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Wir Kriegskinder

Children of World War II—60 Years After

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Forum der Psychoanalyse Aims and scope

Zusammenfassung

Annähernd sechs Jahrzehnte nach dem Kriegsende ist in den letzten Jahren ein Interesse am Schicksal der Generation von nichtjüdischen Deutschen erwacht, die im Zweiten Weltkrieg geboren wurden. Die Gründe für das lang dauernde Wegschauen vom frühen Schicksal dieser Kriegskinder, zumindest in der psychoanalytischen Literatur, wird vor allem in Schuldgefühlen als Folge des Holocaust und in der Gefahr gesehen, Unvergleichbares miteinander zu vergleichen. Dieser Gefahr bewusst, beschreibt der Autor Aspekte des Selbsterlebens und des Verhaltens der Kriegskindgenerationen. Er vertritt die Auffassung, dass die schuldbedingte Unfähigkeit der Erwachsenen zu trauern (Mitscherlich) transgenerational bei den Kriegskindern zu einem inneren Verbot führte, selbst zu fühlen. Dieses bewirkte in den Kriegskindgenerationen eine Pervertierung des Denkens, indem die grauenvollen Erfahrungen zur Normalität erklärt wurden. Hinzu kamen Überlebensschuld und Schuldgefühle über den traumabedingten eigenen Hass. Der Autor beschreibt eine Kriegskindidentität. Diese zeigt sich in einem Mangel an Selbsteinfühlung und Gefühlsferne in Bezug auf eigene Empfindungen. Sie äußert sich in einer gewissen Rücksichtslosigkeit gegenüber sich selbst, einer bestimmten Zähigkeit durchs Leben zu gehen, einer Unauffälligkeit des Funktionierens und in sozialer Angepasstheit. Sie beruht auf einer Fremdheit gegenüber sich selbst, die bewirkt, dass die Betroffenen sich auch gegenüber anderen fremd fühlen und ihnen auch fremd bleiben. In der Behandlung besteht der entscheidende Schritt darin, dass Kriegskinder beginnen, sich als Traumatisierte anzuerkennen, ihre Verleugnung aufzugeben und eine positive, bejahende Kriegskindidentität zu erwerben. Im Wesentlichen bedeutet das, die Fähigkeit zu entwickeln, sich in sich selbst empathisch hineinzuversetzen, mit sich mitzufühlen und Verständnis für sich zu erwerben. Der Weg dahin führt durch Trauer über versäumte Lebenschancen und wird begleitet von der Gefahr, die Behandlung abzubrechen, als wäre alles gar nicht so schlimm.

Abstract

Roughly six decades after the end of World War II an interest in the destiny of the generations of non-Jewish Germans born during the war has arisen during the last few years. The reason for the long-lasting ignorance toward the early destiny of these war-children, at least in psychoanalytic literature, is supposed to lie in feelings of guilt as a consequence of Holocaust, and in the danger to compare incomparable destinies with each other. Conscious of that danger, the author describes these war-generations in regard to some aspects of their self experience and behaviour. He holds the opinion that the inability of the adults to mourn (Mitscherlich), based on guilt, transgenerationally led with the war-children to an inner ban of feeling themselves. This caused a perversion of the thinking in the war-baby generations by gruesome experiences being declared the normality. Survivor’s guilt and guilt felt over trauma-induced self-hatred were additional psychodynamic factors, all together leading to what he calls “war-children identity”. It is characterized by a lack of self understanding and a distance to the own feelings, a certain toughness in coping with one’s life, and social adaptation. It is based on a strangeness to oneself which results in feeling strange also to others and remaining indeed a stranger to them. The decisive step in psychoanalytic therapy implies that war-children start to accept themselves as traumatized, to give up their denial and to acquire a positive war-children identity. This essentially means to develop the ability to be concerned of oneself, to feel empathy for oneself and to gain self-esteem. The way is leading through mourning over missed life chances and is accompanied continuously by the danger to break off therapy as if everything were not that bad at all.

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Notes

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Interessenkonflikt:

Der korrespondierende Autor versichert, dass keine Verbindungen mit einer Firma, deren Produkt in dem Artikel genannt ist, oder einer Firma, die ein Konkurrenzprodukt vertreibt, bestehen.

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Correspondence to Michael Ermann.

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Überarbeitete Fassung des öffentlichen Abendvortrags anlässlich der 53. Lindauer Psychotherapiewochen am 15. April 2003. Gekürzte Fassung im Südwestrundfunk am 10.11.2003.—Die Fußnoten wurden für die Druckfassung aktualisiert.

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Ermann, M. Wir Kriegskinder. Forum Psychoanal 20, 226–239 (2004). https://doi.org/10.1007/s00451-004-0196-3

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