Einleitung

Die Coronapandemie und der damit verbundene erste Lockdown im Frühjahr 2020 mit seinen massiven Kontakteinschränkungen haben viele Menschen unvorbereitet getroffen. Für die Altenheime und Pflegeeinrichtungen galten besonders strenge Regeln der Kontaktvermeidung, da die Gruppe der Alten als Hochrisikogruppe galt. Bei dieser Altersgruppe handelt es sich um die Generation der „Kriegskinder“, also der Menschen, von denen viele in Deutschland als Kinder den Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Es stellt sich die Frage, wie sie diese die Coronakrise erleben und mit ihr umgehen, und ob sie die Kriegszeit damals mit der jetzigen Krisenzeit in Verbindung bringen: Kehren in der Isolation der Coronatage alte Ängste aus den „Bombennächten“ wieder? Um diese Fragen differenziert beantworten zu können, erscheinen Untersuchungen an zeitgeschichtlich definierten Gruppen, wie etwa den Überlebenden des „Hamburger Feuersturms“ sinnvoll. Die als „Operation Gomorrha“ bezeichneten Luftangriffe der Alliierten im Juli 1943 zerstörten weite Teile der Stadt [7] und haben sich als „Hamburger Feuersturm“ im kollektiven Gedächtnis verankert [10].

Ihrem Erleben und der Frage nach der transgenerationalen Weitergabe war das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms und ihre Familien“ [4] gewidmet, das im Zuge der „Kriegskind-Forschung“ [9] entstand und 60 Zeitzeugen und ihre Familien untersucht hat. Dort zeigte sich bei vielen Zeitzeugen neben typischen posttraumatischen Symptomen (Angst vor Bränden, Albträume, reizassoziierte Überempfindlichkeiten und Ängste) überwiegend eine fortbestehende Grunderschütterung im Sinne einer hintergründigen psychischen Labilität trotz äußerlicher Stabilität durch die Erfahrung im Feuersturm [2]. Ihre Bewältigung wurde stark durch die Erfahrungen der Nachkriegszeit beeinflusst [5].

Das „Erinnerungswerk Hamburger Feuersturm“ (EHF 1943) [www.ehf-1943.de] sammelt als praktische Konsequenz aus diesem Projekt weiter fortlaufend Interviews mit den heute hochbetagten Überlebenden. Mittlerweile wurden im Erinnerungswerk 120 lebensgeschichtliche Interviews von psychodynamisch orientierten Psychotherapeuten durchgeführt. Es handelt sich um die Geburtsjahrgänge 1923–1942; die älteste Interviewte war zum Zeitpunkt des Gesprächs 96 Jahre alt. 14 von ihnen lebten im Heim oder in einer Pflegeeinrichtung. Weiter wird im Erinnerungswerk eine kontinuierliche Gesprächsgruppe für Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms angeboten.

Als die Coronakrise im Frühjahr 2020 diese Arbeit unterbrach, haben wir uns gefragt, wie „unsere Zeitzeugen“ mit der Situation des Lockdowns umgehen, und inwieweit es hier zu einem bedrängenden und möglicherweise destabilisierenden Wiedererinnern der existenziellen Grenzerfahrung im Hamburger Feuersturm gekommen war. Erneut wurden diese Fragen im Lockdown im Dezember 2020 vor den bevorstehenden Weihnachtstagen aufgeworfen. Es stellten sich insbesondere folgende Fragen:

  • Wie geht es den Zeitzeugen gegenwärtig unter den Bedingungen des Lockdowns?

  • Was macht ihnen besonders zu schaffen?

  • Wie schätzen Sie die allgemeine Lage ein?

  • Werden die Zeitzeugen durch Coronakrise und Lockdown an ihre Erfahrungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit erinnert?

Methodik

Telefongespräche

Eine kontinuierliche Gesprächsgruppe mit Zeitzeugen im Rahmen des Erinnerungswerk Hamburger Feuersturm bestand im März 2020 aus 9 Mitgliedern (4 Frauen, 5 Männer). Die Infektionszahlen waren noch relativ gering, es bestand jedoch ein Mangel an Masken und Infektionsmitteln, und Kenntnisse über das Virus waren wenig verbreitet. Am 24.03.2020 führte die Leiterin der Gruppe (S. L.) 7 Telefongespräche, um die Unterbrechung der Gruppe wegen des „Corona-Lockdowns“ anzukündigen und sich nach dem Ergehen der Gruppenmitglieder zu erkundigen. Nach den Telefonaten wurden kurze Gesprächsnotizen angefertigt.

Zahlreiche Äußerungen der Gruppenteilnehmer zeigen die Art der Bezugnahme des Erlebens der Coronakrise zu den Kriegs- und Nachkriegserfahrungen und illustrieren die später in Fragebogen erhobenen Befunde.

Fragebogenuntersuchung im Mai 2020

Im Mai 2020 wurde an alle 120 Zeitzeugen, die bisher im Rahmen des Erinnerungswerks interviewt worden waren, ein Fragebogen verschickt. Zu diesem Zeitpunkt war die erste Welle des Infektionsgeschehens schon deutlich im Abklingen. Es war freilich noch ungewiss, wie „es weitergehen würde“. Der Lockdown hatte schon über 6 Wochen angedauert.

Der Fragebogen bestand aus 23 Fragen zu den Themen des persönlichen Umgangs mit der Krise und dabei erlebten Belastungen, dem Umgang mit der Krise vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen in Krieg und Nachkriegszeit sowie zum gesellschaftlichen Umgang mit der Krise, zu Zukunftssorgen und zu erlebten Stützen. Es wurden 5 Antwortkategorien vorgegeben (sehr schlecht (= 1), schlecht (= 2), mittelmäßig (= 3), gut (= 4), sehr gut (= 5); bzw. nein (= 1), eher nein (= 2), teils-teils (= 3), eher ja (= 4), ja (= 5)). Zu zwei Fragen wurden Freitextantworten erbeten.

Es antworteten 98 (81,7%), 58 Frauen und 40 Männer, darunter 3 Heimbewohner, mit einem mittleren Alter von 86,5 Jahren, SD= ±3,72). Sie entstammten überwiegend den Geburtsjahrgängen 1932–1938 und waren während des Feuersturms 1943 im Mittel 8 Jahre alt gewesen. Insgesamt 5 Bogen (4 %) kamen als unzustellbar zurück, weil die Adressaten mittlerweile verstorben waren.

Dabei erhielten wir von 93 Zeitzeugen (oder 78 %) schon im Zeitraum vom 15. Mai bis zum 20. Juni eine Rückmeldung. Ende Juni sanken die Infektionszahlen deutlich, und es traten erste Grenzöffnungen und Lockerungen in Kraft. Alte Menschen galten freilich weiter als besonders gefährdet.

Fragebogenuntersuchung im Dezember 2020

Mitte Dezember 2020 wurde unter der zweiten Welle der Pandemie ein weiterer Lockdown verordnet. Es standen nun zwar Masken zur Verfügung, und es waren die ersten Impfstoffe entwickelt worden, aber die Infektionszahlen waren massiv angestiegen. Erneut haben wir uns mittels des entwickelten Fragebogens nach dem Ergehen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu erkundigt und dabei einige aktuelle Zusatzfragen hinzugefügt. Auf diese Umfrage antworteten jetzt 77 (64%) der Angeschriebenen, 45 Frauen und 32 Männer mit einem Durchschnittsalter von 86,7 Jahren.

Ergebnisse

Befunde aus den Telefongesprächen

Allen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen schien es generell wichtig, die „Fassung zu bewahren“. In 5 Telefonaten wurde die Kriegszeit thematisiert. Die Gesprächspartner kamen im Umgang mit dem Lockdown auf Haltungen und Erfahrungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit zurück und schienen diese als Folie der Bewältigung, Einordung und Relativierung der Krise zu nutzen. Gelegentlich schienen projektive Elemente bzw. Vorurteile die Bewältigung zu stabilisieren. Im Eindruck der Gruppenleiterin wurden auch untergründige Beunruhigungen und drohende Instabilitäten spürbar, aber auch ein Stolz, dass man schon Schlimmeres erlebt und überstanden hat.

So fühlt sich eine Zeitzeugin (86 Jahre) an die Ausgangssperre 1945 erinnert, „als die Engländer kamen und die Lebensmittelregale leer waren“. Eine andere Zeitzeugin (80 Jahre) verweist auf die in der Kriegs- und Nachkriegszeit eingeprägten Muster und das vorausschauende Anlegen von Vorräten: „Manches muss man jetzt eben hinten anstellen“. Das sei für sie aber kein Problem. Das kenne sie ja noch. Vorräte habe sie immer ausreichend im Keller: „Das steckt in uns, für Krisenzeiten immer Vorsorge zu treffen“. Ein Zeitzeuge (81 Jahre) betont, wie wichtig es ist, auch „Glück“ zu haben, eine Einstellung, der wir in unseren Untersuchungen zur Rückschau auf das Überleben im Feuersturm häufig begegnet sind [3]: „Wenn man in Trümmern liegt, braucht man auch Glück, man kann sich anpassen und improvisieren, aber Glück braucht man auch.“ Er betont auch die Fähigkeit, Mängel auszuhalten. „Es ist ja auch kein Drama, wenn es mal an etwas fehlt.“ Vielleicht lerne die nachfolgende Generation jetzt auch, dass man nicht in Panik geraten müsse, „wenn man mal kein Brot im Haus hat“.

Für einen anderen Zeitzeugen (79 Jahre) ist dagegen der Hunger zentral. Er habe sich immer gesagt: bloß nie wieder hungern. Er ist froh, jetzt nicht hungern zu müssen. Er bezieht sich in seinem Erleben des Lockdowns nicht nur auf den Nahrungsmangel der Nachkriegszeit, sondern auf die „gesamte Kriegszeit“ seit 1943, „da durften wir auch nicht raus“.

Immer wieder werden in den Telefonaten die „Jungen“ erwähnt, die so etwas ja nicht gewohnt seien: „Für die Jungen ist es ja das erste Mal, dass sie zum Nachdenken kommen“, meint eine Zeitzeugin (92 Jahre). Beim Einkaufen in der Kassenschlange habe sie kürzlich eine junge Frau zu ihrer Freundin sagen gehört: „Ich bin so wütend und verzweifelt. Ich hatte eine Theaterkarte, und jetzt fällt das aus“. Da habe sie sich ins Gespräch gemischt: „Nun machen Sie mal nicht so ein Gesicht! Wir haben damals gehungert und die Bomben auf den Kopf gekriegt. Sie haben doch nicht ernsthaft was auszustehen, nur weil die Theatervorstellung ausfällt, mein Kind“. Für einen anderen Zeitzeuge (82 Jahre), der seine Aktivität in Hamburger Schulen durchaus bewusst als eine Art Selbsttherapie begreift, ist es v. a. schwer zu ertragen, dass dies nun unter Coronabedingungen ins Stocken geraten ist.

Analyse der Fragebogen

Tab. 1 zeigt die Ergebnisse des Fragebogenrücklaufs zu beiden Zeitpunkten im Mai und Dezember 2020. Die Frage 11: „Erinnert die gegenwärtige Krise Sie an Ihre Erfahrungen im Hamburger Feuersturm?“ thematisiert die Erfahrungen im Feuersturm. Zu diesem Item wurde die Korrelation mit den anderen Items des Fragebogens berechnet.

Tab. 1 Erleben der Coronapandemie bei Überlebenden des Hamburger Feuersturms (1943) (n = 98) und (n = 77) (Arithmetisches Mittel (m), Standardabweichung (s) Korrelationskoeffizient (Pearson) (r) mit Item 11, p-Werte)

Zum allgemeinen Umgang mit der Coronakrise geben die Befragten in der ersten Umfrage im Mai 2020 an, dass es ihnen gesundheitlich relativ gut geht (m = 3,57). Sie berichten, die „Coronaregeln“ (m = 4,40) genau zu befolgen. Die damit verbundenen Kontakteinschränkungen (m = 4,07) auf sich zu nehmen, ist überwiegend schwergefallen (m = 3,54). Weniger geben die Befragen an, Vorräte angelegt zu haben (m = 2,17). Obwohl sie der „Risikogruppe“ angehören, ist die Angst vor eigener Ansteckung ebenso relativ gering ausgeprägt (m = 2,17). Körperliche oder seelische Symptome werden in noch geringerem Ausmaß auf die Coronakrise zurückgeführt (m = 1,84), zu Schlafstörungen kommt es kaum (m = 1,69), und über vermehrte Ängste wird vergleichsweise wenig berichtet (m = 1,61). Insgesamt stellen sich die Befragten also stabil und wenig beeinträchtigt dar.

Die Durchschnittswerte der Angaben zum historischen Vergleich liegen im mittleren Bereich. Dies gilt sowohl für die Wiedererinnerung an die Nachkriegszeit (m = 2,65) als auch an den Feuersturm (m = 2,35).

Bei den Angaben zum gesellschaftlichen Umgang mit der Krise und zu Zukunftserwartungen stehen wirtschaftliche Sorgen im Vordergrund: Überwiegend wird befürchtet, dass es zu volkswirtschaftlichen Schäden für Deutschland kommt (m = 4,13). Diese belasten (m = 3,08), dabei ist die Sorge um die eigene wirtschaftliche Zukunft weniger ausgeprägt (m = 2,86). Überwiegend wird erwartet, dass Deutschland gut durch die Krise kommen wird (m = 3,94).

Die eigenen Erfahrungen in Kriegs- und Nachkriegszeit werden im Umgang mit der Krise als nützlich erlebt (m = 3,62). Dieser Wert liegt deutlich höher als die Durchschnittswerte der Items 11 und 12, die eine belastende und ängstigende Wiedererinnerung thematisieren.

Analyse der Textantworten in der ersten Befragung (Mai 2020)

Erleben der Kontakteinschränkung

Auf die Frage 7 (Was war das Schwerste bei der Einhaltung der Kontakteinschränkungen?) wurde in 65 Fragebogen geantwortet. Die Inhalte der Antworten ließen sich thematisch wie folgt gruppieren (Tab. 2).

Tab. 2 Freitextangaben zu Frage 7 (65 Fragebogen; 66,3 % der Rücksendungen) (Mai 2020) (Mehrfachantworten möglich)

Die Antworten betonen die Personen, mit denen Kontakte nicht möglich oder unterbunden waren. Besonders schmerzlich wurde erlebt, „dass man sich in der Familie nicht mehr umarmen kann“, ebenso wenn eigene Besuche im Pflegeheim nicht möglich waren.

Hilfe in der Krise

Zu der Frage 22: Gibt es etwas, das Ihnen jetzt in der Krise besonders hilft? gingen in 88 Fragebogen Antworten ein, die sich in folgende Gruppen zusammenfassen ließen (Tab. 3).

Tab. 3 Freitextangaben zur Frage 22 in 88 Fragebogen; (89,8 % der Rücksendungen) (Mai 2020) (Mehrfachantworten möglich)

Neben dem stützenden Erleben durch Kontakte und Gespräche in der Familie steht die Erfahrung eines sozialen Miteinanders im Vordergrund. Weiter nennen die Befragten neben „Wissen und Lebenserfahrung“ häufig positive Lebenseinstellungen als hilfreich. Sie zeigen sich gelassen und optimistisch und geben an, dass die Kriegserfahrung ihnen helfe, das Erleben der Kontakteinschränkung zu relativieren: „Wir hungern und frieren ja nicht“. Natur und Hobby sind weitere häufig genannte Kraftquellen.

Verändern sich die Befunde beim zweiten Lockdown?

In der zweiten Umfrage im Dezember 2020 ergibt sich im Wesentlichen eine Konstanz der Befunde. Die größten Unterschiede gab es bei der Frage 6 (Ist Ihnen die Kontakteinschränkung schwergefallen? – hier stieg der Mittelwert um 0,4 auf m = 3,89) und bei der Frage 13 (Empfinden Sie die Coronakrise im Vergleich zur Kriegs- und Nachkriegszeit als harmlos? – hier sank der Mittelwert um 0,4 auf m = 2,57).

Die Dauer der Krise macht den Zeitzeugen deutlich zu schaffen (m = 3,75). Einsamkeit scheint eher nicht das zentrale Problem zu sein (m = 2,33). Die meisten Zeitzeugen wollen sich impfen lassen (m = 4,0). Mittlere Zustimmung erfahren Fragen nach einer besonderen Belastung durch die bevorstehenden Weihnachtstage (m = 2,69) oder durch das Silvesterfeuerwerk (m = 2,33).

Erleben der Coronakrise vor dem Hintergrund der Feuersturmerfahrung

Bei dem Item 11 (Erinnert die gegenwärtige Krise Sie an Ihre Erfahrungen im Hamburger Feuersturm?) antworteten 13 Befragte auf der höchsten Stufe (5) mit; Ja. Von ihnen wurde bei 11 Befragten dieses Item in der zweiten Befragung erneut auf der höchsten Stufe beantwortet, in einem Fall ist es aber von 5 auf 4 gesunken, und in einem anderen Fall von 5 auf 2. Die Korrelationsberechnungen mit den anderen Items des Fragebogens (Spalte 3 und 7 der Tab. 1) zeigen zu beiden Zeitpunkten bei 3 Variablen eine dem Betrag nach kleine, jedoch signifikante Korrelation mit den Antworten auf Frage 11 (p-Wert < 0,05): Schlafprobleme (0,26) bzw. (0,32), übertriebene Ängste (0,28) bzw. (0,40), Eindruck einer Nützlichkeit der Kriegserfahrungen für die persönliche Bewältigung der Coronakrise (0,26) bzw. (0,24).

Eine stark signifikante Korrelation (0,58) bzw. (0,64) (p-Wert < 0,001) ergibt sich für die Frage nach dem Erinnertwerden an die Nachkriegszeit. Allerdings korrelieren hier meist die niedrigen Werte; die Befragten, die sich durch die Coronakrise nicht an den Hamburger Feuersturm erinnert fühlten, sahen sich auch nicht an die Nachkriegszeit erinnert. Eine weitere signifikante (negative) Korrelation mit dem Erleben, die Coronakrise sei im Vergleich zur Kriegs- und Nachkriegszeit harmlos (−0,3), zeigt sich in der zweiten Befragung nicht mehr (−0,1).

Bezüge zu den Inhalten der lebensgeschichtlichen Interviews

Es stellte sich nun die Frage, welche konkreten Erfahrungen im Feuersturm die 13 Rücksender gemacht haben, die auf die Frage 11 (Erinnert die gegenwärtige Krise Sie an Ihre Erfahrungen im Hamburger Feuersturm?) auf der Endstufe der Skalierung (ja = 5) geantwortet haben. Dazu haben wir in unserer Forschungsgruppe die in den im Erinnerungswerk bereits vorliegenden transkribierten Interviews dieser Rücksender herangezogen und ad hoc zentrale Grundzüge der geschilderten Erfahrungen im Feuersturm und der Kriegs- und Nachkriegszeit auf einer Skala von 0 bis 3 gemeinsam eingeschätzt. Dabei zeigte sich eine massive Belastung dieser Zeitzeugen weit über die eigentliche Todesbedrohung im Feuersturm (m = 1,96) hinaus. Im Vordergrund stehen hier die Folgen der Ausbombung mit der damit verbundenen Entwurzelung (m = 2,38), neben weiteren Nöten und Entbehrungen in der Kriegszeit (m = 1,92) und der Nachkriegszeit (m = 1,92). Nur ein Zeitzeuge dieser Gruppe war vergleichsweise gering belastet.

Diskussion

Unsere explorative Querschnittsstudie gibt einen ersten Einblick in das Erleben der Coronakrise in der Generation der „Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs“. Der hohe Rücklauf der Fragebogen in der Gruppe der Hochbetagten (81,7 %, 64 %) spricht für die subjektive Relevanz der Fragestellung bei den Befragten und ihre Bindung an das Erinnerungswerk. Insgesamt zeigen sich die Überlebenden des Hamburger Feuersturms am Anfang des ersten Coronalockdowns im Frühjahr 2020 wie auch im Dezember 2020 überwiegend gelassen und stabil. Gleichzeitig wird deutlich, dass die verhängten Kontaktbeschränkungen, besonders die Einschränkung des unmittelbaren auch körperlichen Kontakts in der Familie erheblich zu schaffen machen. Die Sorge um die eigene Gesundheit und die Angst vor Ansteckung ist weniger ausgeprägt. Als ein wesentliches Element gut durch die Krise zu kommen, wird eine positive eigene Einstellung gesehen. Möglicherweise werden hier Haltungen im Sinne einer „generationsbedingten Genügsamkeit“ [6] aktiviert, die in der Kriegszeit ausgebildet wurden (z. B. Optimismus als Überlebensprinzip, Ruhe bewahren), aber auch Erfahrung und Wissen werden als wichtig erachtet. Freilich finden wir in den Fragebogen auch eine Untergruppe von ca. 13 % der Antwortenden, die einen erinnernden Bezug zwischen der Feuersturm und Coronaerfahrungen angeben. Unsere Befunde sprechen insgesamt dafür, dass bei schwer betroffenen „Kriegskindern“ des II. Weltkriegs die Kriegserfahrungen in ihrem Selbsterleben als stabilisierendes inneres Referenzsystem zur Bewältigung und Relativierung der Coronakrise dienen können, dass aber auch schmerzhaftes und schwieriges „Wiedererinnern“ vorkommt.

Ausblick

Es erscheint sinnvoll, sich gezielt dem zeitgeschichtlich geprägten Erleben in der Altersgruppe der Hochbetagten zuzuwenden. Dies erscheint umso notwendiger, als z. B. eine groß angelegte nationale Studie zum Erleben der Coronakrise die über 79-Jährigen nicht einbezieht [8]. Ihre kollektive Benennung als „Hochrisikogruppe“ kann diskriminierend wirken und die „Krisenfestigkeit“ der einzelnen Menschen überblenden [1].

Fazit für die Praxis

  • Die befragten Überlebenden des Hamburger Feuersturms schildern sich und ihre persönliche Situation als überwiegend stabil.

  • Vor allem die mit dem Lockdown verbundenen Kontaktbeschränkungen werden als belastend erlebt.

  • Die Kriegserfahrung hilft zur Relativierung der gegenwärtigen Krise.

  • Eine Untergruppe erlebt starke Bezüge zur Feuersturmerfahrung und zu anhaltenden Belastungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit.

  • Generell sollten die Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg in der psychosozialen Betreuung der heute über 80-Jährigen berücksichtigt werden.