Das Achsenorgan Wirbelsäule ist aufgrund seiner Multifunktionalität verschiedenen Störfaktoren ausgesetzt. Aus seinen Regionen können sich diverse Krankheitsbilder entwickeln, die auch zu den Aufgabenbereichen verschiedener medizinischer Sparten gehören. Einerseits durch die weiterbestehenden Noxen, andererseits durch die Vorgänge im Zentralnervensystem (Schmerzgedächtnis, gestörte Schmerzhemmung etc.) entwickeln sich andauernde, also chronische Beschwerdebilder. Die Problematik der Diagnostik und der daraus folgenden Therapie liegt in der überregionalen Beschwerdeausbreitung in Sekundärstrukturen. Morphologische Darstellungen und andere Objektivierungsversuche sind ein Teil der Diagnostik. Gestörte Funktionen müssen durch eine entsprechende Funktionsuntersuchung, d. h. klinisch-manuelle Diagnostik, erkannt werden. Die genannten Sekundärstrukturen können in ihrer Schmerzentstehung das Beschwerdebild oft dominieren und müssen deshalb bei der Behandlung berücksichtigt werden.

Gestörte Funktionen müssen durch eine klinisch-manuelle Diagnostik erkannt werden

Der Großteil der hier zu besprechenden Erkrankungen stellt meist keine Operationsindikation dar, tangiert aber auch andere Fachgebiete und deren diagnostische und therapeutische Prinzipien. Erwähnt sei dabei die Rheumatologie, die Neurologie, die Schmerztherapie, die physikalische Therapie und auch die Psychosomatik. Letztere lässt die Frage entstehen, inwieweit diese wichtige Sparte somatische Probleme berücksichtigen kann.

Die Zweiteilung der Orthopädie erzeugt eine Dominanz der Chirurgie, die in Krankenhäusern vorherrscht und wo auch Orthopäden ihre Ausbildung finden, während die Probleme der konservativen Orthopädie wie etwa die chronifizierten vertebragenen Störungen weniger Berücksichtigung finden, was zweifellos die „Polypragmasie“ begünstigt.

„Die Polypragmasie (Vielgeschäftigkeit, vielerlei Unternehmen) bezeichnet in der Medizin die sinn- und konzeptlose Diagnostik und Behandlung mit zahlreichen Arznei- und Heilmitteln sowie anderen therapeutischen Maßnahmen. Dadurch steigt das Risiko für Wechsel- und Nebenwirkungen“ (Wikipedia).

Diese negativistische Definition bedarf auch einer wohlwollenden Diskussion, waren doch chronische Beschwerdebilder, von denen angenommen wurde, dass sie durch Störungen der Wirbelsäule bedingt sind, schon immer eine Aufgabe für die Heilkunst, die auf gelehrte und empirisch erworbene Wissensinhalte (Erfahrungsheilkunde) zurückgreift.

Für die im 19. Jahrhundert noch weitgehend konservative Orthopädie gab es als wichtiges Behandlungsmittel beispielsweise die Badekuren: aquis salubris („durch heilbringendes Wasser“), „wären die Wässer nicht besser als alle Doktoren, wir wären verloren“, SPA (Abkürzung für sanatio per aquam – Heilung durch Wasser).

Sie zeigen, dass die betreffenden therapeutischen Maßnahmen doch auch von nichtgeklärter Wirksamkeit waren und sind. Diese weiterhin bestehende Polypragmasie sollte jedenfalls nicht schaden. In der Praxis kann gelegentlich mit der „Polypragmasie“ begonnen werden, wobei das Ergebnis dieser Probebehandlungen wichtige weiterführende diagnostische Effekte liefert.

Die multidimensionale Behandlung ist unverzichtbar mit der klinischen Untersuchung verbunden, sie ist sogar eine Vorbedingung für die Kombination von Behandlungen. Betont werden sollte bei der multidimensionalen Therapie auch die Aufgabe, die verursachenden Störfaktoren zu erkennen und zu beeinflussen. Dazu bedarf es der Mithilfe des Patienten – ein Übergang zur Rehabilitation, die aus dem Objekt „Patient“ ein Subjekt macht, d. h. individuelle, diagnostisch bedingte Mitarbeit.

Die manuelle Medizin hat ihre überwiegende Bedeutung in der Diagnostik. Aufgrund der epidemiologischen Umwandlungen (Alter) wäre eine Ausweitung ihrer Therapiekonzepte unbedingt notwendig.

Die multidimensionale Behandlung ist unverzichtbar mit der klinischen Untersuchung verbunden

Bei der Diskussion „multidimensionale Therapie versus Polypragmasie“ sei auch an die magistralen Arzneiverordnungen erinnert. Hier wurde vom remedium cardinale das remedium adjuvans unterschieden. Vergleiche drängen sich auf, wenn verschiedene therapeutische Maßnahmen zur Behandlung eines Krankheitsgeschehens eingesetzt werden. Der Satz „Primum nil nocere“ ist sicherlich eines der wichtigsten Argumente, Einzeltherapiemaßnahmen auf ihren tatsächlichen Nutzwert, besonders aber auch auf die Möglichkeit der Schädigung hin zu beurteilen.

Ein Beispiel einer nützlichen Polypragmasie ist etwa die häufige kurmäßige Behandlung einer Lumboischialgie mit magnetresonanztomographischem Nachweis eines Bandscheibenvorfalls. So wurde insbesondere die Unterwasserstrahlenmassage angewandt, aber auch die Trockenmassage, die nach Beendigung der Kur Beschwerdefreiheit erzielte, bei weiterhin bestehenden MRT-Befunden. Hier wurde die Muskulatur – als wichtiger Anteil der Beschwerdesyndromatik – durch die therapeutische Reizsetzung zu schmerzlosen Tonusverhältnissen gebracht.

Beim Versagen dieser Behandlungsformen müssten die pathogenetischen Führungsstrukturen durch eine weitere, genauere klinische Untersuchung eruiert und diesen Befunden zufolge behandelt werden – der Übergang von der Polypragmasie zur multidimensionalen Therapie.

Es gilt, auch die zur Chronifizierung beitragenden Störfaktoren zu erkennen, wobei im weiteren Sinne der Reaktionstyp des Patienten, dessen Umfeld, charakterliche Faktoren (Mitarbeit) und interessanterweise auch immer wieder beschwerdeverstärkende „Atmosphärilien“ zu bedenken sind.

Die klinisch-manuelle Untersuchung hat gerade in einer Epoche der apparativen Untersuchungstechniken weiterhin eine große Bedeutung, die allerdings gelehrt und gelernt werden muss.

Dieser Kongress hatte zum Ziel, das Problem chronischer Schmerzstörungen der Wirbelsäule umfassend und klinisch relevant zu diskutieren. Die Vielfältigkeit der Aussagen der Vortragenden zeigt die Größe und Breite des Problems „chronischer Wirbelsäulenbeschwerden“.

Univ. Prof. Dr. Hans Tilscher