Liebe Leserinnen und Leser,

worauf ich hinaus will: Mit Veröffentlichung der neuen „2021 ESC/EACTS Guidelines for the management of valvular heart disease“ ist ganz offensichtlich ein doppeltes gravierendes Dilemma entstanden, das dann mindestens 2 grundsätzliche Fragen aufwirft: Was wird als wissenschaftliche Evidenz angesehen, und wie wird in den verantwortlichen Gremien wissenschaftlicher Fachgesellschaften damit umgegangen? Das eigentliche Dilemma liegt dabei aber nicht in den neuen ESC/EACTS Guidelines, die nach meiner Meinung sehr korrekt und tatsächlich wissenschaftlich evident sind, sondern in dem, was zwischenzeitlich, also nach Erscheinen der „2017 ESC/EACTS Guidelines for the management of valvular heart disease“ für die USA und für Deutschland, erschienen ist.

Also im Detail: Bei „behandlungsbedürftiger“ Aortenstenose empfehlen die ESC/EACTS für Patienten jünger als 75 Jahre mit niedrigem Risiko für SAVR (Surgical Aortic Valve Replacement) oder für Patienten, die nicht für eine transfemorale TAVI (Transcatheter Aortic Valve Implantation) geeignet und operabel sind, die chirurgische Aortenklappenimplantation (SAVR). Für Patienten über (≥)  75 Jahre oder mit hohem Risiko (bzw. ungeeignet) für eine SAVR und geeignet für eine transfemorale TAVI, wird die TAVI empfohlen. Alle anderen Patienten sollen eine SAVR oder eine TAVI erhalten.

So weit so gut.

Sieht man sich jetzt das „Guideline Update on Indications for Transcatheter Aortic Valve Implantation Based on the 2020 American College of Cardiology/American Heart Association Guidelines for Management of Valvular Heart Disease“ an, das zudem zeitlich früher (im Dezember 2020) veröffentlicht wurde, so findet sich hier im Evidenzlevel A eine deutlich abweichende Empfehlungslage mit Altersdenominatoren von 65 und 80 Jahren und kombinierten Lebenserwartungen von 12 Monaten, 10 Jahren und 20 Jahren, also offensichtlich ganz ohne formale Diskussion der Operationsrisiken.

Demzufolge wird SAVR empfohlen für Patienten jünger als 65 Jahre mit einer Lebenserwartung von über 20 Jahren (whoever that is!).

Für Patienten zwischen 65 und 80 Jahren wird SAVR oder TAVI empfohlen, und für Patienten älter als 80 Jahre mit einer Lebenserwartung unter 10 Jahren wird die TAVI empfohlen. Es mag sowieso schwierig sein, diese Gruppe zu kalkulieren, und darüber hinaus wird dann keine Empfehlung für Patienten über 80 Jahre und mit einer Lebenserwartung über 10 Jahren (in logischer Konsequenz müsste es ja auch diese Patienten geben) mehr ausgesprochen, ganz offensichtlich, weil schon genug TAVI-Terrain erobert wurde. In der entsprechenden Publikation heißt es dann unter EVIDENCE BASE …. „Large quantities of data are now available from RCTs (randomized controlled trial), registries and observational studies comparing TAVI with medical therapy as well as SAVR in patients older than 65 years.“

In der Literatur dazu finden sich dann zwar dieselben Studien und Publikationen wie in den ESC/EACTS Guidelines, übrigens aber nur Partner I, Partner II und Corevalve US sowie die Metaanalyse von Siontis aus dem EHJ 2019 und keine der angesprochenen „registries“ und „observational studies“. Der Punkt „durability“ im Zusammenhang mit der „life expectancy“ bis 20 Jahre wird genau so wenig adressiert.

Man wundert sich dann schon, wie dieses Update zustande kommt, wo das mittlere Alter in Partner I, Partner II und Corevalve US doch zwischen 81,5 und 84,5 Jahren liegt und sich der Nachbeobachtungszeitraum auf nur 5 Jahre erstreckt.

Es drängt sich also der substanzielle Eindruck auf, dass diese Updates aus dem FF entwickelt wurde, also wohl eher auf der Basis von „fake facts“. Zu allem Überfluss gibt es dann noch davon, also von den ESC/EACTS Guidelines 2017 und 2021 und dem Guideline Update ACC/AHA abweichende Positionen im DGK-DGTHG-Konsensuspapier von 2020 wohl nur für die deutsche Szene hinsichtlich der Indikationsstellung für SAVR und TAVI mit relevanten Altersgrenzen – man wundere sich – bei dann wiederum 70 und 75 Jahren und einer Bewertung der Lebensperspektive – scheint ja was anderes als Lebenserwartung zu sein. Im Klartext wird SAVR primär für Niedrigrisikopatienten unter (<) 70 Jahren empfohlen, während bei 70- bis 75-Jährigen das Feld offen für TAVI oder AKE ist.

Es stellt sich dann schon die Frage, ob jetzt auf der Basis der 2021 ESC/EACTS Guidelines das DGK-DGTHG-Konsensuspapier wieder überarbeitet werden muss, bei ganz offensichtlichem Widerspruch bezüglich der Diskussionskorridore.

Aber dennoch zum Trost, geteiltes Leid ist halbes Leid.

Oder vielmehr geteiltes Leit ist doppeltes Leid.

Ihr

Jochen Cremer