Zusammenfassung
Anhand der Erzählung Ein altes Blatt und des Films Easy Rider wird die Ambivalenz gegenüber Fremdem aufgezeigt: Liebe (Xenophilie) und Hass (Xenophobie) markieren die beiden Pole. Es geht dann um die Entwicklung eines psychoanalytischen Begriffs des alltäglich-lebensweltlichen Selbstseins, der diese Ambivalenz abbildet. Dazu wird das Konzept der Identität herangezogen. Über Eriksons Verständnis hinausgehend wird Identität nicht nur von ihrer Leistungsseite her gesehen, der Schaffung einer einigermaßen als geordnet und sinnhaft erfahrenen Welt (Positivität der Identität). Diese Leistung wird zugleich als Abwehr verstanden, wobei das Abgewehrte als der Identität ebenfalls zugehörig betrachtet wird (Negativität der Identität). Identität ist durch eine konflikthafte Dynamik von Selbsterhaltung und Selbstaufhebung geprägt. Im alltäglich-lebensweltlichen Kontext dominiert die Selbsterhaltungstendenz. In der Ambivalenz gegenüber Fremdem spiegelt sich die Dynamik von Selbsterhaltung (Ablehnung) und Selbstaufhebung (Anziehung). Genauer noch ist die Anziehung durch das Fremde als Möglichkeit zu verstehen, das Last- und Zwanghafte der Identitätspositivität zu verändern, d. h. ein Anderer werden zu können.
Auf der Grundlage dieser Überlegungen werden zwei Aspekte der Identität in der Postmoderne dargestellt: die Entwicklung einer adoleszent anmutenden Identitätsstruktur und die Bedeutung der enormen Fülle von Fremdem, die die Globalisierung mit sich bringt. Ein Fallbeispiel zeigt, wie sich eine Angstsymptomatik als Ausdruck eines Identitätswiderstands gegen die durchgreifende Ökonomisierung der Arbeitsumgebung verstehen lässt. Das klinische Material macht deutlich, dass die vorangehenden Überlegungen auch für den klinischen Diskurs von Relevanz sind.
Abstract
On the basis of the tale An Old Leaf and the movie Easy Rider, it will be shown that people have a deep-seated ambivalence towards what they recognize as extraneous to their own way of being. Xenophilia (attraction, love) and xenophobia (repulsion, hatred) are the two poles of the ambivalence. A psychoanalytic concept of being in one’s own everyday life-world in a way which comprehends the ambivalence of xenophilia and xenophobia is formulated. For this purpose the concept of personal identity is used. In contrast to Erikson identity is not restricted to its function of constituting an inner world for the subject, which is at least to a certain degree ordered and meaningful (positivity of identity). Rather, the positivity of identity is functioning defensively as well. What is fended off is not annihilated mentally, but it belongs to the subject’s identity (negativity of identity). Personal identity is thus conceptualized as a dynamic structure with two opposing forces, viz. identity-maintenance (mirrored in xenophobia), and identity-suspension (mirrored in xenophilia).
In postmodernity the structure of identity resembles an adolescent one with the centre of identity shifting from the positivity of identity in the direction of its negativity. Due to processes of globalization there is a growing burden of influences on the subject’s identity that come from beyond the everyday life-world. Case material is presented that shows the clinical relevance of the ideas that have been developed. Severe symptoms of anxiety could be understood as an identity-maintaining resistance by opposing the transformation of the patient’s working conditions for the purpose of short-term economic goals only.
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Überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten anlässlich der DPG-Jahrestagung „Psychoanalyse in Zeiten der Globalisierung. Struktur und Identität im Wandel“, 22.–25. 5. 2008 in München
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Schneider, G. Identität und die Ambivalenz gegenüber Fremdem. Forum Psychoanal 25, 3–13 (2009). https://doi.org/10.1007/s00451-009-0371-7
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