Skip to main content
Log in

Verfassungswidrigkeit des strafbewehrten Verbots der Suizidassistenz in Österreich

Grundrechte-Charta Art. 1, 2, 4, 7, 10 Abs. 1, 21; EMRK Art. 2, 3, 8, 9, 14; öStGB 77, 78; ÄrzteG 49, 49a; öPatVG 1ff.

  • RECHTSPRECHUNG
  • Published:
Medizinrecht Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

1. Insbesondere aus dem Recht auf Privatleben, dem Recht auf Leben und dem Gleichheitsgrundsatz ist das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht des Einzelnen auf freie Selbstbestimmung ableitbar.

2. Dieses Recht auf freie Selbstbestimmung umfasst das Recht auf die Gestaltung des Lebens ebenso wie das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben. Das Recht auf freie Selbstbestimmung umfasst auch das Recht des Suizidwilligen, die Hilfe eines dazu bereiten Dritten in Anspruch zu nehmen.

3. Das Verbot der Selbsttötung mit Hilfe eines Dritten kann einen besonders intensiven Eingriff in das Recht des Einzelnen auf freie Selbstbestimmung darstellen.

4. Beruht die Entscheidung zur Selbsttötung auf der freien Selbstbestimmung des Betroffenen, so ist dies vom Gesetzgeber zu respektieren.

5. Aus grundrechtlicher Sicht macht es keinen Unterschied, ob der Patient im Rahmen seiner Behandlungshoheit oder der Patientenverfügung in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechtes lebensverlängernde oder lebenserhaltende medizinische Maßnahmen ablehnt oder ob ein Suizident mit Hilfe eines Dritten in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechtes sein Leben beenden will. Entscheidend ist vielmehr in jedem Fall, dass die jeweilige Entscheidung auf der Grundlage einer freien Selbstbestimmung getroffen wird.

6. Es steht zu dem sowohl in der verfassungsrechtlich begründeten Behandlungshoheit als auch in 49a Abs. 2 Ärztegesetz 1998 (hinsichtlich der Einhaltung der Patientenverfügung) zum Ausdruck kommenden Stellenwert der freien Selbstbestimmung im Widerspruch, dass 78 zweiter Tatbestand StGB jegliche Hilfe bei der Selbsttötung verbietet.

7. Wenn einerseits der Patient darüber entscheiden kann, ob sein Leben durch eine medizinische Behandlung gerettet oder verlängert wird, und andererseits durch 49a Ärztegesetz 1998 sogar das vorzeitige Ableben eines Patienten im Rahmen einer medizinischen Behandlung in Kauf genommen wird, ist es nicht gerechtfertigt, dem Sterbewilligen die Hilfe durch einen Dritten bei einer Selbsttötung zu verbieten und derart das Recht auf Selbstbestimmung ausnahmslos zu verneinen.

8. Der VerfGH übersieht nicht, dass die freie Selbstbestimmung auch durch vielfältige soziale und ökonomische Umstände beeinflusst wird. Dementsprechend hat der Gesetzgeber zur Verhinderung von Missbrauch Maßnahmen vorzusehen, damit die betroffene Person ihre Entscheidung zur Selbsttötung nicht unter dem Einfluss Dritter fasst.

9. Jemand anderen zur Selbsttötung zu verleiten bleibt strafbar (erster Tatbestand des 78 StGB). Die Entscheidung, sich unter Mitwirkung eines Dritten zu töten, ist nur dann grundrechtlich geschützt, wenn sie () frei und unbeeinflusst getroffen wird. Diese Bedingung ist von vorneherein nicht erfüllt (Tatbestand des Verleitens).

10. Die Erwägungen, die zur Aufhebung des zweiten Tatbestands von 78 StGB (Suizidbeihilfe) führen, sind nicht ohne Weiteres auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit des 77 StGB (Tötung auf Verlangen) übertragbar, weil sich diese Bestimmung in wesentlichen Belangen von 78 zweiter Tatbestand StGB unterscheidet.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this article

Price excludes VAT (USA)
Tax calculation will be finalised during checkout.

Instant access to the full article PDF.

Author information

Consortia

Rights and permissions

Reprints and permissions

About this article

Check for updates. Verify currency and authenticity via CrossMark

Cite this article

VerfGH der Republik Österreich, Urt. v. 11.12.2020 – G 139/2019-71. Verfassungswidrigkeit des strafbewehrten Verbots der Suizidassistenz in Österreich . MedR 39, 538–541 (2021). https://doi.org/10.1007/s00350-021-5882-2

Download citation

  • Published:

  • Issue Date:

  • DOI: https://doi.org/10.1007/s00350-021-5882-2

Navigation