„Der nur vernünftige Mensch strebt ,aequitas animi‘ (das Gleichmaß der Seele) an. Der Weise aber lernt es, wieder zu lächeln – oft unter Tränen –: Er erkennt in sich, in den anderen, das Kind wieder, das hilflos und gerade darum liebenswert ist“ (Landauer 1926).
Zusammenfassung
Der Autor verknüpft die kabbalistische Auffassung vom Tikun Haolam, der in dem Einsammeln der Scherben einer zerbrochenen Welt und dem Befreien der in den Scherben geborgenen Funken (Nizot) besteht, mit dem Bemühen der Shoah-Überlebenden, trotz der erfahrenen Vernichtung ihrer äußeren und auch inneren Welt sich erneut im Leben zu verankern und ihre zerbrochene Welt wiederherzustellen. Er verbindet hierbei die Überlieferung Rabbi Lurias vom Bruch der Gefäße mit Grunbergers Konzept der Monade und geht davon aus, dass die Überlebenden einer spezifischen antimonadischen Destruktivität ausgesetzt waren, sodass ihre Monade einen Bruch erlitten hatte, der bis in die pränatale Dimension des Narzissmus reicht. Die Restitution geht von den heilgebliebenen Selbstkernen (sog. Seelen- bzw. Lebensfunken) aus, die die Überlebenden nach der Befreiung zu mobilisieren vermochten und sich so neue Monadenstrukturen aufbauen konnten. In der Therapie geht es darum, dass der Analytiker mit dem Überlebenden eine Monade herstellt und bewahrt; dies kann eine teilweise Restitution des beschädigten Narzissmus ermöglichen. Die Wiederherstellung der zerbrochenen Monade bleibt jedoch eine lebenslange Anforderung für den Überlebenden, die von der ihn umgebenden Gesellschaft abhängig ist. Der Tikun ist somit auch eine überindividuelle und sogar mehrgenerationelle Aufgabe.
Abstract
The author connects the cabbalistic conception of the Tikun Haolam—consisting of collecting the shattered pieces of a broken world and liberating the sparks (Nizot) which are encapsulated in those fragments—with the survivors’ endeavour to become anchored anew in life and to restore their shattered world in spite of the experienced destruction of their outer as well as their inner world. In doing this, he links Rabbi Luria’s vision of the broken vessels with Grunberger’s concept of the monad and assumes that the survivors had been exposed to a specific antimonadic destructivity so that their monad suffered a rupture which extends into the prenatal dimension of narcissism. The restitution emanates from the undamaged cores of the self (so-called sparks of the soul or sparks of life) which the survivors were able to mobilize after the liberation and thus were able to build new monadic structures. In therapy it is important that the analyst not only establishes a monad with the survivor but also preserves it. This makes a partial recovery of the damaged narcissism possible. However, the restoration of the broken monad remains a lifelong task for the survivor which is dependent on the society he lives in. The Tikun is therefore a superindividual and even a transgenerational task.
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Erweiterte Fassung des Eröffnungsvortrags auf der DPV-Herbsttagung 2005 in Bad Homburg.
Die mit Buchstaben gekennzeichneten Zitate stammen aus Interviews eines mehrjährigen Forschungsprojektes, an dem der Autor zusammen mit Hillel Klein, Dori Laub, Clemens de Boor, Willy Baumann, Ludwig Haesler und Minka Pradelsky teilgenommen hat.
Den Überlebenden Hillel Klein, meinem Lehrer und Freund, Béla Grunberger, ohne den ich nicht der Analytiker wäre, der ich bin, Hans Keilson, von dem ich noch lerne, als Analytiker Mensch zu sein. In Dankbarkeit.
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Kaminer, I.J. Tikun Haolam—Wiederherstellung der Welt. Forum Psychoanal 22, 127–144 (2006). https://doi.org/10.1007/s00451-006-0279-4
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00451-006-0279-4