Sexuelle Viktimisierung im Alter

Zusammenfassung

Im Rahmen einer multimethodal angelegten explorativen Studie wurden sexuelle Viktimisierungen im Alter untersucht, zu deren Erscheinungsbild bislang in Deutschland empirische Befunde ebenso fehlen wie zu darauf gerichteten Interventionen. Die Studie stützt sich auf Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik, 122 Verfahrensakten niedersächsischer Staatsanwaltschaften, eine schriftliche Befragung von 76 Institutionen der Opferhilfe (außerhalb von Polizei und Justiz) sowie vertiefende Interviews mit 22 PraktikerInnen, die über Erfahrungen mit konkreten Fällen der sexuellen Viktimisierung alter Menschen verfügten.

Die Studie zeigt, dass sowohl bei Polizei und Justiz als auch bei Institutionen außerhalb des Bereiches der Strafverfolgung nur in geringem Umfang Erfahrungen mit älteren Opfern von Sexualstraftaten vorliegen. Die von beiden Institutionengruppen bearbeiteten Fallspektren unterscheiden sich fundamental voneinander. Soweit Sexualdelikte an Älteren polizeilich bekannt werden, handelt es sich überwiegend um Fälle des Exhibitionismus, zu einem geringeren Teil um sexuelle Gewaltdelikte im engeren Sinne, bei denen die Täter bzw. Tatverdächtigen den Opfern in der Regel vor der Tat nicht oder nur marginal bekannt waren. Frauenhäuser, Frauennotrufe und ähnliche Einrichtungen sind primär mit schwerwiegenden Formen sexueller Gewalt in engen sozialen Beziehungen konfrontiert. Dabei geht es zu einem beträchtlichen Teil um fortgesetzte Viktimisierungen in Ehen und Partnerschaften älterer Menschen, bei denen sexuelle Gewalt und sexueller Zwang in ein umfassendes System der Gewaltanwendung, Demütigung und Kontrolle eingebettet sind (entsprechend Johnsons Konzept des „intimate terrorism“).

Geringe institutionell registrierte Fallzahlen sind auch vor dem Hintergrund von mit dem Alter des Opfers variierenden Hell- und Dunkelfeldanteilen zu sehen. Die Studie analysiert das Hilfesuchverhalten älterer Opfer sexueller Gewalt und gibt Hinweise zur Gestaltung und Optimierung von Hilfen für diese Personengruppe. Dazu gehören neben Maßnahmen zur Sensibilisierung der allgemeinen Öffentlichkeit wie medizinischer, pflegerischer und psychosozialer Professionen sowie einer verstärkten Kooperation von Alten- und Opferhilfe insbesondere niedrigschwellige, in bestehende Einrichtungen (vor allem zum Problemfeld häusliche Gewalt) integrierte Hilfe- und Beratungsangebote, welche auch für gesundheitlich eingeschränkte Opfer erreichund nutzbar sind.

Summary

A study on the underresearched topic of elderly sexual victimization combined multiple data sources: German police crime statistics, 122 public prosecutor files on sexual victimization of people above age 60, survey data from 76 institutions assisting victims of sexual violence/domestic violence, in-depth interviews with 22 practitioners who had worked with sexually victimized elderly.

The study shows that few cases of sexual victimization in old age are known to law enforcement agencies or victim services. Offences dealt with by the criminal justice system differ significantly from those known to battered women’s shelters and victim services. The majority of incidents prosecuted by the criminal justice system are hands-off offences; hands-on offences are typically single incidents committed by strangers or loose acquaintances of the victim. Battered women’s shelters and institutions of victim assistance are confronted with severe forms of sexual violence in intimate relationships, the prototypical case being an older woman who is repeatedly victimized by her husband over a considerable period of time and within a relationship characterized by a comprehensive system of violence, humiliation, and control (corresponding to Johnson’s concept of intimate terrorism).

The study demonstrates how small numbers of recorded cases of sexual violence in old age may reflect age-specific detection rates. It provides evidence on older victims’ help-seeking behavior and on ways to improve victim services.