Leserbrief
B. Gloor
Zürich
Erfreulich, dass „Der Ophthalmologe“, wenn es um umfassendere Themen geht, auch der Geschichte ihren Platz einräumt, und besonders erfreulich, wenn es sich um einen so kenntnisreichen und interessanten Aufsatz wie denjenigen von Frau Müller über das Weinen handelt. Da gibt es aber eine Stelle, welche von jemandem, der im Schatten des lebensgroßen Bildes von Felix Platter im Regenzzimmer der Universität Basel während 11 Jahren die Fakultätssitzungen verbracht hat, nach einer Ergänzung ruft!
Es ist zwar richtig, dass die Kristallflüssigkeit bis Platter als Hauptsehorgan galt, das ist aber nicht das „Corpus vitreum“, nicht der Glaskörper, sondern der „Crystallinus humor“, also der Kristall oder die Linse. Es ist auch richtig, dass Kepler die erste gültige Dioptrik des Auges verfasst hat. Die entscheidende Wende hat aber nicht Kepler, sondern Felix Platter (1536–1614) in seiner Anatomie 1583, 21 Jahre vor Kepler, gebracht, als er feststellte, dass nicht die Linse, sondern die Netzhaut die bildaufnehmende Struktur des Auges, die Linse aber des Sehnerven Brillenglas sei. Für Kepler war die anatomische Darstellung Platters maßgebend. Sie bildete die Grundlage seiner Erklärung des Sehvorganges. Kepler selbst schreibt: „Zur Unterweisung der Leser, die keine anatomischen Tafeln zur Hand haben, erschien es mir angemessener, hier einen Abdruck der Tafel 49 des hochberühmten Felix Plater beizufügen.“ (S. 244). Ferner: „Plater aber überlässt die Fähigkeit des Erkennens der Netzhaut, was der Wahrheit entsprechender [als die Ansicht des Witelo] ist, den Kristall hält er für ein Instrument“ (S. 230), darauf der wunderbare Satz Keplers (S. 233), der nächste Durchbruch nach Platter: „Das Sehen wie ich es erkläre, kommt dadurch zustande, dass das Bild der gesamten Halbkugel der Welt, die vor dem Auge liegt, und noch etwas darüber hinaus auf die weissrötliche Wand der hohlen Oberfläche der Netzhaut gebracht wird.“ Es geht nicht darum, Keplers große Leistungen zu mindern, er brachte Platters These zur Gewissheit (Koelbing), aber wenn Stephen L. Polyak, der wohl wie kein Zweiter die Geschichte der Erforschung des Sehorgans aufgearbeitet hat, schreibt: „The … description by Platter gives, in a nutshell, all our modern knowledge about the arrangement and the function of the eye and is the first clear formulation of the essentials of the modern dioptrics of the eye“, dann besteht wohl genügend Grund, dass man Felix Platter dem Älteren auch außerhalb des Regenzzimmers der Universität Basel den ihm in der Ophthalmologie gebührenden Platz einräumt.
Literatur
Kepler J (1604) Ad Vitellionem Paralipomena (Nachträge zu Witelo) Kap. V: Über den Vorgang des Sehens, in Schriften zur Optik, deutsche Übersetzung F. Plehn, in Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften Bd 198, Neu-Auflage eingeführt und ergänzt von R. Riekher, Wissenschaftlicher Verlag Harri Deutsch GmbH, Frankfurt a. M. 2008, S 230, 233, 244
Koelbing HM (1967) Renaissance der Augenheilkunde 1540–1630. Huber, Bern Stuttgart, S 71ff
Platter F [d. Ä.] (1583) De corporis humani structura et usu libri III, Basel 1583, Buch II, S 187 (zitiert nach Koelbing)
Polyak SL (1941) The Retina. The University of Chicago Press, Chicago, Illinois, p 134
Interessenkonflikt
Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Gloor, B. Tränen aus medizinhistorischer Sicht. Ophthalmologe 106, 938 (2009). https://doi.org/10.1007/s00347-009-2058-2
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