Zusammenfassung
Die Frage, ob die institutionalisierte Selbsterfahrung unmöglich oder notwendig ist, knüpft an die Debatte über die Lehranalyse an, die mit Anna Freuds Vortrag auf dem Pariser Kongress 1938 begonnen hat und bis heute andauert. Wie ungelöst diese Problematik weiterhin empfunden wird, zeigt sich an den zahlreichen Publikationen der letzten Jahre, in denen sich gegensätzliche Positionen zum Teil unvereinbar gegenüberstehen. In dieser Arbeit wird versucht, diese verschiedenen Einschätzungen zu diskutieren und aufeinander zu beziehen. Dazu werden zunächst die Schwierigkeiten angeführt, die damit einhergehen, dass es sich bei der Lehranalyse um eine persönliche Analyse unter institutionellen Bedingungen handelt. Darüber hinaus kommt der Frage nach der Macht der Lehranalytiker, aber auch dem institutionellen Neid, der durch die Unterscheidung ausgelöst wird, dass es Analytiker gibt, die Lehranalytiker sind, und solche, die es nicht sind, eine besondere Bedeutung zu. Die Diskussion der mit der Institutionalisierung der Selbsterfahrung verbundenen Schwierigkeiten führt zu der Schlussfolgerung, dass es nicht darum geht, ob die Lehranalyse institutionalisiert wird oder nicht, sondern wie dies geschehen soll. Abschließend werden einige praktische Vorschläge zur Weiterentwicklung der Lehranalyse gemacht, die dazu beitragen können, ihre Qualität zu verbessern.
Abstract
The question whether institutionalized training analysis is impossible or necessary stretches back to a debate that started with Anna Freud’s lecture at the 1938 Paris Congress and continues until today. As evidenced by the large number of publications advocating diverse and partly irreconcilable positions in the last few years, it is still unresolved. This article attempts to discuss these disparate views and set them in relation to each other. It first discusses the difficulties arising from the fact that training analysis is a personal analysis taking place under institutional conditions. Special attention is paid to the question of the training analysts’ power, and to the institutional envy elicited by the distinction made between analysts who are also training analysts, and analysts who are not. The discussion of the difficulties associated with the institutionalization of training analysis leads to the conclusion that the question is not whether, but how training analysis is institutionalized. Finally, several practical suggestions toward the further development and improvement of the quality of training analysis are put forward.
Notes
Beland (2016, S. 424 f.) unternimmt den interessanten Versuch, einen psychoanalytischen Machtbegriff unter Rückgriff auf die Konzepte von Bion (die Macht des Verstanden-werden-Müssens und der leidenschaftlichen Triebe), Erikson (die übergeordnete Macht der Entwicklung) und Bibring (die narzisstische Macht des Vollbringens) zu entwerfen.
Literatur
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Vortrag auf der 17. Jahrestagung des Netzwerks der freien Institute für Psychoanalyse und Psychotherapie zum Thema „Selbsterfahrung(en)“ am 21. April 2018 in Bremen.
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Herrmann, A.P. Institutionalisierte Selbsterfahrung – unmöglich oder notwendig?. Forum Psychoanal 34, 403–418 (2018). https://doi.org/10.1007/s00451-018-0296-0
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