Liebe Leser,

Sie finden in diesem Heft „Neurogeriatrie“ vier Themenschwerpunktbeiträge, die ausgehend von den typischen neurologischen Befunden der Bewegungsstörung, Balancestörung, Kognitionseinbuße und Dysphagie organübergreifend Aspekte der Funktionalität, Autonomie und Lebensqualität bei alten Patienten behandeln, also „klassisch geriatrisch“ ausgearbeitet sind.

Weshalb diese Vorbemerkung? Sie sollten über die Hintergründe informiert sein: Die Politik (Kuratorium Deutsche Altershilfe und Wilhelmine-Lübke-Stiftung) hatte 1973 den ersten Lehrstuhl für Altersmedizin in Erlangen gestiftet. Heute halten die im Medizinischen Fakultätentag (MFT) zusammengeschlossenen 38 medizinischen Fakultäten in Deutschland 11 Lehrstühle resp. Professuren für Geriatrie vor, wovon 10 internistisch und eine neurologisch geprägt sind. Sieben weitere Ausschreibungen bzw. Berufungsverfahren sind aktuell im Gange.

Auf der nichtwissenschaftlichen, d. h. institutionellen, Klinikebene bilden sich zunehmend häufiger interdisziplinäre geriatrische Zentren unter Mitwirkung der inneren Medizin, der Unfallchirurgie, der Neurologie und auch der Gerontopsychiatrie, dabei mit lokal deutlich unterschiedlicher Akzentuierung.

Droht hier eine Aufsplitterung der Geriatrie? Sprachlich könnte man es meinen, denn auch der Gebrauch von „geriatrischen Determinativkomposita“, wie auch im vorliegenden Titel „Neurogeriatrie“, nimmt im deutschen wie auch im internationalen Schrifttum zu.

Vor diesem Hintergrund führte der Begriff „Neurogeriatrie“ im Herausgeberkreis dieser Zeitschrift zu Diskussionen, die auch (fach-)politisch geprägt waren. Denn die Konzeptionalisierung einer Neurogeriatrie steht in Deutschland sowohl auf der wissenschaftlichen als auch auf der institutionellen Agenda. Allerdings versteht sich die Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie als interdisziplinäres, multiprofessionelles (Psychologie, Soziologie, Biologie, Rechtswissenschaft u. v. a. m.) und v. a. wissenschaftliches Publikationsorgan.

Bei den oben erwähnten geriatrischen Determinativkomposita wird ein klinisches Fachgebiet als Bestimmungswort dem geriatrischen Grundwort vorangestellt („Neurogeriatrie“, „orthogeriatrics“, „psychogeriatrics“ …). Ist dadurch schon wortschöpferisch die Geriatrie hintangestellt? Und erhebt sich nicht auch umgekehrt sofort die Frage nach dem Koch oder Kellner, wenn ein klinisches Fachgebiet das Grundwort für sich selbst beansprucht und die Geriatrie nur noch im altersspezifizierenden Bestimmungswort resp. Adjektiv vorkommt („Alterstraumatologie“, „Gerontopsychiatrie“, „geriatric oncology“, „geriatric oncology“ …)?

Derartige Überinterpretationen der semantischen Relation sind müßig, denn die geriatrischen Determinativkomposita sollen wissenschaftlich nichts anderes sein als der Aufruf zur Interprofessionalität, welche die Geriatrie für den gegenwartsnahen Ausbau ihres längst nicht abgeschlossenen fachlichen Fundaments dringend benötigt.

Das Bemühen der Geriaterin und des Geriaters um ein breitgefächertes Wissen (Supraspezialität) bringt es mit sich, häufiger Fragende und nicht Gefragte zu sein. Hier bedarf es für die Weiterentwicklung des Fachs zahlreicher „Wanderer zwischen beiden Welten“, die insbesondere aus den großen Fachgebieten der inneren Medizin, Allgemeinmedizin, Neurologie und Psychiatrie die für die Geriatrie relevanten Einzelaspekte exzerpieren und dann geriatrisch, d. h. unter den Rahmenbedingungen der geriatrischen Fachspezifität (holistische Sichtweise, Funktionsorientiertheit, Multimorbidität), weiterentwickeln. Genau dieses interprofessionelle Prinzip wird im vorliegenden Themenschwerpunkt mit seinen neurogeriatischen „Up-to-date“-Beiträgen zu Bewegungsstörungen, Balance, Dysphagie und natürlich auch Demenz umgesetzt.

Die also mit den geriatrischen Determinativkomposita einhergehende translationale Kernaufgabe betrifft weniger den klinischen Alltag und die Krankenversorgung. Sie rechtfertigt innerhalb des (noch) überschaubaren Kreises der geriatrischen Fachgemeinschaft im deutschsprachigen Raum auch keine eigenständige Subfachlichkeit. Im Sinne einer harmonischen Weiterentwicklung der Geriatrie handelt es sich vielmehr um einen internationalen akademischen Auftrag für die geriatrischen Fachgesellschaften, dem die Geriatrie auch in Deutschland als ein zunehmend universitär ernst genommenes Fach gerecht werden muss.

Genießen Sie die Lektüre und beteiligen Sie sich am Diskurs!

Ihre

Prof. Dr. med. C. Bollheimer,

Prof. Dr. med. J.M. Bauer,

PD Dr. med. W. Hofmann