Vielfältige Entwicklungen in Gesellschaft und Gesundheitswesen (demografischer Wandel, Fachkräftemangel, Stadt-Land-Gefälle etc.) haben dazu geführt, dass etablierte Konzepte für die Gesundheitsversorgung überdacht werden müssen. Hinzu kommt, dass medizinische Angebote häufig nicht altersgerecht ausgerichtet sind. Dies ist allen in Gerontologie und Geriatrie Tätigen hinlänglich bekannt. Exemplarisch erwähnt seien die nach wie vor unser Gesundheitswesen stark bestimmenden Grenzen zwischen ambulantem und stationärem Sektor [1] oder die mangelnde Verfügbarkeit erprobter therapeutischer Verfahren für bestimmte Patientengruppen (z. B. Psychotherapie für multimorbide, oft in Heimen lebende Menschen [2]).

Vor diesem Hintergrund haben die Herausgeber im vorliegenden Themenschwerpunkt ausgewählte Beiträge zusammengestellt, die auf verschiedenen Ebenen – reichend von der Anwendung bestimmter Behandlungsverfahren bis hin zu systembezogenen Interventionen und Strategien – für die Weiterentwicklung der gesundheitlichen Versorgung alter Menschen aktuell und in der näheren Zukunft bedeutsam sein dürften. Der Fokus liegt dabei auf psychischen Störungen. Zusätzlich haben wir in diesen durch die COVID-19-Pandemie bestimmten Monaten einen Beitrag aufgenommen, der sich mit den in dieser Situation aufgetretenen Herausforderungen für das Pflegesystem auseinandersetzt und damit ein Thema mit offenkundigen Wechselbezügen zu den anderen Beiträgen dieses Schwerpunkts aufgreift.

Mit zunehmender Differenzierung medizinischer und pflegerischer Angebote hat der Stellenwert der Versorgungsforschung in den letzten Jahrzehnten enorm zugenommen. Die Bedeutung dieses Forschungszweigs liegt gerade für Alterspatienten mit ihren in der Regel komplexen Versorgungsbedarfen auf der Hand. Unter dieser Perspektive greifen M. Boekholt et al. ausgewählte Themenbereiche der im Juli 2020 veröffentlichten „Nationalen Demenzstrategie“ (NDS) der Deutschen Bundesregierung auf [3]. Diese reichen von der Entwicklung evidenzbasierter Präventions- und Versorgungskonzepte über die Integration von E‑Health und Telemedizin bis hin zu einer nahe an der Versorgungspraxis agierenden Forschung. Dabei sollte gemäß der NDS bei der Entwicklung zukünftiger Forschungsstrategien einer verbesserten Partizipation aller Beteiligten, explizit auch der Menschen mit Demenz, besondere Aufmerksamkeit gelten.

Seit 2018 existiert nach § 115 Sozialgesetzbuch V (SGB V) die Möglichkeit einer „stationsäquivalenten psychiatrischen Behandlung“ (StäB) für psychisch Kranke mit Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit. Eine StäB, die im gewohnten Lebensumfeld anstelle einer Krankenhausbehandlung üblichen Zuschnitts erfolgt, kann in geeigneten Fällen gerade für alte Menschen beachtliche Potenziale bieten. Etwa dann, wenn aufgrund kognitiver Beeinträchtigungen durch Veränderungen der Umgebung starke Irritationen mit resultierenden Risiken für die psychische Situation der Betroffenen zu befürchten sind [4]. S. Spannhorst und C. Thomas berichten über die Implementierung von StäB in einer Klinik für Gerontopsychiatrie in einer Großstadt und zeigen auf, dass insbesondere Menschen mit Demenz, häufig mit komplizierendem Delir, von dieser Behandlungsform profitieren. Auch wenn eine systematische Evaluation von StäB in der Gerontopsychiatrie noch aussteht, wecken die ersten Erfahrungen beachtliche Hoffnungen und könnten über das Fachgebiet hinaus von Interesse für die Weiterentwicklung der altersmedizinischen Versorgung sein.

Neue Versorgungskonzepte sind auch in der Psychotherapie der Depression dringend erforderlich. C. Tegeler und Koautorinnen zeigen, dass eine größer werdende Bevölkerungsgruppe, nämlich die der gebrechlichen, ans Haus gebundenen betagten Patienten, besonders häufig von einer Depression betroffen sind. Psychotherapeutische Angebote sind für diese Menschen kaum erreichbar. Die Autorinnen identifizieren in ihrem Beitrag Hinderungsgründe für die Behandlung dieser Menschen, weisen aufgrund der vorliegenden Evidenz aber auch auf Mut machende Befunde hin, was die Praktikabilität und Wirksamkeit von spezifischen Behandlungsansätzen angeht.

Anders als in der internistischen Geriatrie standen mobilitätsbezogene Therapien in der Psychiatrie allgemein und speziell in der Gerontopsychiatrie lange Zeit nicht im Fokus des Interesses. Nachdem in den letzten Jahren zahlreiche Studien gezeigt haben, dass körperliche Aktivierung vielfältige therapeutische Effekte auf das zentrale Nervensystem (ZNS) und damit auch auf psychische Prozesse bewirken kann, wurde hier erfreulicherweise eine Neubewertung vollzogen. Diese hat u. a. in S3-Leitlinien für die häufigsten psychischen Störungen ihren Niederschlag gefunden. In diesen werden die Evidenzen für die auf körperliche Aktivierung bezogenen Therapien dargestellt, die somit integraler Bestandteil zeitgemäßer multimodaler Therapiekonzepte geworden sind. Allerdings hinkt die Implementierung im Alltag der Versorgung diesem Wissensstand deutlich hinterher. Vor diesem Hintergrund fasst K. Henkel den aktuellen Kenntnisstand zum Stellenwert und zu Wirkmechanismen der mobilitätsbezogenen Therapien bei der Vorbeugung und Behandlung der häufigsten psychischen Alterserkrankungen zusammen. Um den Patienten im notwendigen Umfang den Zugang zu den genannten Therapien zu ermöglichen, bedarf es neben einer entsprechenden Qualifizierung des therapeutischen Personals auch politischen Aktivitäten, um die erforderlichen Ressourcen für sektorübergreifende Behandlungskonzepte bereit zu stellen.

Die Corona-Epidemie hat das Gesundheitswesen nicht nur vor neue Herausforderungen gestellt, sondern auch bereits vorbestehende Defizite aktueller Versorgungskonzepte für die ältere Bevölkerung in neuem Licht erscheinen lassen. Das beschreibt der Beitrag von C. Kricheldorff insbesondere im Hinblick auf die pflegerische Versorgung. Die Arbeit zeigt, welche Erfahrungen aus der Corona-Epidemie nutzbar gemacht werden können für die Pflege der Zukunft. Die Konsequenzen betreffen die Organisation der Langzeitpflege, die Nutzung digitaler Möglichkeiten, aber auch ethische Fragestellungen.

Insgesamt hoffen wir, dass der Schwerpunkt des aktuellen Hefts einen Überblick über verschiedene Konzepte und Praxismodelle zur Weiterentwicklung der medizinischen und pflegerischen Versorgung alter Menschen mit seelischen Erkrankungen gibt. Deutlich werden folgende Tendenzen:

  • Die medizinische Versorgung der Zukunft wird auch spezialisierte therapeutische Angebote näher an die häusliche Situation und in die Lebenswelt der älteren Bevölkerung bringen müssen.

  • Die Möglichkeiten, die die Digitalisierung bietet, müssen in Zukunft nicht mehr nur für Dokumentation und Abrechnung genützt werden, sondern auch für die praktische Interaktion zwischen älteren Menschen und medizinischem Personal.

  • Notwendige Veränderungen der Strukturen erfordern in vielen Bereichen auch Veränderungen der Haltung der Leistungserbringer im Gesundheitswesen und einen sensiblen Umgang mit neu auftretenden ethischen Fragen.

Die Beiträge bleiben nicht bei einer gründlichen Analyse aktueller Defizite stehen, sondern geben Denkanstöße für zukünftige Wege, stellen Mut machende praktische Ansätze vor.

Wir wünschen eine inspirierende Lektüre.

Walter Hewer und Daniel Kopf