Die vorliegende Jubiläumsausgabe der Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie verfolgt den Anspruch, einen Überblick über die aktuellen Themen der Sektionen III und IV in der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG) zu geben und deren Entwicklungslinien zu skizzieren. Aus der Sicht der Sektion IV geschieht dies aus der Perspektive der Kritischen Gerontologie, die deshalb die verbindende Klammer zwischen den verschiedenen Beiträgen darstellt. Den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ einer Kritischen Gerontologie sieht Baars [1] in der Sensibilität für die doppelte Konstitution der Gerontologie: Demnach sei das Alter ein sozialer Untersuchungsgegenstand und der würde eben nicht bloß von den untersuchenden Wissenschaftlern, sondern auch von den Untersuchungsteilnehmern interpretiert. Mit dieser doppelten Konstitution hat es der spezifische Bereich der gerontologischen Forschung, der sich mit der Sozialen Altenarbeit und der Pflege alter Menschen befasst, in besonderer Weise zu tun und für viele ForscherInnen der Sektion IV ist die Kritische Gerontologie deshalb ein wichtiger Bezugspunkt.

Bei einem Großteil dieser Forschungsprojekte handelt es sich um Praxis- oder sogar Handlungsforschung. In Projekten dieser Art sind ältere Menschen schon als Adressaten und Adressatinnen von Altenhilfe oder Pflege konstruiert. Zudem sind häufig (z. T. selbst schon ältere) Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, professionell oder informell Pflegende als Untersuchungsteilnehmer und Untersuchungsteilnehmerinnen involviert. Dieser Forschungskontext geht mit einer gesteigerten Komplexität einher, bietet aber auch besondere Möglichkeiten des Feldzugangs und des Erkenntnisgewinns. Man könnte auch sagen, dass WissenschaftlerInnen bei Forschungen zur Sozialen Altenarbeit und Pflege ganz unmittelbar mit den Personengruppen interagieren, die andere Disziplinen allenfalls in „Laborsituationen“ zu Gesicht bekommen.

Der forschungspraktische Alltag, auch und gerade der Mitglieder der Sektion IV, ist zudem überwiegend davon geprägt, dass die praktischen Arbeits- oder Lehrbelastungen ohnehin immens sind und die interessanten Forschungsarbeiten zusätzlich oder sogar überwiegend als Lehrforschung geleistet werden müssen. Gleichwohl und vielleicht gerade deshalb sind in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche bemerkenswerte Projekte und wichtige Publikationen entstanden. Kongresse, Tagungen und Arbeitskreise boten den Rahmen für Bestandsaufnahmen und wissenschaftliche Auseinandersetzungen. Die Qualität des Erkenntnisfortschritts, der durch Forschungen und Begegnungen dieser Art generiert wird, steht und fällt mit der permanenten Reflexion der oben angedeuteten besonderen Herausforderungen. All das kann hier nicht im Einzelnen gewürdigt werden. Stattdessen geben ausgewählte Mitglieder einen Einblick in die Breite der von der Sektion IV, z. T. gemeinsam mit Mitgliedern anderer Sektionen, bearbeiteten Themen.

Der erste Beitrag des Themenschwerpunkts der Sektion IV trägt den Titel „Soziale Altenarbeit und Soziale Gerontologie“. Kirsten Aner zeigt darin auf, dass der Austausch zwischen zunehmend akademisierter Sozialer Arbeit und mittlerweile etablierter Gerontologie ebenso in zeitgeschichtliche und sozialpolitische Rahmenbedingungen einzuordnen ist wie die Entwicklung der Sozialen Altenarbeit und Pflege. Im Ergebnis plädiert der Beitrag dafür, die theoretischen Schnittstellen zwischen Sozialer Arbeit und Gerontologie, die bisher v. a. auf der Ebene von Konzepten wie „Lebenslagen“, „Lebensläufe“, „Biografie“ und „Generation“ lagen, auf kritisch gerontologische Auseinandersetzung mit Theorien der Sozialen Arbeit auszuweiten.

Im Beitrag 2 „Alter(n)sbildung und Soziale Arbeit“ zeigen Cornelia Kricheldorff und Stefanie Klott die Entwicklungslinien im Bereich der Alter(n)sbildung auf und skizzieren die aktuelle theoretische Verortung der Geragogik als wissenschaftliche Disziplin an der Schnittstelle von Gerontologie, Erziehungswissenschaft und Sozialer Arbeit. Daraus ergeben sich in einer Art Synthese zentrale theoretische Prämissen der Sozialen Gerontologie im Feld der Altersbildung, ebenfalls unter Rückgriff auf die Positionen der Kritischen Gerontologie und v. a. im Hinblick auf die Frage der Partizipation auch wenig bildungsgewohnter älterer Menschen. Dieser Anspruch wird konkretisiert, unter Rückgriff auf die Ergebnisse einschlägiger Forschungsarbeiten und Entwicklungsprojekte, die unterschiedliche Facetten von Bildungsarbeit in verschiedenen gerontologischen Handlungsfeldern zum Ausgangspunkt haben oder diese bewusst methodisch integrieren, auch im Sinne partizipativer Verfahren.

Beitrag 3 nimmt das Thema „Hilfe, Pflege, Partizipation: Anmerkungen zur häuslichen Versorgung bei Pflegebedürftigkeit im Alter“ in den Blick. Josefine Heusinger, Kerstin Hämel und Susanne Kümpers greifen hier potenzielle Versorgungsprobleme aus Sicht pflegebedürftiger Menschen und pflegender Angehöriger auf und verweisen in diesem Kontext ebenfalls, im Sinne einer Kritischen Gerontologie, auf soziale und regionale Ungleichheiten, die sich auch als Schnittstellenprobleme im fragmentierten Angebotssystem zeigen. Kritisch beleuchtet und diskutiert wird auch das aktuell politisch favorisierte Modell der „Sorgenden Gemeinschaften“, das eine Trennung von „care“ und „cure“ vorschlägt. Die ihm zugrunde liegenden Annahmen über die Potenziale von Nachbarschaften und bürgerschaftlich Engagierten in der Pflege sowie seine Folgen für die Pflegeberufe werden ebenso analysiert und ihr möglicher Beitrag zur Lösung der skizzierten Probleme kritisch diskutiert.

Im Beitrag 4 von Harald Rüßler und Elisabeth Heite wird auf das Alter(n) im kommunalen Kontext fokussiert. Unter dem Titel „Kommunen als Orte Sozialer Altenarbeit“ geht es v. a. um die Sicht auf die sich vielerorts vollziehende altersintegrierte (Um‑)Gestaltung von Wohnquartieren, etwa durch die Entwicklung von Quartiers-Netzwerken (d. h. Errichtung lokaler Kooperations‑, Unterstützungs‑, Partizipationsstrukturen). Dabei wird in kritischer Perspektive nach den Gestaltungsmöglichkeiten, Hürden und Grenzen einer gemeinwesen- bzw. sozialraumorientierten Sozialen Altenarbeit gefragt und danach, wie sich gerontologisch begründete Antworten darauf finden lassen.

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Kirsten Aner

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Cornelia Kricheldorff