Täglich kommen in allen Bereichen der Wissenschaft neue Erkenntnisse hinzu, die das Gelernte erweitern, komplettieren und hier und da auch korrigieren. Dieser Fortschritt ist willkommen, wir wissen immer besser, wie unsere Welt funktioniert. Aber es kann auch beunruhigen, dass in ein paar Jahren vieles von dem, was heute als gesichert gilt und was wir – manchmal mühsam – gelernt haben, nicht mehr gültig sein wird. Unser Wissen hat wie ein zerfallendes radioaktives Element eine Halbwertszeit, nach ein paar Jahren wissen wir die Hälfte von dem, was wir wissen sollten, gar nicht oder nicht richtig und haben etwas Falsches gelernt! Und noch beunruhigender: Durch die ständige Beschleunigung und Erweiterung der modernen Wissenschaften sinkt die Halbwertszeit unseres Wissens ständig. Umso schneller, je spezialisierter und detaillierter unser Wissen ist. Das Schulwissen hat eine Halbwertszeit von ca. 20 Jahren, Hochschulwissen nur 5–10 Jahre, fachspezifisches Wissen nur noch 2–3 Jahre und besonders hart trifft es die IT-Branche, in der die Halbwertszeit unter 2 Jahren liegt. Das erklärt, warum in der Kardiologie etwa im Bereich genetischer Erkrankungen und Vorhofflimmern die Leitlinien fast nicht mehr aktuell sind, wenn sie nach 2 Jahren Arbeit fertiggestellt worden sind.

Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht eine Erleichterung, dass zumindest in der makroskopischen Anatomie die Uhren etwas langsamer ticken. Als Herr Tawara Herrn Aschoff, seinem Lehrer, seine Erkenntnisse vortrug, dass das bereits bekannte His-Bündel proximal mit einem Knoten an der atrioventrikulären Grenze verbunden sei und sich distal in einen dünnen und einen dicken Schenkel aufzweige, die sich wiederum solange aufzweigen, bis sie die bereits bekannten Purkinje-Fasern erreichen, war das sicherlich eine Sensation für unser Verständnis der elektrischen Erregung des Herzens, und die Hälfte des vorhergehenden Wissens hierzu musste schnell korrigiert werden. Aber das war 1905 … Wenn wir uns also die Anatomie des Herzens anschauen, haben wir das wohlige Gefühl, dass wenigstens hier die Halbwertszeit unseres Wissens verdammt lang ist, vielleicht 100 Jahre, denn die Anatomie ändert sich ja nicht. Wirklich? Unser Verständnis der kardialen Anatomie ändert sich auch, sogar sehr rasch, abhängig davon, was wir mit dem Herzen anfangen wollen. Wenn wir eine atrioventrikuläre nodale Reentry-Tachykardie abladieren wollen, wäre es gut, eine klare Vorstellung vom Koch’schen Dreieck mit der „tendon of Todaro“ zu haben (s. Titelbild); für eine Schrittmacherimplantation wäre es 2022 gut zu wissen, ob man mit der Elektrodenspitze noch auf den septomarginalen Trabekeln oder schon im septoparietalen Recessus liegt. Interventionelle Echokardiographen runzeln ihre Stirn, wenn eine rechtsventrikuläre Schrittmacherelektrode leider nicht in der anteroseptalen Kommissur liegt. Kenner sehen in der Fluoroskopie sofort, ob eine Elektrode in die „mid cardiac vein“ gerutscht ist, erfahrene Elektrophysiologen schütteln bei Betrachtung eines EKGs den Kopf, die Tachykardie kommt wahrscheinlich aus dem LV-Summit und ist damit einer Ablation extrem schlecht zugänglich. Damit nicht genug, Interventionalisten streiten sich, ob es „murales“, „inferiores“ oder „posteriores“ Trikuspidalsegel heißt, und die Freunde des Vorhofohrverschlusses reden von der Coumadin-Ridge und vom Windsock.

Diese Beispiele verdeutlichen, dass es vielleicht gar keine schlechte Idee ist, sich ein bisschen in der kardialen Anatomie upzudaten. Und der Blick hierauf aus der Perspektive eines erfahrenen Elektrophysiologen, nicht der eines Studenten in der Vorklinik, der man beim ersten und vielleicht letzten systematischen Lernen der Anatomie war, hält so manchen Aha-Effekt bereit. Wer sich die besprochenen Strukturen schon jahrelang bei hunderten von Prozeduren in der Fluoroskopie vorgestellt hat (richtig sehen kann man sie ja meist nicht), ist fasziniert, die echte Anatomie vor sich zu sehen und muss seine Vorstellung hier und da korrigieren oder präzisieren.

Den Autoren dieser Ausgabe von Herzschrittmachertherapie & Elektrophysiologie sei an dieser Stelle ganz besonders für die exzellenten Beiträge gedankt. Viele Erläuterungen dürften die Leser, obwohl sie sich täglich mit diesen anatomischen Strukturen beschäftigen, noch nie in dieser Form erreicht haben. Und vor allem haben die wertvollen, farbigen Abbildungen (Riesenkompliment an die Autoren!) das Potenzial, die Vorstellung dessen, was wir auf dem Bildschirm im Herzkatheterlabor doch oft nur vage in Schwarzweiß sehen, zu konkretisieren und hier und da zu korrigieren. Mögen sich die Bilder in die Sehrinde der Elektrophysiologen einbrennen!

Und abschließend noch etwas Versöhnliches: Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) hat die These von der Halbwertszeit unseres Wissens untersucht und korrigiert: Es gibt keinen „Verfall“ des Wissens, sondern eine Präzisierung, Aktualisierung und Erweiterung. Und Wissen, das lange Zeit nicht mehr nachgefragt wird und in Vergessenheit gerät, kann auch einmal wieder plötzlich an Bedeutung gewinnen und brandaktuell werden. Gerade die kardiale Anatomie kann davon ein Lied singen …

Viel Spaß bei der Lektüre wünscht Ihnen

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Carsten W. Israel