FormalPara Leserbrief zu

Mizher A, Rüegg A (2016) Erhebliche Wirbelsäulenschäden schon durch kleine Beinlängendifferenzen. Manuelle Med 54:150–155. doi:10.1007/s00337-016-0136-5

Beim Lesen dieses interessanten Artikels ist mir eine wiederholte Behauptung aufgefallen, die man nicht so stehen lassen darf.

Schon die Überschrift „Erhebliche Wirbelsäulenschäden schon durch kleine Beinlängendifferenzen“ weckt den Verdacht, dass hier Ursachen und Folgen verwechselt werden. So scheint es, dass bei der guten und ausführlichen Bestandsaufnahme über den Schäden an Beingelenken und die Entstehung von Muskeldysbalancen gemeint wird, dass die ursächlich – wie aus dem Text folgt – aus einer Beinlängendifferenz resultieren. Bald wird es dann beim ersten Fallbeispiel direkt ausgesprochen: „Skoliose ist durch die Beinlängendifferenz … entstanden“. Und weiter liest man von einer „klaren S‑förmigen Skoliose, die durch eine Beinlängendifferenz … verursacht wurde“.

Dies ist unzutreffend. Nicht die Beinlängendifferenz verursacht einen Beckenschiefstand, da (angeborene Entwicklungsstörungen natürlich ausgenommen) niemand mit unterschiedlichen Beinen zur Welt kommt. Stattdessen führt eine Skoliose zum Beckenschiefstand, was eine Beinlängendifferenz zur Folge hat.

Ein falsche Zahnentwicklung in der frühen Kindheit kann zu Skoliose führen, die sich im Zuge des Wachstums mehr oder weniger weiterentwickelt. Eine schiefe Bissstellung hat eine dauerhafte Hypomobilität im Segment C0–3 zur Folge, was einen Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Skoliose darstellt. Das Modell der absteigenden Ketten führt zur Entwicklung muskulärer Dysbalancen an einigen Etagen. Diese Verkettung endet am Iliosakralgelenk bzw. Kreuzbein, was im Adaptationsversuch in einen Beckenschiefstand mündet.

Die „neue Pathophysiologie“, wie die Autoren es nennen, ergibt sich damit nicht aus der Skoliose, sondern ist ein Teil jenes Prozesses, in dem muskuläre Dysbalancen mit daraus resultierenden Skelettasymmetrien vor der Skoliose entstehen und deren Entwicklung vorantreiben.

Das Entstehen der beschriebenen Schmerzsymptome ist bereits ein Zeichen von aufgetretener körperlicher Dekompensation. Diese Beschwerden sind das Ende einer langen pathologischen Entwicklung, die in der Kindheit beginnt.

Zu bemerken wäre auch, dass sich eine Skoliose manchmal noch vor dem Entwicklungsprozess von Zähnen beim Kind beobachten lässt. Solche Skoliosen verschwinden allerdings meist ohne Behandlung.

Was die verwendete Therapie angeht, ist der von den Autoren propagierte Beinlängenausgleich fraglich. Eigentlich sollte die funktionale Beinlängendifferenz nie ausgeglichen werden. Ein solcher Ausgleich wirkt gegen physiologische Abläufe am Rückgrat. Ich kann mir vorstellen, dass man ihn am Anfang einer Therapie kurzzeitig einsetzen darf, um Schmerzen schneller in den Griff zu bekommen. Ich bevorzuge aber die Deblockierung nicht nur des ISG, sondern auch aller betroffener Etagen mit darauffolgendem Training.

Es gibt allerdings seltene Fälle, in denen der dauernde Ausgleich des „kurzen“ Beins doch sinnvoll ist, wenn nämlich der Patient eine S‑Skoliose hat und im Lendenbereich an der Seite des „kürzeren“ Beins eine Konvexität vorliegt. Der dann entstehende Druck hilft (zusammen mit anderen Maßnahmen), den Grad der Skoliose altersabhängig zu mindern.

Auf eine breite Anwendung des Beinlängenausgleichs ohne Berücksichtigung der konkaven/konvexen Verhältnisse sollte man besser verzichten. Nicht nur die Wirbelsäule wird darunter leiden, sondern bestimmt auch mindestens das Hüftgelenk.

Die von den Autoren zu Recht empfohlene 3‑D-Untersuchung sollte immer vor dem Ausgleichsversuch stattfinden.

Viele Grüße

M. Schorr-Tschudnowski