Angesichts der steigenden Mobilität im Privat- und im Arbeitsleben wird es immer weniger selbstverständlich, dass pflegende Angehörige vor Ort leben und sich hauptverantwortlich um ältere hilfebedürftige Personen kümmern können. In diesem Themenschwerpunkt der Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie greifen wir die Pflege und Unterstützung über eine spürbare räumliche Distanz hinweg auf. Grundlage bietet hier das deutsch-schweizerische Projekt „Distance Caregiving: Pflege- und Hilfepotenziale über nationale Distanzen und internationale Grenzen hinweg (DiCa)“, gefördert vom Bundesbildungsministerium im Rahmen der Förderrichtlinie „Soziale Innovationen für Lebensqualität im Alter (SILQUA-FH)“.

Das Thema Pflege und Unterstützung auf Distanz berührt dabei Dimensionen von inter- und intragenerationeller Solidarität, Gesundheit und Wohlbefinden, sozialer Eingebundenheit sowie die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege. Interessanterweise besteht zum Phänomen „Pflege auf räumliche Distanz“ anders als beispielsweise in den USA oder Kanada eine erhebliche Forschungslücke im deutschsprachigen Raum. Ein Grund dafür mag in der geografischen Ausgangssituation der Länder liegen, aber auch in den bereits begrifflich substanziellen Unterschieden bei der Definition von Distance caregiving. Auch in Politik und Wirtschaft scheint das Thema hierzulande bislang kaum wahrgenommen und diskutiert zu sein. Dies suggeriert ein bislang gesamtgesellschaftlich fehlendes Problembewusstsein.

Die Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie bietet aufgrund ihrer interdisziplinären Ausrichtung in der Alternsforschung die Möglichkeit, die vielfältigen Dimensionen von Distance caregiving aufzugreifen und als Themenschwerpunkt zu lancieren. Die Beiträge basieren auf Literaturanalysen zum aktuellen Forschungsstand sowie der Darstellung von Ergebnissen eigener empirischer Untersuchungen. Die Forschenden kommen dabei aus unterschiedlichen disziplinären Hintergründen (u. a. Sozialwissenschaft, Soziale Arbeit, Anthropologie, Soziale Gerontologie, Pflegewissenschaft, Ökonomie, Public Health). Ziel des Themenschwerpunktes ist es, einen Einblick in den aktuellen Diskurs zu Distance caregiving zu bieten und verstärkte Aktivitäten in Forschung, Aus- und Weiterbildung sowie der Praxis anzuregen.

Der erste Beitrag von Annette Franke, Birgit Kramer, Pirkko Marit Jann, Karin van Holten, Amelie Zentgraf, Ulrich Otto und Iren Bischofberger mit dem Titel „Aktuelle Befunde zu ‚distance caregiving‘ – Was wissen wir und was (noch) nicht?“ beschreibt zunächst den aktuellen Stand der nationalen und internationalen Forschungsliteratur zum Thema Pflege bei räumlicher Entfernung. Die Darstellung basiert auf einer systematischen Literaturrecherche und -analyse. Auch wenn sich aus der vorwiegend angloamerikanischen Literatur einige Hinweise zu diesen Pflegearrangements bei räumlicher Distanz ableiten lassen, die auf typische Personenkonstellationen, Unterstützungsleistungen und Herausforderungen hinweisen, so fehlt es dennoch an Studien im deutschsprachigen Raum und fundiertem Wissen beispielsweise über den tatsächlichen Einfluss von Distanz, Barrieren, Konflikten, effektiven Strategien und Lösungsoptionen. Dies gilt für Familienmitglieder in diesen Pflegesettings, aber auch Versorgungseinrichtungen und Arbeitgeber.

Melanie Wagner, Annette Franke und Ulrich Otto untersuchen im zweiten Beitrag, „Pflege über räumliche Distanz hinweg – Ergebnisse einer Sekundäranalyse von Daten des Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE)“, ob es möglich ist, Aussagen über die Prävalenz von pflegenden Angehörigen bei räumlicher Distanz in den einbezogenen Ländern in Europa zu treffen. Auch werden typische Hilfen und sozioökonomische Merkmale in den Blick genommen, im Unterschied zu Angehörigen in räumlicher Nähe. Dabei erfolgen deskriptive Darstellungen sowie multivariate logistische Regressionsanalysen. Im Ergebnis zeigt sich, dass Distance caregiving in Europa kein Randphänomen darstellt, wobei große Länderunterschiede erkennbar sind. Die Ergebnisse verweisen zudem auf teilweise signifikante Unterschiede in Bezug auf Ressourcen, Pflegeleistungen und Lebensqualität zu pflegenden Angehörigen mit geringen Distanzen.

In 3 Beiträgen werden die Ergebnisse von qualitativen Teilstudien im Rahmen des deutsch-schweizerischen Verbundprojekts „Distance Caregiving: Pflege- und Hilfepotenziale über nationale Distanzen und internationale Grenzen hinweg (DiCa)“ präsentiert.

Pirkko Marit Jann, Janina Myrczik, Karin van Holten und Amelie Zentgraf stellen hier in dem dritten Beitrag, „Pflegen auf Distanz? Eine qualitative Interviewstudie mit ‚Distance caregivers‘“, die Sicht der pflegenden Angehörigen bei räumlicher Entfernung dar. Im Rahmen von 49 leitfadengestützten Interviews wurde u. a. untersucht, was Angehörige aus der Distanz leisten, welche Strategien sie für dieses Pflegearrangement entwickeln und welche Rahmenbedingungen sie als hemmend oder förderlich erfahren. Dabei zeigt sich, dass die Angehörigen substanzielle und vielfältige Betreuungs- und Pflegeaufgaben leisten, ein funktionierendes Netzwerk vor Ort bei ihren Nächsten jedoch entscheidend ist. Die Distanz schafft einerseits persönliche Freiräume, stellt gleichzeitig jedoch auch eine zentrale Herausforderung dar, wenn keine klaren oder verlässlichen Informationen über das Versorgungsgeschehen vor Ort verfügbar sind.

Für die Betriebe stellt sich die Frage, inwieweit ihr Portfolio als Arbeitgeber zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf ausreicht, wenn pflegende Mitarbeitende ihre Sorgeaufgaben auf Distanz wahrnehmen. Im DiCa-Projekt wurden hier in 5 Partnerbetrieben (3 Wirtschaftsunternehmen, 2 Träger aus der Gesundheitsversorgung) jeweils n = 4–6 leitfadengestützte Experteninterviews durchgeführt. In dem vierten Beitrag, „‚Distance caregiving‘ – empirische Einblicke aus betrieblicher Perspektive“, stellen Birgit Kramer, Stefanie Engler und Iren Bischofberger die Ergebnisse aus der qualitativen Inhaltsanalyse dieser Interviews vor. So hatten die befragten Betriebe bereits zahlreiche Vereinbarkeitsmaßnahmen etabliert, die Bedeutung von Distance caregiving allerdings bisher nicht explizit im Fokus. Es zeigte sich zudem, dass „Pflege“ (immer noch) ein Tabuthema am Arbeitsplatz darstellt, was auf einen hohen Sensibilisierungsbedarf aller Beteiligten (Geschäftsleitung, Führungskräfte, Mitarbeitende) hinweist. Für Distance caregivers sind dabei eine Kultur des Vertrauens, transparente Informationen und umsichtige Kommunikationsformen besonders wichtig.

Aus dem Blickwinkel der Sozialpolitik wurde in Deutschland die häusliche Versorgung von Pflegebedürftigen mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz und den Pflegestärkungsgesetzen qua rechtlicher Grundlagen gestärkt. Dabei bleibt offen, ob Pflege bei räumlicher Distanz beispielsweise in der Debatte um Pflegeleistungen oder soziale Absicherung von pflegenden Angehörigen sozialpolitisch überhaupt thematisiert wird und ein entsprechendes Bewusstsein in der Politik besteht. In dem fünften Beitrag, „Pflege auf Distanz – ein Thema bei sozialpolitischen Akteur*innen?“, stellen Janina Myrczik und Annette Franke die Ergebnisse von qualitativen Interviews mit 6 Expert*innen in Deutschland vor. Die Interviewpartner*innen stammen aus einschlägigen Fachverbänden, Interessensvertretungen, Institutionen zur Pflegebegutachtung sowie Interessensvertretungen der Arbeitnehmer*innenschaft, der Arbeitgeber*innen und der Wirtschaft. In den Ergebnissen wird deutlich, dass Distance caregiving bei den befragten Expert*innen bislang eine untergeordnete Rolle spielt und sich zahlreiche Aussagen kaum differenzieren lassen, vom allgemeinen Diskurs um pflegende Angehörige. Allerdings nehmen sie das Thema Distance caregiving als zunehmend bedeutsam wahr und fordern u. a. ein erweitertes Verständnis von Pflege, um beispielsweise organisatorische Hilfen. Auch kritisieren die Interviewten u. a. die mangelhafte sozialpolitische Berücksichtigung von Distance caregivers und wünschen sich eine weitere wissenschaftliche Fundierung von Pflege auf Distanz als Argumentationsgrundlage im sozialpolitischen Diskurs.

Als Herausgeber*innen dieses Themenschwerpunktes möchten wir dazu beitragen, dass das Phänomen von Hilfe und Unterstützung von Angehörigen bei spürbarer räumlicher Distanz stärker als bislang fachlich diskutiert wird, und dass Impulse auch politisch und gesellschaftlich aufgegriffen werden. Dabei regen wir auch eine Debatte darüber an, wie neue Unterstützungsarrangements entwickelt werden können, in denen Menschen vor dem Hintergrund unterschiedlicher sozioökonomischer Ressourcen in der Lage sind, Sorge- und Pflegearbeit auch jenseits der Sozialfigur der hochinvolvierten Hauptpflegeperson vor Ort zu leisten.