Als Einthoven 1905 seinen linken Fuß und sein linkes Bein in ein Wasserbad tauchte, um die elektrischen Ströme seines Herzens abzuleiten, ahnte er wahrscheinlich nicht, wie maßgeblich er die Kardiologie noch in mehr als 100 Jahren beeinflussen würde. Dabei urteilte der britische Physiologe Augustus Desiré Waller, der 1887 erstmals ein Elektrokardiogramm mit Hilfe eines Kapillarelektrometers aufgezeichnet hatte, noch 1911 über diese Methode: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Elektrokardiographie im Krankenhaus irgendwelche häufigere Anwendung findet. Sie wird allenfalls in seltenen und gelegentlichen Fällen genutzt werden, um eine seltene Anomalie der Herzaktion aufzuzeichnen.“

Dass dem nicht so ist, wird in dieser Ausgabe von Herzschrittmachertherapie und Elektrophysiologie dokumentiert. Bei ca. 3 Mio. EKGs, die täglich weltweit aufgezeichnet werden, findet sich über die Jahre wohl bei jedem Arzt, der sich mit dem EKG auseinandersetzt, eine Stromkurve, die spektakulär ist, wenn sie auf einen Betrachter trifft, der etwas damit anfangen kann. Und wenn jemand – optimalerweise in Kenntnis der Klinik des Patienten – den EKG-Veränderungen – auf den Grund geht. Und je mehr man sich einsieht, desto mehr EKGs sind eigentlich ziemlich spektakulär.

Dies illustrieren die 38 Fälle mit 104 EKGs in dieser Ausgabe von H&E. Den Autoren sei an dieser Stelle zum einen gedankt, dass sie solche EKGs sammeln, denn nur so kann ein Befund am Beispiel demonstriert, nachvollzogen und gelernt werden. Und EKG lernen bedeutet in erster Linie, genau hinschauen, ggf. messen, erkennen und beim nächsten Mal wiedererkennen. Zum zweiten gilt den Autoren großer Dank für die didaktisch aufbereiteten Erläuterungen der Befunde, meist anhand mindestens eines weiteren EKGs. So entsteht aus einer simplen Extrasystole das Wissen um eine genetisch determinierte Kanalerkrankung, eine Anhebung der ST-Strecke wird vom Herzinfarkt zur Myokarditis. Und wer flache P‑Wellen, die von T‑Wellen überlagert werden, erkennt, ist beim EKG ohnehin schon auf der Siegerstraße.

Drittens gilt den Autoren Dank dafür, dass sie die Faszination, die vom EKG ausgehen kann, spürbar machen. Zahlreiche EKGs in diesem Heft stellen Befunde dar, von denen man immer mal gehört, die man aber nie „in freier Wildbahn“ gesehen hat. Oder vielleicht gesehen, aber nicht erkannt. Nach mehr als 100 Jahren und mehr als 200.000 Publikationen hat das EKG auch im Jahre 2019 nichts von seiner Tiefgründigkeit und Faszination verloren. Und da intrakardiale Ableitungen, dreidimensionales Mapping, Herzkatheter, Myokardbiopsie, Magnetresonanztomographie und Genetik heute EKG-Interpretationen beweisen oder widerlegen können, steigt die Faszination des EKGs, dieser Dinosaurier-Diagnostik auf einem Stück Millimeter-Papier, heute weiter anstatt nachzulassen. Und auch für eingefleischte EKG-Fans finden sich immer wieder Befunde, die eine Herausforderung darstellen und gerade darum Spaß machen.

Wir wünschen den Lesern viel Spaß und viele Aha-Effekte mit dieser Ausgabe von H&E. Wir würden uns sehr freuen, wenn die EKGs dazu animieren würden, im Alltag Ausschau nach besonderen Befunden zu halten und selbst ähnlich spannende Befunde aufzuheben, was im digitalen Zeitalter ja leichter denn je ist. Und den Spaß am EKG mit anderen zu teilen, gern auch im Rahmen eines Fallberichts in einer zukünftigen Ausgabe von H&E.

Bielefeld und Lüdenscheid, den 31.01.2019

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Carsten W. Israel

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Markus Zarse