Okuläre Hypertension, was ist das eigentlich? Jedenfalls etwas, das wir vor 30 Jahren so noch nicht kannten. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie Prof. Busse, jetzt Emeritus der Uniklinik Münster, mir als jungem Assistenzarzt erklärte: „Vor ein paar Jahren haben wir noch jeden mit Druck über 22 gedeckelt!“

Gedeckelt sollte dabei heißen: Es wurde eine – aus heutiger Sicht normale – Trabekulektomie vorgenommen, die im Unterschied zu den ganz alten Elliot-Trepanationen mittels eines Skleradeckels wieder partiell verschlossen wird, um eine Hypotonie zu verhindern. Hintergrund für dieses aus heutiger Sicht sehr aggressive Vorgehen war der Gedanke, dass ein Augendruck über 21 mmHg automatisch als Glaukom zu definieren und entsprechend zu behandeln ist.

Inzwischen hat man einiges dazugelernt. Längst nicht jeder Patient mit Augendruck 21 mmHg oder höher entwickelt im Laufe seines Lebens ein echtes Glaukom. Überhaupt ist der Augendruck ja heutzutage nicht mehr zwingender Bestandteil der Definition Glaukom, sondern eher ein Risikofaktor für diese Erkrankung. Das Glaukom selbst wird definiert als Erkrankung des Sehnerven, die zu der typischen Exkavation mit konsekutiven Gesichtsfeldausfällen führt.

Nachdem nun weitgehend akzeptiert wurde, dass ein erhöhter Augendruck nicht automatisch krankhaft und schon gar nicht gleichzusetzen mit Glaukom ist, lag es auf der Hand, hierfür einen neuen Begriff einzuführen: okuläre Hypertension.

Die Definition der okulären Hypertension lautet dann folgerichtig: Okuläre Hypertension ist ein über die statistische Norm erhöhter Augendruck, der (noch) nicht zu erkennbaren Schäden am Sehnerven oder im Gesichtsfeld geführt hat. Als Obergrenze der Norm wird dabei oft 21 mmHg angegeben, was Folge einer einfachen statistischen Überlegung ist: Der Mittelwert der Bevölkerung beträgt etwa 15 mmHg, die Standardabweichung 3 mmHg. Als Normal wird, wie auch sonst in der Statistik gern, der Bereich Mittelwert ± doppelte Standardabweichung bezeichnet.

Diese Definition der okulären Hypertension klingt überzeugend und einfach. Im Detail ist sie das aber nicht. Vor allem die Beurteilung, ob ein Sehnerv „noch normal“ oder schon „beginnend glaukomatös“ ist, kann im individuellen Einzelfall extrem schwierig sein. Zwar gibt es Hilfen, die einem diese Unterscheidung erleichtern sollen, z. B. die ISNT-Regel: Der neuroretinale Randsaum der Papille ist inferior am breitesten, gefolgt von superior, nasal und temporal. So wertvoll diese Hilfe bei der Beurteilung auch sein mag, es kann nie mit Sicherheit gesagt werden, ob eine Papille, bei der die ISNT-Regel noch erhalten ist, nicht bereits etwas neuroretinalen Randsaum verloren hat. Umgekehrt gibt es auch durchaus Papillen, bei denen die ISNT-Regel verletzt ist, die aber trotzdem nie ein Glaukom entwickeln und über Jahrzehnte unverändert bleiben.

Die Abgrenzung einer okulären Hypertension von beginnendem Glaukom bleibt in der Praxis nach wie vor eine Herausforderung.

Wenn eine okuläre Hypertension also keine echte Erkrankung darstellt, dann muss man sie eigentlich auch nicht therapieren. Auch das hört sich allerdings sehr viel einfacher an, als es in Wirklichkeit ist. Schließlich ist der erhöhte Augendruck ja unbestritten immerhin ein Risikofaktor für die Entwicklung des Glaukoms. Und bei welchen Patienten mit okulärer Hypertension sich ein Glaukom entwickelt wird und bei welchem nicht, lässt sich nicht mit Sicherheit voraussagen. Auch hierfür gibt es lediglich Hilfsregeln, z. B.: Je höher der Augendruck, desto höher das Risiko einer Konversion von okulärer Hypertension zum Glaukom oder: Je dicker die zentrale Hornhaut, desto geringer das Konversionsrisiko. Die Argumente für oder gegen eine prophylaktische Therapie der okulären Hypertension werden deshalb in separaten Beiträgen beschrieben.

Falls es zu einer Konversion von der okulären Hypertension zum Glaukom kommt, muss diese selbstverständlich so früh wie möglich erkannt werden. Das erfordert regelmäßige Verlaufskontrollen, die sich möglichst aller vorhandenen technischen Hilfsmittel bedienen sollten, also Fotografie, OCT oder andere quantitative Strukturanalysen der Papille. Auch für diese Verlaufskontrollen werden in einem separaten Beitrag konkrete Empfehlungen gegeben.

Fazit: Unter einer okulären Hypertension versteht man einen über die statistische Norm erhöhten Augendruck ohne Folgeschäden. Die Definition klingt logisch, einfach und überzeugend. In Wirklichkeit verschiebt man das Hauptproblem – behandeln oder nicht behandeln – dadurch allerdings nur in eine andere Ebene.

Prof. Dr. Dr. Jens Funk