Zusammenfassung
Ausgehend von der Darstellung einer Analysestunde mit einer Analysandin, in der es zu einer schmerzhaft traurigen Wiedererinnerung an einen Zusammenbruch des Raum- und Zeitgefühls in der Kindheit kommt, werden die in diesen Vorgang involvierten psychodynamischen Strukturen untersucht. Dazu gehören sowohl kindliche Abwehrprozesse, die zum Beispiel dazu dienen, durch eine Verschmelzung mit dem Raum und durch das Erleben einer Zeitlosigkeit die unerträglichen Gefühle der Verlassenheit, des Allein-gelassen- Werdens, aushalten zu können als auch die Folgen dieser Erfahrungen für die weitere Entwicklung. Sowohl unter kognitionspsychologischen als auch unter entwicklungspsychoanalytischen Gesichtspunkten werden die Aneignung und die Gefährdung bzw. der Verlust des Zeiterlebens dargestellt. Dabei wird besonders auf die Beziehung zwischen körperlicher Bewegung und Zeitverständnis eingegangen, die für die Bildung des Zeitbegriffs bei Kindern eine wichtige Rolle spielt. Die Vernetzung des kognitiven Zeitverständnisses mit den verschiedenen Verzeitlichungsprozessen auf der topischen, strukturellen, ökonomischen und dynamischen Ebene führt zur Bildung eines Selbst, das im steten Wandel begriffen ist, das heißt, sich immer wieder neu erfinden kann, muss und doch es selbst bleibt.
Abstract
Starting from the presentation of an analytical session with a patient, in which she painfully and sadly remembers a breakdown of her sense of time and space during infancy, the psychodynamic structures involved in this process are examined. On the one hand there are infant defence processes, which for example serve by merging with space and a sense of timelessness in order to cope with the unbearable feeling of being left alone and abandonment and on the other hand there are the consequences of this experience for the future development. From the perspectives of cognitive psychology and of developmental psychoanalysis, the processes of time acquisition by the child and the circumstances of endangering or losing the feeling of time are discussed. In this a special focus is on the relationship between body movement and the comprehension of time, which is somewhat crucial for children in developing an understanding of time. The interconnection of the cognitive understanding of time with the different time processes on the topical, structural, economic and dynamic levels leads to the development of a self, which is in permanent transformation, i.e. which can consistently invent itself anew but must stay nevertheless the same.
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Überarbeiteter Vortrag, gehalten anlässlich der 6. Deutschsprachigen Internationalen Psychoanalytischen Tagung (DIPSAT) vom 25. bis zum 28.09.2014 in Bern.
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Roell, W. Zur Beziehung zwischen körperlicher Bewegung und Zeitverständnis. Forum Psychoanal 31, 231–238 (2015). https://doi.org/10.1007/s00451-015-0204-9
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