Indikationen
Citicolin oder CDP-Cholin, ein nootroper und neurotroper Wirkstoff, welcher in oraler Form seit fast 5 Jahrzehnten in klinischer Anwendung ist und seit einigen Jahren auch als Nahrungsergänzungsmittel in den USA und der EU zur Verfügung steht, erfüllt diese genannte Anforderung zur Prävention und Therapie der glaukomatösen Neurodegeneration. Citicolin eignet sich nach Ansicht der Autoren als ein Neuroprotektivum für alle an der Glaukomerkrankung beteiligten zerebralen Neurone.
Citicolin zeigt auch bei anderen Erkrankungen neuroprotektive Wirkungen. So sind positive Effekt bei der Amblyopie [15] und bei der nichtarteriitischen ischämischen Optikusneuropathie [35] beschrieben. Topisches Citicolin verbessert auch die Funktion und Morphologie der Hornhautnerven bei Diabetes mellitus [14].
Wirkmechanismen
Citicolin ist eine Vorstufe des Neurotransmitters Acteylcholin sowie anderer neuronaler Membrankomponenten wie Phosphatidylcholin und Sphingomyelin. In verschiedensten experimentellen Ansätzen sind neuroprotektive Eigenschaften von Citicolin nachgewiesen worden. Dabei spielt eine beschleunigte Synthese von Phosphatidylcholin und Phospholipiden eine zentrale Rolle.
Die Neuroprotektion mittels Citicolin erfolgt über glaukomrelevante Mechanismen. Sowohl in Glaukommodellen als auch in Modellen für andere zerebrale neurodegenerative Erkrankungen wirkte Citicolin verschiedenen pathogenetischen Mechanismen entgegen, die auch beim RGZ-Verlust im Rahmen der Glaukomerkrankung eine Rolle spielen. So wirkt Citicolin durch Reduzierung der Glutamat-Exzitotoxizität [29], Reduzierung des oxidativen Stresses [39], Steigerung der Neurotrophinspiegel und Verbesserung des axoplasmatischen Transports [16], Verbesserung der mitochondrialen Funktion [52], Normalisierung der Membranstruktur [51] und Modulation der zerebralen Insulin-Signalkaskade [24] neuroprotektiv.
Klinische Evidenz
Inzwischen sind 11 klinische Studien publiziert, die alle einen neuroprotektiven Effekt von Citicolin auf die Glaukomerkrankung nachweisen konnten (Tab. 1). Der erste Bericht über eine Behandlung mit Citicolin bei der Glaukomerkrankung (primäres Offenwinkelglaukom, POWG) mittels i.m.-Citicolin-Injektionen stammt von Pecori-Giraldi et al. aus dem Jahr 1989 [37].
Tab. 1 Klinische Studien mit Nachweis eines neuroprotektiven Effekts von Citicolin auf die Glaukomerkrankung Die Fortführung dieser initialen Studie zeigte einen exzellenten Effekt der Therapie über 10 Jahre: Eine i.m.-Injektion von 1 g Citicolin täglich für 15 Tage alle 6 Monate führte zu einer signifikanten Stabilisierung des Gesichtsfelds: Bei 2 von 11 der mit Citicolin behandelten vs. 5 von 12 der nicht behandelten Patienten kam es zu einer Gesichtsfeldprogression. Eine Progression war definiert als die Flächenzunahme von Skotomen (Skotom-Areal > 500 mm2) in der Videoscreen-Perimetrie [48].
Es wurden 10 Jahre nach dieser ersten Studie und ihrer Nachfolgestudie die Ergebnisse einer doppelmaskierten placebokontrollierten Studie publiziert, in der elektrophysiologische Methoden wie VEP und das Muster-Elektroretinogramm (MERG) zur Prüfung der retinalen Funktion und der Sehbahn angewendet wurden. Diese Studie zeigte eine signifikante Verbesserung beider visueller Funktionen nach i.m.-Injektionen von Citicolin [36]. Da die Verbesserungen vorübergehend waren, mussten die Behandlungen alle paar Monate wiederholt werden.
Der positive Effekt von wiederholten Citicolin-Injektionen beim POWG konnte in einer Untersuchung nach einem Verlauf von 8 Jahren durch MERG bestätigt werden [32].
Nun sind i.m.-Injektionen nicht das bevorzugte Therapieregime für eine chronische Erkrankung. Daher wurde in einer kleinen Studie die orale Gabe von Citicolin (1 g pro Tag für 2 Wochen, 2 Wochen Pause, Wiederholung) auf die VEP von POWG-Patienten untersucht [40]. Auch wenn die Studienpopulation klein war (21 Augen von 11 Patienten), zeigte sich eine signifikante Verkürzung der Latenzverlängerung in den VEP und ein signifikanter, aber geringer ausgeprägter Anstieg der VEP-Amplitude.
Dann erfolgten Studien, welche die Wirksamkeit von p.o. und i.m. appliziertem Citicolin verglichen. In einer größeren italienischen Studie wurde der Effekt von i.m. (1 g/tgl.) und p.o. appliziertem Citicolin (1,6 g/tgl.) verglichen. Nach 2 Monaten zeigte sich eine signifikante Verbesserung von MERG und VEP. Dieser Effekt ließ in den folgenden 4 Monaten ohne Therapie wieder nach, jedoch war nach 4 Monaten die Funktion immer noch besser im Vergleich zur Basisuntersuchung. Die Wiederholung der Therapie führte zu einer stufenweisen Verbesserung [34]. Aus dieser Arbeit schlossen die Autoren, dass Citicolin in der Tat neuroprotektiv, aber nicht kurativ wirkt und eine periodische Therapie notwendig ist, um den Effekt zu erhalten.
In einer weiteren italienischen Studie mit 3 Studienzentren wurde der positive Langzeiteffekt von Citicolin p.o. bestätigt. Dabei wurden 41 Patienten, die ein progredientes POWG trotz eines kontrollierten IOD auswiesen, mit 500 mg Citicolin tgl. für 4 Monate mit einem anschließenden therapiefreien Intervall von 2 Monaten behandelt [31]. Die Studie war nicht randomisiert, aber der prospektiven Studienphase ging eine retrospektive Analyse der prätherapeutischen Progressionsrate im Gesichtsfeld voraus. Betrug die Progressionsrate vor Therapie −1,1 ± 0,7 dB/Jahr, so lag sie unter Therapie nach 2 Jahren im Mittel bei −0,15 ± 0,3 dB/Jahr. In einer weiteren Fall-Kontroll-Studie wurde gezeigt, dass es unter einer Therapie mit 500 mg Citicolin p.o. nach 2 Jahren zu einer signifikanten Reduktion der Gesichtsfeldprogression und der Abnahme in der retinalen Nervenfaserschicht in der optischen Kohärenztomographie (OCT) kommt [25].
Die Wiederholung der Therapie führte zu einer stufenweisen Verbesserung
Marino et al. [27] untersuchten die Kontrastempfindlichkeit mit dem Spaeth-Richman-Contrast-Sensitivity(SPARCS)-Test und die Lebensqualität (Glaucoma Quality of Life-15, GQL-15) unter Citicolin-Therapie (500 mg, mit Homotaurin 50 mg, Vitamin E 12 mg) [46] bei 109 Patienten mit primärem Offenwinkelglaukom, dabei betrugen der „mean defect“ in statischer Weiß-Weiß-Perimetrie, MD, −1,72 dB (−19,0 bis +3,18), die Glaukomdauer 7 Jahre (1–19) und der IOD 16 mm Hg (10–25), 66 % erhielten eine Monotherapie. Jeweils nach 4 Monaten zeigte sich eine signifikante Verbesserung der Kontrastsensitivität und der Lebensqualität.
Applikation
Neben i.m.- und p.o.-Applikation kann Citicolin auch lokal mittels Augentropfen angewandt werden. Nach topischer Applikation ist Citicolin im Glaskörper nachweisbar [3]. Parisi et al. [33] berichten über den Effekt von topischem Citicolin als Augentropfen (Citicolin 0,2 g, 3 Tropfen tgl.) bei 47 Patienten mit Offenwinkelglaukom (mittleres Alter 52,4 ± 4,72 Jahre, IOD 23–28 mm Hg ohne Therapie, MD > −10 dB). Alle Patienten wiesen unter einer Monotherapie mit Betablockern eine IOD < 18 mm Hg auf. Bei 24 Patienten wurden zusätzlich Citicolin-Augentropfen für 4 Monate mit einer anschließenden Auswaschphase von 2 Monaten angewendet. Nach 4 Monaten zeigten MERG und VEP unter zusätzlicher Citicolin-Gabe zum Betablocker signifikant größere Amplituden und kürzere Gipfellatenzen im Vergleich zur alleinigen Therapie mit Betablockern. Am Ende der 2‑monatigen Auswaschphase nach 6 Monaten waren keine Unterschiede mehr nachweisbar. Topisches Citicolin induziert somit eine Verbesserung der bioelektrischen Aktivität in der Netzhaut und im visuellen Kortex.
In einer zweiten randomisierten doppelmaskierten placebokontrollierten multizentrischen Studie über 3 Jahre wurde gezeigt, dass Citicolin zu einer signifikanten Reduktion der funktionellen (Weiß-Weiß-Perimetrie) und morphologischen (Dicke der retinalen Nervenfaserschicht in der OCT) Progression führte [43]. In diese Studie wurden leicht- bis mittelgradige Offenwinkelglaukome eingeschlossen, die bei einem IOD unter 18 mm Hg in den 2 Jahren vor Studienbeginn eine Progression in der Perimetrie (MD) von bis 0,5 dB/Jahr aufwiesen. Der IOD wurde über die 3 Studienjahre mittels medikamentöser oder chirurgischer Therapie unter 18 mm Hg gehalten. Dabei erhielten 80 Patienten Citicolin-Augentropfen 3 × tgl., 80 Patienten Placebo-Augentropfen. Mit Citicolin-Therapie betrug die Gesichtsfeldprogression (MD) nach 3 Jahren −0,41 ± 3,45 dB, ohne Citicolin −2,22 ± 3,63 dB (p = 0,02). Die Abnahme der retinalen Nervenfaserschichtdicke reduzierte sich im Mittel um 1,13 µm (1,86 vs. 2,99 µm; p = 0,02). Die Studie zeigt, dass eine additive Therapie mit Citicolin zur IOD-senkenden Therapie die Progression bei Patienten mit einer progredienten Glaukomerkrankung trotz IOD < 18 mm Hg reduzieren kann [43].
Auch wenn diese Ergebnisse mit den Studienergebnissen bei oraler Applikation vergleichbar waren, so ist die topische Applikation hinsichtlich der Bioverfügbarkeit problematisch. Citicolin ist wasserlöslich und penetriert schlecht die Cornea. Präklinische Daten haben zwar gezeigt, dass topisches Citicolin den Glaskörper erreichen kann [47]. Die intraokulare Bioverfügbarkeit von Citicolin wurde jedoch nur durch eine benzalkoniumchloridvermittelte Schädigung der Augenoberfläche erreicht [2]. Dies wird wie auch bei der lokalen drucksenkenden Therapie zu einer chronischen Blepharokeratokonjunktivitis führen und ist als Applikationskonzept aus diesen Gründen daher eher nicht sinnvoll. Zudem können die altersbedingten manuellen Einschränkungen die applizierte Dosis beeinflussen. Orales Citicolin hat nach dem bisherigen Wissensstand keine Nebenwirkungen und ist daher für die Anwendung besser geeignet. Es weist eine gute Bioverfügbarkeit und eine vergleichbare Effektivität wie bei parenteraler Gabe (i.v., i.m.) auf [42].
Die topische Applikation ist hinsichtlich der Bioverfügbarkeit problematisch
Darüber hinaus hat Citicolin nootrope Eigenschaften und wirkt sich somit positiv auf subjektive Gedächtnisstörungen und leicht- bis mittelgradige vaskuläre kognitive Störungen aus [13]. Die begleitende Einnahme von Citicolin mit der IOD-senkenden Therapie kann somit möglicherweise auch einen positiven Effekt auf die Adhärenz zur Glaukomtherapie haben [16].
Citicolin und evidenzbasierte Medizin
Die Beurteilung von Citicolin angesichts der evidenzbasierten Medizin wirft die Frage auf: Könnte es eine Prophylaxe oder Therapie darstellen? Jain und Aref [20] diskutieren Analogien zwischen seniler Demenz und Glaukom und vermuteten, dass bei beiden Erkrankungen an ein „Neuroenhancement“ mittels Substanzen wie Citicolin gedacht werden kann, welches derzeit als Nahrungsergänzungsmittel verfügbar ist.
Auf der anderen Seite stellte das Panel on Dietetic Products, Nutrition and Allergies (NDA) der European Food Safety Authority (EFSA) 2014 hinsichtlich des Wirkstoffs Cytidin-5-Diphosphocholin (CDP-Cholin) im Zusammenhang mit dem Erhalt des normalen Sehens bei älteren Menschen fest, dass zwischen Einnahme von CDP-Cholin und dem Erhalt des normalen Sehens kein Zusammenhang im Sinne von Ursache und Wirkung hergestellt werden kann (EFSA NDA 2014).
Diese 2 auf den ersten Blick gegensätzlichen Aussagen zielen auf 2 vollkommen unterschiedliche therapeutische Szenarien ab: die Erste bezieht sich auf die Einnahme von Citicolin bei einer bestehenden (manifesten) Erkrankung, die Zweite bezieht sich jedoch auf die Einnahme von Citicolin durch eine asymptomatische alternde Bevölkerung ohne Erkrankung zur möglichen Prophylaxe einer Erkrankung.
Ein Eckstein der EBM ist das hierarchische System der Klassifizierung von Evidenz
Argumente für eine eher ablehnende Haltung gegenüber oralem Citicolin zum Erhalt einer gesunden Sehkraft im Zusammenhang mit dem Alterungsprozess sind vergleichbar mit denen der evidenzbasierten Medizin (EBM). Evidenzbasierte Medizin ist im Prinzip ein Code für einen Verhaltenskodex, um klinische Entscheidungen zu treffen. Ein Eckstein der EBM ist das hierarchische System der Klassifizierung von Evidenz, bekannt als „Pyramide der Evidenz-Level“, die direkt in den „Empfehlungsgrad“ übersetzt wird [46]. Der Goldstandard für hohe Evidenz sind die Ergebnisse prospektiver randomisierter maskierter sog. Phase-III-Studien mit klar definierten klinischen Endpunkten, ihrer Metaanalysen und systematischen Reviews. Evidenz, die auf nichtrandomisierten klinischen Studien basiert, wird als wesentlich geringer aussagekräftig angesehen, und auf nichtklinischen Studien basierenden Empfehlungen wird eine geringe Aussagekraft zugesprochen.
Ohne Zweifel ist eine abwartende, restriktive Haltung gegenüber Medikamenten sinnvoll, die ein nicht zu vernachlässigendes toxisches Potenzial haben und zugleich teuer sind (typisch für Originalmedikamente). Für die Marktzulassung eines neuen Medikaments muss in einer randomisierten maskierten Studie gezeigt werden, dass der therapeutische Nutzen das potenzielle Risiko der Behandlung überwiegt. Diese Anforderungen sind im Fall von Nahrungsergänzungsmitteln nicht gegeben. Da bei adäquater, richtig dosierter Einnahme Nahrungsergänzung als weitestgehend risikofrei angesehen wird, ist das Thema Effektivität in Relation zum Risiko von untergeordneter Bedeutung. Im Fall von Citicolin wird die tägliche Dosis von 500–1000 mg von der EFSA als vollkommen sicher ohne Nebenwirkungen angesehen.
Es ist auch unrealistisch anzunehmen, dass ein Zusammenhang zwischen der Einnahme eines Nahrungsergänzungsmittels und seinem prophylaktischen bzw. therapeutischen Effekt eindeutig festgestellt werden kann. Als ein Beispiel kann Vitamin C dienen, dessen jährliche Produktion auf 110.000 t geschätzt wird [38]. Trotzdem ist die Effektivität von Vitamin C hinsichtlich der Vorbeugung und Behandlung von Erkältungskrankheiten seit über 70 Jahren Gegenstand kontroverser Diskussionen und bis heute nicht endgültig geklärt [17]. Aktuell gewinnt diese Diskussion im Hinblick auf die Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV‑2 („severe acute respiratory syndrome coronavirus 2“, Corona-Infektion) oder die Erkrankung daran (COVID-19, „coronavirus disease 2019“) zusätzlich an Bedeutung [49].
Im Fall der Glaukomerkrankung ist es im Gegensatz zu akuten symptomatischen Erkrankungen schwer, aufgrund des jahrelang asymptomatischen und langsam progredienten Verlaufs sowie des Fehlens von Frühtests bzw. Screening schlüssige klinische Daten zur Effektivität einer Prophylaxe mit einem Nahrungsergänzungsmittel zu gewinnen.