdauer: ca. 50 min).

Positive and Negative Syndrome Scale (Kay et al. 1987)

Die PANSS ist gegenwärtig das meistgenutzte Outcome-Maß in der Psychoseforschung. Ein geschulter Interviewer führt ein ca. 45-minütiges halbstandardisiertes klinisches Interview mit dem Patienten durch. Der Beurteilungszeitraum des ersten Interviews soll stets bis zum Tag der stationären Aufnahme reichen. Anschließend werden positive (Wahn, Halluzinationen etc.) und negative (Affektverflachung, Apathie etc.) Symptome sowie weitere psychopathologische Auffälligkeiten durch zwei zertifizierte Rater anhand von 30 Items eingeschätzt.

Client Change Interview (Elliott 2002)

Als Teil der von ihm entwickelten HSCED-Einzelfallmethodologie führte Elliott das CCI ein. In einem ca. 40-minütigen Posttherapieinterview wird die Patientin im Anschluss an die Behandlung befragt, inwiefern sie die Therapie als hilfreich erlebt hat, welche Veränderungen sie an sich bemerkt hat, und worauf sie diese zurückführt.

Fragebogen

Der Fragebogen enthält neben Items zu soziodemografischen Informationen folgende Instrumente: Brief Symptom Inventory (BSI), Inventar Interpersoneller Probleme – Kurzform (IIP-32), Quality of Life in Schizophrenia (QLiS), Persönlichkeitsinventar für DSM‑5, 100-Item-Version (PID-5), Level of Personality Functioning Scale – Self Report (LPFS-SR), Psychotomimetic States Inventory (PSI), Multidimensional Schizotypy Scale – Brief (MSS-B), Fragebogen zu subjektivem Sinn bei Psychosen (SuSi), Personal Questionnaire (PQ).

Behandlerinnen-Instrumente

Beziehungsepisodeninterviews mit Mitgliedern des Behandlungsteams (BEI; modifiziert nach Luborsky 1998)

Zu jedem Studienpatienten werden nach Abschluss der Behandlung drei ca. 30-minütige Interviews mit Mitgliedern des Behandlungsteams geführt. Die Interviewpartner sind der behandelnde Arzt oder die Bezugstherapeutin und zwei weitere Behandlerinnen. Gemäß der Methodik des BEI wird der Therapeut gebeten, eine Reihe von prägnanten Beziehungsepisoden zu berichten – anders als im ursprünglichen BEI vorgesehen –, aber nicht Episoden von sich selbst mit verschiedenen Personen, sondern verschiedene Episoden von Mitgliedern des Behandlungsteams mit dem Patienten.

Stand der Studie

Die ersten Erhebungen fanden im September 2018 statt. Bis Februar 2020 haben sich 37 Patienten zur Teilnahme an der Studie bereit erklärt. Diese waren im Durchschnitt 41,79 Jahre alt (Standardabweichung [SD] ± 14,49 Jahre), 50 % sind weiblich, 46 % männlich, ein Patient unterzog sich aktuell einer Geschlechtsumwandlung. Es haben 82,1 % der Studienteilnehmer einer Videoaufnahme der Forschungsinterviews zugestimmt, 17,9 % nur einer Audioaufnahme. Der Abschluss der Datenerhebung ist für 2021 geplant.

Ausblick

Die Autoren verbinden mit der hier vorgestellten Studie die Hoffnung, einen Beitrag zur Verbindung von psychoanalytischer Theorie und empirischer Psychotherapieforschung im Feld der Psychosentherapie zu leisten. Diese Verbindung verspricht, für beide Seiten fruchtbar zu sein.

Die Angebotsbreite psychodynamischer Therapie für diese Patientengruppe ist derzeit noch gering, wenn sie auch zugenommen hat. Psychosen sind in vielen Ausbildungsinstituten kein integraler Bestandteil der Lehr- und Supervisionsangebote. Auf der einen Seite zielt das Studiendesign daher darauf ab, die Einsichten psychoanalytischer Theorie und das praktizierte Handlungswissen von psychodynamisch orientierten Praktikerinnen für die Psychosentherapie sicht- und nutzbar zu machen. Ein Teil dieses genuin psychoanalytischen Know-how soll anhand der angestrebten Typologie in den Diskurs um die Behandlung psychotisch erlebender Menschen eingebracht werden. Der OPD kommt dabei eine zentrale Brückenfunktion zu, da anhand ihrer auch entsprechend weitergebildete Nicht-Psychodynamikerinnen nach einem 60- bis 90-minütigen Interview zentrale Momente der Psychodynamik ihrer Patientinnen einschätzen und zu den Forschungsergebnissen in Bezug setzen können. Dadurch können klinisch bedeutsame Unterschiede in der Beziehungsgestaltung und im Beziehungserleben bei psychotisch erkrankten Patienten in den Behandlungs- und Forschungsfokus rücken. Wenn im Rahmen der Typologie, wie bei Atwood (2017) skizziert, neben Konflikt und Struktur auch die wiederkehrenden Beziehungsthemen und die damit assoziierten Ängste eine wichtige Rolle spielen, könnte deutlich werden, wie wir, um in Beziehung zu unseren Patientinnen zu kommen, auch mit ihrer Welt, ihrer subjektiven Sinngebung und nicht zuletzt ihren konflikthaften Emotionen in Berührung kommen. Das bringt mit sich, dass alle Behandelnden – ob Psychoanalytikerinnen oder nicht – sich mit den oft heftigen und schwer verständlichen Manifestationen ihrer Gegenübertragung bei psychotisch erlebenden Patienten auseinandersetzen müssen. Für eine solche Auseinandersetzung erscheint Wissen um die verschiedenen Formen der möglichen Beziehungsdynamiken von Bedeutung zu sein. Wenn wir fragen, wie die Merkmale einer guten therapeutischen Beziehung auf Therapeutenseite realisiert werden können, sind psychotisch erlebende Patienten vielleicht oft tatsächlich „schwierige Patienten“ – schwierig insofern, als dass sie uns unvermittelter und heftiger mit den Grenzen unseres Selbst- und Fremdverstehens konfrontieren. Die mit der T3PS-Studie angestrebte Charakterisierung von Beziehungs- und Erlebenswelten psychotisch erlebender Patientinnen soll daher erkennbar machen, worauf sich die Behandlerinnen in jeder Form der Psychosentherapie in unterschiedlichem Maße einlassen und damit Wege zur Verbesserung ihrer Vorbereitung eröffnen.

Neben diesem möglichen Beitrag der Psychoanalyse zur Psychose- und Psychotherapieforschung können sich umgekehrt Chancen für die Weiterentwicklung psychodynamischer Behandlungskonzepte ergeben. Die T3PS-Studie verfolgt wesentlich einen datengeleiteten „Bottom-up“-Ansatz. Viele Bestandteile der psychoanalytischen Theorie – nicht nur zu Psychosen – müssen hingegen, bei aller Erfahrungsnähe, als vorrangig „top down“ eingestuft werden. Damit geht die Gefahr der wissenschaftlichen Isolierung einher (Sell und Warsitz 2018). Die psychometrischen und hermeneutischen Ergebnisse der Studie hingegen müssen einerseits mit bestehender psychoanalytischer Theorie, andererseits aber auch mit den Befunden anderer Studien in Dialog gebracht werden. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, aber auch die Chance konzeptueller Weiterentwicklung.

Nicht zuletzt soll die T3PS-Studie psychoanalytisch begründete Forschung zu psychotischem Erleben befördern und anschlussfähig machen. Die Studie selbst ist nicht im engeren Sinne Forschung zur Wirksamkeit psychodynamischer Psychosentherapie. Ihre Ergebnisse könnten aber etwas zu künftigen Wirksamkeitsstudien beitragen, auch im Sinne von differenzieller Indikation verschiedener psychotherapeutischer Behandlungsformen, für die es bislang auch jenseits psychodynamischer Methoden keine empirische Datenbasis gibt (Klingberg und Hesse 2018). Anhand eines empirisch gestützten Beitrags zur Binnendifferenzierung dieser Störungen könnten Interventionen gezielt auf ihre Wirksamkeit bei den Patienten geprüft werden, zu denen sie erwartbarerweise passen. Weiterhin besteht die Chance, auch besser jene Patientinnen zu identifizieren und genauer zu verstehen, für die bislang kein passendes psychotherapeutisches Angebot zur Verfügung steht.