Zusammenfassung
Vor dem Hintergrund des wissenschaftstheoretischen Diskussionstands wird im ersten Schritt eine Definition von Interdisziplinarität vorgestellt. Dabei werden Erfahrungen aus gerontologischen Längsschnittstudien einbezogen. Letztlich wird für einen Abschied von der Großvokabel „Interdisziplinarität“ plädiert, weil sie überladen ist. Der zweite Schritt skizziert wissenschaftsstrukturelle, sozialpsychologische sowie praktische Barrieren und berücksichtigt ebenfalls Erfahrungen aus der Gerontologie, die dafür sprechen, dass Interdisziplinarität eine „Kultur der Verständigung“ benötigt. Im dritten Schritt wird ein Modell der Interdisziplinarität für die Gerontologie vorgestellt. Anliegen des Beitrags ist es nicht zu diskutieren, ob die Gerontologie eine multi-, inter- oder transdisziplinäre Disziplin ist, sondern wie der Anspruch interdisziplinärer Zusammenarbeit gelingen kann. Interdisziplinarität konstituiert sich nicht allein aufgrund eines Gegenstands (des Alterns) oder eines methodischen Zugangs; sie bildet sich in der Regel erst im gegenseitigen Kontakt einer „fairen Kooperation“ heraus.
Abstract
Philosophy of science is the theoretical background of this article. Firstly, a definition of interdisciplinarity is given, integrating experiences from longitudinal studies in gerontology and arguing for rejecting the large vocable “interdisciplinarity”, because of its overloaded meaning. Secondly, science-oriented, sociopsychological and practical barriers of interdisciplinary work in gerontology are presented, whereby the central statement is that interdisciplinarity is preconditionally dependent on a “culture of understanding”. Thirdly, a model of interdisciplinarity in gerontology is shown. In general, this article does not focus on the question whether gerontology is a multidisciplinary, interdisciplinary or transdisciplinary discipline but how the requirement of interdisciplinarity can be successfully implemented. In conclusion, interdisciplinarity is not established due to the subject (of aging) or a methodological approach but evolves based on reciprocal contact between different disciplines, which can be entitled “fair cooperation.”
Notes
Die hierarchische Variante scheidet aus, denn – ob Physik, Soziologie oder Psychologie – letztlich kann nicht begründet werden, warum die Welt immer nur aus der Perspektive einer bestimmten „Leitwissenschaft“ angesehen werden muss. Wer das möchte, unterläuft in der Konsequenz den bestehenden Pluralismus in der Gerontologie und ignoriert die Eigenständigkeit anderer wissenschaftlicher Zugänge durch das (überholte) Ideal der Einheitswissenschaft.
Literatur
Brandenburg H, Güther H (2015) Gerontologische Pflege. Grundlegung und Perspektiven für die Langzeitpflege. Huber, Bern (im Druck)
Breinbauer IM (2010) Vom Nutzen und Nachteil der (transdisziplinären) Alterns-Forschung für das Leben. In: Breinbauer IM, Ferring D, Haller M, Meyer-Wolters H (Hrsg) Transdisziplinäre Alter(n)sstudien. Gegenstände und Methoden. Königshausen & Neumann, Würzburg S 37–66
Denninger T, van Dyk S, Lessenich, S, Richter A (2014) Leben im Ruhestand: Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft. Transcript, Bielefeld
Feyerabend P (1976) Wider den Methodenzwang. Suhrkamp, Frankfurt a. M.
Fleck L [1935](1980) Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv. Suhrkamp, Frankfurt a. M.
Friesacher H (2008) Theorie und Praxis des pflegerischen Handelns. Begründung und Entwurf einer kritischen Theorie der Pflegewissenschaft. Universitätsverlag Osnabrück, Göttingen
Galison P (2004) Heterogene Wissenschaft: Subkulturen und Trading Zones in der modernen Physik. In: Strübing J, Schulz-Schaeffer I, Meister, M, Gläser J (Hrsg) Kooperation im Niemandsland. Neue Perspektiven für die Zusammenarbeit in Wissenschaft und Technik. Leske & Budrich, Opladen 27–57
Gebhardt G, Schröter S (2007) Zwischen Methode und Methodenkritik. Überlegungen zum Irritationspotential der foucaultschen Diskursanalyse. Sociologica internationalis: europäische Zeitschrift für Kulturforschung 45(1–2):37–71
Gläser J, Meister M, Schulze-Schaeffer I, Strübing J (2004) Einleitung: Heterogene Kooperation. In: Strübing J, Schulz-Schaeffer I, Meister, M, Gläser J (Hrsg) Kooperation im Niemandsland. Neue Perspektiven für die Zusammenarbeit in Wissenschaft und Technik. Leske & Budrich, Opladen 7–24
Heckhausen H (1987) „Interdisziplinäre Forschung“ zwischen Intra-, Multi- und Chimären-Interdisziplinarität. In: Kocka J (Hrsg) Interdisziplinarität. Praxis – Herausforderung – Ideologie. Suhrkamp, Frankfurt a. M. S 129–145
Horkheimer M [1937](1992) Traditionelle und kritische Theorie. In: Ders.: Traditionelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze. Fischer, Frankfurt a. M. S 205–259
Hülsken-Giesler M (2008) Der Zugang zum Anderen. Zur theoretischen Rekonstruktion von Professionalisierungsstrategien pflegerischen Handelns im Spannungsfeld von Mimesis und Maschinenlogik. Universitätsverlag Osnabrück, Göttingen
Jungert M (2010) Was zwischen wem und warum eigentlich? Grundsätzliche Fragen der Interdisziplinarität. In: Jungert M, Romfeld E, Sukopp T, Voigt U (Hrsg) Interdisziplinarität. Theorie, Praxis. Probleme. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, S 1–12
Karl F (2008) Interdisziplinarität und Internationalisierung in der Befassung mit Altern und Alter. In: Aner K, Karl U (Hrsg) Lebensalter und Soziale Arbeit, Bd 6: Ältere und alte Menschen. Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler, S 270–282
Krüger L (1987) Einheit der Welt – Vielheit der Wissenschaft. In: Kocka J (Hrsg) Interdisziplinarität. Praxis – Herausforderung – Ideologie. Suhrkamp, Frankfurt a. M., S 106–125
Kuhn TS [1962](1973) Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Suhrkamp, Frankfurt a. M.
Lehr U (1998) Soziale Gerontologie – ein interdisziplinäres Fach. Entwicklung, Situation und Perspektiven (Ergebnisse und Probleme interdisziplinärer Forschung). In: Behrend C, Zeman P (Hrsg) Soziale Gerontologie. Ein interdisziplinäres Fach – Grundlagen, Entwicklungen und aktuelle Fragestellungen. Duncker & Humblot, Berlin, S 51–60
Löffler W (2010) Vom Schlechten zum Guten: Gibt es schlechte Interdisziplinarität? In: Jungert M, Romfeld E, Sukopp T, Voigt U (Hrsg) Interdisziplinarität. Theorie, Praxis. Probleme. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt S 157–172
Rawls J [1971](1979) Eine Theorie der Gerechtigkeit. Suhrkamp, Frankfurt a. M.
Remmers H (2014) Pflegewissenschaft – Disziplinarität und Transdisziplinarität. Pfl Ges 19(1):5–17
Richter S, Kuhlmey A, Tesch-Römer (2013) Alter, Altern und Gesundheit als Herausforderung für Forschung in Verbundzusammenhängen. In: Kuhlmey A, Tesch-Römer C (Hrsg) Autonomie trotz Multimorbidität. Ressourcen für Selbstständigkeit und Selbstbestimmung im Alter. Hogrefe, Göttingen 203–220
Schneider HD (2000) Interdisziplinäre Perspektiven. In: Wahl HW, Tesch-Römer C (Hrsg) Angewandte Gerontologie in Schlüsselbegriffen. Kohlhammer, Stuttgart 21–26
Snow CP (1959) The Two Cultures Lecture 1959. In: Snow CP (Hrsg) The two cultures. Cambridge University Press, Cambridge 1–22
Star SL (2004) Kooperation ohne Konsens in der Forschung: Die Dynamik der Schließung in offenen Systemen. In: In: Strübing J, Schulz-Schaeffer I, Meister, M, Gläser J (Hrsg) Kooperation im Niemandsland. Neue Perspektiven für die Zusammenarbeit in Wissenschaft und Technik. Leske & Budrich, Opladen 58–76
Strübing J, Schulz-Schaeffer I, Meister M, Gläser J (Hrsg) (2004) Kooperation im Niemandsland. Neue Perspektiven auf Zusammenarbeit in Wissenschaft und Technik. Leske+Budrich, Opladen
Sukopp T (2010) Interdisziplinarität und Transdisziplinarität. Definitionen und Konzepte. In: Jungert M, Romfeld E, Sukopp T, Voigt U (Hrsg) Interdisziplinarität. Theorie – Praxis – Probleme. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 13–30
Terizakis G, Gehring P (2014) Das Programm Interdisziplinarität. Überlegungen zu einem wissenschaftlichen Großbegriff. Pfl Ges 19(1):18–29
Thomae H, Kruse A, Olbrich E (1994) Gerontologie – Positionen einer „neuen“ Disziplin. In: Olbrich E, Sames K, Schramm A (Hrsg) Kompendium der Gerontologie. Bd 1, Teil II. Ecomed, Landsberg S 1–6
Voigt U (2010) Interdisziplinarität. Ein Modell der Modelle. In: Jungert M, Romfeld E, Sukopp T, Voigt U (Hrsg) Interdisziplinarität. Theorie, Praxis. Probleme. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt S 31–46
Danksagung
Ich danke Helen Güther (Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar) für die kritische Durchsicht des Manuskripts und viele wertvolle Hinweise. Ebenfalls bin ich Manfred Schnabel (Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar) zu Dank verpflichtet, der mit seiner Kritik substanziell zur Verbesserung des Manuskripts beigetragen hat.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Ethics declarations
Interessenkonflikt
H. Brandenburg gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Brandenburg, H. Interdisziplinarität in der Gerontologie. Z Gerontol Geriat 48, 220–224 (2015). https://doi.org/10.1007/s00391-015-0873-4
Received:
Revised:
Accepted:
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s00391-015-0873-4