Skip to main content
Log in

Rollenübernahme und unbewusste Konflikte

Der Identitätsbegriff an der Schnittstelle zwischen Psychoanalyse und Handlungssoziologie

Role-taking and unconscious conflicts

The concept of identity at the interface between psychoanalysis and behavioural sociology

  • Originalarbeit
  • Published:
Forum der Psychoanalyse Aims and scope

Zusammenfassung

Die Identitätsdiskussion angesichts des gesellschaftlichen Wandels der westlichen Industrienationen scheint, betrachtet man den gesellschaftlichen Diskurs, vorwiegend eine Domäne von Soziologie und Philosophie zu sein. Zugleich wird in den letzten Jahren ein steigendes Interesse von Psychoanalytikern und Psychoanalytikerinnen an der Frage sichtbar, wie der spezifisch psychoanalytische Beitrag zum Identitätskonstrukt in der interdisziplinären Zusammenarbeit aussehen könnte.

In diesem Artikel werden zunächst Eriksons Überlegungen zum Konzept der Identität vorgestellt, weil sie wichtige Stichworte und Rahmenbegriffe geliefert haben. Dann werden verschiedene psychoanalytische Werke auf die in ihnen enthaltenen Annahmen zur Identität präsentiert.

Das Gemeinsame der präsentierten Beiträge, so wird vorgetragen, sind innere Konflikte, die allerdings unterschiedlich verstanden werden. Identität aus psychoanalytischer Sicht bildet sich, so scheint als gemeinsames Verständnis formulierbar zu sein, wenn diese inneren Konflikte im Einzelnen angemessen balanciert werden. Demgegenüber entsteht Identität im handlungssoziologischen Verständnis automatisch im alltäglichen Prozess von Rollenübernahmen in den verschiedensten gesellschaftlichen Feldern. Die Konflikte der Identität werden hier in der Interaktion mit anderen verortet, in den Balancierungsversuchen zwischen „I“ und „me“ (Mead), im ständigen Perspektivenwechsel zwischen den differenzierten Rollenerwartungen durch andere und dem Rollenselbstbild.

Für die interdisziplinäre Vermittlung der beiden Ansätze könnte Brede mit ihrem Versuch wichtig sein, die unterschiedlichen Geltungsbereiche von Psychoanalyse und Soziologie — im Sinne unterschiedlicher „Folien“ der Wirklichkeitskonstruktion — herauszustellen.

Der psychoanalytische Identitätsbegriff beharrt, so wird als Resümee zu zeigen versucht, auf der Notwendigkeit einer Balance zwischen den Triebwünschen auf der einen und den Interaktionsmöglichkeiten von Subjekt und Objekt auf der anderen Seite und könnte auf diese Weise die in der Diskussion vorherrschenden strukturell- und handlungssoziologischen Erklärungsmodelle bereichern.

Abstract

The discussion about identity in the process of social change in Western nations seems to be the domain of sociologists and philosophists. In the last years, however, there has been an increasing interest among psychoanalysts concerning the question what the psychoanalytic contribution to this interdisciplinary discourse could be.

In this article, first Erikson’s considerations to the concept of identity are presented, delivering important entries and the context to the topic. Then, further psychoanalytic authors and their thoughts on identity are presented. Their common ground is the theory of inner conflicts, but they vary in their comprehension of these conflicts. From the psychoanalytic point of view it could be said that the identity of an individual is formed in the moment when the inner conflicts are balanced in an appropriate way.

For sociologists and social behaviourists, however, identity is formed automatically in the daily role-taking process in different social fields. By taking the role of another and balancing it with our own role definition our sense of selfhood can arise. Mead has created the concept of “Me” and “I” to describe the conflicts of this process.

Brede pointed out the different areas of validity both of sociology and psychoanalysis. Her work has been helpful to outline the possible interdisciplinary intermediation of both sciences.

Finally, as a conclusion, the potential contribution of psychoanalysis is described as a concept that could enrich the identity discussion. The individual has to balance intrinsic desires against the needs of social interaction, thus emphasising the discontinuity of nature and culture.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this article

Price excludes VAT (USA)
Tax calculation will be finalised during checkout.

Instant access to the full article PDF.

Notes

  1. Im Jahr 2002 widmeten die Lindauer Psychotherapie-Tage dem Thema erstmalig eine Woche.

  2. Ähnlich Erlich (2003). Aber anders akzentuiert bei Honneth (2000).

  3. Zum narrativen Kontext in der Identitätsbildung s. auch Thomä (2002).

  4. An dieser Stelle argumentiert Körner (2003) inhaltlich ähnlich, ohne dies in Begriffen der Rollentheorie zu tun.

  5. Die Frage, ob es empirische Belege für einen oder mehrere „Identitätskerne“ gibt und wodurch diese sich bilden können (Straus u. Höfer 1997, S. 301), vertiefe ich hier nicht.

  6. Keupp (1997) benennt in diesem Zusammenhang als notwendige soziale Kompetenzen: ausreichende materielle Ressourcen, gute Beziehungsfähigkeit, Fähigkeit zum Aushandeln, Gestaltungskompetenz. Brose und Hildenbrand (1988) stellen die ständige Selbstvergewisserung des eigenen Orts, die Fähigkeit zur Selbstdarstellung und zur Dauerreflexion heraus.

  7. Ermann (2002) formulierte u. a. die Beobachtung, dass Jugendliche zunehmend Anerkennung statt Triebbefriedigung suchen und sich weniger stark auf bestimmte Berufe oder Wertvorstellungen festlegen wollen — die bildungspolitische Forderung nach Flexibilität und Mobilität scheint dort angekommen. Außerdem beschreibt er eine Zunahme der Aggressivierung des Ablösungskonflikts.

Literatur

  • Adorno TW (1955) Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie. In: Gesammelte Schriften 8. Soziologische Schriften I. Suhrkamp, Frankfurt aM, S 42–85

  • Adorno TW (1966) Postscriptum. In: Gesammelte Schriften 8. Soziologische Schriften I. Suhrkamp, Frankfurt aM, S 86–92

  • Anselm S (1979) Angst und Solidarität. Kindler, München

  • Anselm S (1997) Identifizierung und Selbstbehauptung. In: Keupp H (Hrsg) Identitätsarbeit heute. Suhrkamp, Frankfurt

  • Bateson G (1985) Ökologie des Geistes. Suhrkamp, Frankfurt

  • Beck U (1986) Die Risikogesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt

  • Beck U, Beck-Gernsheim E (1994) Riskante Freiheiten. Suhrkamp, Frankfurt

  • Benjamin J (1988) Die Fesseln der Liebe. Fischer, Frankfurt aM (1996)

  • Bohleber W (1996) Identität und Selbst. In: Bohleber W (Hrsg) Adoleszenz und Identität. Internationale Psychoanalyse, Stuttgart, S 268–302

  • Bohleber W (1998) Psychoanalyse, Adoleszenz und das Problem der Identität. Psyche — Z Psychoanal 53:507–529

    Google Scholar 

  • Bohn C, Hahn A (1999) Selbstbeschreibung und Selbstthematisierung: Facetten der Identität in der modernen Gesellschaft. In: Willems H, Hahn A (Hrsg) Identität und Moderne. Suhrkamp, Frankfurt

  • Bollas C (1992) Being a character. Hill & Wang, New York

  • Brede K (1995) Wagnisse der Anpassung. Westdeutscher Verlag, Opladen

  • Brose HG, Hildenbrand B (1988) Biographisierung von Erleben und Handeln. In Brose HG, Hildenbrand B (Hrsg) Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende. Leske & Budrich, Opladen, S 11–33

  • Conzen P (1990) Erik H. Erikson und die Psychoanalyse. Asanger, Heidelberg

  • Conzen P (2002) Wer sich nicht sorgt, stagniert. Forum Psychoanal 18:156–175

    Google Scholar 

  • Dornes M (1993) Der kompetente Säugling. Fischer, Frankfurt aM

  • Dornes M (1998) Das Verschwinden der Vergangenheit. Psyche — Z Psychoanal 53:530–571

  • Erazo N (1997) Entwicklung des Selbstempfindens. Kohlhammer, Stuttgart

  • Erikson E (1956) Identität und Lebenszyklus. Suhrkamp, Frankfurt aM (1966)

  • Erikson E (1962) Lebensgeschichte und historischer Augenblick. Suhrkamp, Frankfurt (1982)

  • Erlich H (2003) Reflexionen über die psychoanalytische Identität. Forum Psychoanal 19:362–377

    Google Scholar 

  • Ermann M (2002) Vorlesung „Identität“. Lindauer Psychotherapie-Wochen, 14.–28. April 2002

  • Fast I (1991) Von der Einheit zur Differenz. Springer, Berlin Heidelberg New York

  • Goffmann E (1977) Asyle. Suhrkamp, Frankfurt

  • Heigl-Evers A, Weidenheimer B (1988) Der Körper als Bedeutungslandschaft. Huber, Bern

  • Honneth A (2000) Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identität. Psyche — Z Psychoanal 54:1087–1109

    Google Scholar 

  • Kennedy R (2003) Die Wiedereinführung der Geschichte in die Psychoanalyse. Psyche — Z Psychoanal 57: 874–888

  • Keupp H (Hrsg) (1993) Zugänge zum Subjekt. Suhrkamp, Frankfurt aM

  • Keupp H (Hrsg) (1997) Diskursarena Identität. In: Keupp H (Hrsg) Identitätsarbeit heute. Suhrkamp, Frankfurt aM, S 11–39

  • Körner J (2003) Acht Thesen zur psychoanalytischen Identität. Forum Psychoanal 19:366–368

    Google Scholar 

  • Krappmann L (1969) Soziologische Dimensionen der Identität. Klett Cotta, Stuttgart

  • Lichtenberg J (1983) Psychoanalyse und Säuglingsforschung. Springer, Berlin (1991)

  • Mead G (1934) Mind, self and society. University of Chicago Press, Chicago (1963)

  • Orange D, Atwood G, Stolorow R (Hrsg) (2001) Intersubjektivität in der Psychoanalyse. Brandes & Apsel, Frankfurt

  • Plänkers T (1995) Kann die Systemtheorie eine Metatheorie für die psychoanalytische Theorie und Praxis sein? Z Psychoanal Theorie Prax 10:119–143

    Google Scholar 

  • Pollak T (1999) Über die berufliche Identität des Psychoanalytikers. Psyche — Z Psychoanal 53:1266–1295

    Google Scholar 

  • Schulze G (1992) Die Erlebnisgesellschaft. Campus, Frankfurt aM

  • Schulze G (2003) Die beste aller Welten. Hanser, München

  • Sennett R (1974) Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Fischer, Frankfurt (1983)

  • Stern D (1985) Die Lebenserfahrung des Säuglings. Klett Cotta, Stuttgart (1992)

  • Stolorow R (1996) Psychoanalytische Behandlung. Ein intersubjektiver Ansatz. Fischer, Frankfurt

  • Stork J (Hrsg) (1988) Das menschliche Schicksal zwischen Individuation und Identifizierung. Fromann, Stuttgart

  • Straus F, Höfer R (1997) Entwicklungslinien alltäglicher Identitätsarbeit. In: Keupp H (Hrsg) Identitätsarbeit heute. Suhrkamp, Frankfurt aM, S 270–307

  • Thomä D (2002) Der bewegliche Mensch. Forum Psychoanal 18:201–223

    Google Scholar 

  • Warsitz RP (2003) Anerkennung und Begehren. Anmerkungen zur Intersubjektivitätstheorie des Subjekts. Psyche — Z Psychoanal 57:343–359

    Google Scholar 

  • Whitebook J (2001) Die Grenzen des intersubjective turn. Eine Erwiderung auf Axel Honneth. Psyche — Z Psychoanal 57:250–261

    Google Scholar 

  • Willems H, Hahn A (Hrsg) (1999) Identität und Moderne. Suhrkamp, Frankfurt

Download references

Interessenkonflikt:

Der korrespondierende Autor versichert, dass keine Verbindungen mit einer Firma, deren Produkt in dem Artikel genannt ist, oder einer Firma, die ein Konkurrenzprodukt vertreibt, bestehen.

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Hans-Joachim Eberhard.

Rights and permissions

Reprints and permissions

About this article

Cite this article

Eberhard, HJ. Rollenübernahme und unbewusste Konflikte. Forum Psychoanal 21, 78–86 (2005). https://doi.org/10.1007/s00451-005-0225-x

Download citation

  • Issue Date:

  • DOI: https://doi.org/10.1007/s00451-005-0225-x

Navigation