Zusammenfassung
Ziel der Arbeit ist es, die Berührung, den Berührungssinn oder die Haut als dessen Organ phänomenologisch und psychodynamisch zu erfassen sowie zu überlegen, wie der Erfahrungsraum der Berührung sich gestaltet und wie diese Dimension des Fühlens in der psychoanalytischen Psychotherapie sich umsetzt. Die phänomenologischen Analysen folgen v. a. den französischen Phänomenologen und Philosophen Maurice Merleau-Ponty und Emmanuel Levinas, die psychodynamischen Analysen u. a. Didier Anzieu und Danielle Quinodoz. Der Erfahrungsraum der Berührung wird in folgenden Schritten nachgezeichnet: Einleitend wird zu fragen sein, was die Sprache an Erkenntnissen über die Berührung bereithält. In einem zweiten Schritt werden die phänomenologischen Analysen beschrieben, die den Erfahrungsraum der Berührung (synchron) erfassen. Dabei werden die Verbindungen zwischen dem Selbst und dem Objekt (Personen) im Mittelpunkt stehen, aber auch die Qualitäten oder die Regulationsvorgänge, die in der Berührung und durch die Berührung erbracht werden, und schließlich die Zeitlichkeit oder die in dem Prozess der Berührung mitschwingenden Zeiterfahrungen. Die Dimensionen der Unmittelbarkeit, der Wechselseitigkeit und des Abstands werden dabei entscheidend sein; sie werden anhand von exemplarischen Darstellungen von Berührungsmustern in der Kunstgeschichte erläutert. In einem dritten Teil wird eine Fallvignette aus den Behandlungen der Basler Psychotherapeutischen Tagesklinik zum Ausgangspunkt genommen, um zu zeigen, wie die frühesten Berührungserfahrungen das Selbstverständnis bilden und zur Ich- Stärke beitragen, und wie Psychotherapie, durch eine Berührung mit Worten, bei dem Wiederfinden oder dem neuen Entdecken von Berührung hilft. Anstelle einer Zusammenfassung wird ein Gedicht zum Thema der Berührung erneut die Frage stellen, ob Worte berühren können.
Abstract
The present paper analyses the phenomenology and the psychodynamics of touch and skin-mediated interpersonal experiences. The tactile senses constitute a peculiar field of experience that is acquired at the earliest stages of development, persists throughout life and lends itself for being used in psychotherapy. For the phenomenological analyses, the paper refers amongst others to the French phenomenologists and philosophers Maurice Merleau-Ponty and Emmanuel Levinas; the psychoanalytic inquiries owe much to Didier Anzieu and Danielle Quinodoz. The tactile field of experience is surveyed in three main steps. First, the knowledge concerning touch as inherent in language is highlighted. Second, a survey on the phenomenology of touch is given. Touch mediates between self and object, self and environment. It is involved in the regulation of psychic homeostasis, and it engenders a specific experience of temporality. Three dimensions will be analysed in depth: immediacy, mutuality and (optimal) distance. Works of art drawn from different epochs in art history are taken as illustrations of these dimensions. Third, a case study drawn from the Basel Psychotherapeutic Day Hospital is given to show that by “touching verbally” psychotherapy helps to regain (or build up) a sense of touch. Summarizing the paper's main contents, a small poem is cited dealing with the difficulties both in touching and being touched.
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Küchenhoff, J. ... dort, wo ich berühre, werde ich auch berührt. Forum Psychoanal 23, 120–132 (2007). https://doi.org/10.1007/s00451-007-0311-3
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00451-007-0311-3