Die Umwandlung des in Deutschland gebräuchlichen Begriffs „Chirotherapie“ in „manuelle Medizin“ für die ärztliche Anwendung manualmedizinischer Diagnostik und Therapie war ein durchaus fragwürdiges Unterfangen. Wohlgemeint und notwendig im Sinne einer Integration der tradierten erfahrungsmedizinischen Inhalte in das moderne wissenschaftlich-medizinische Gedankengebäude, traf der Begriff doch auf weitestgehende Unkenntnis bei den Ärzten wie auch in der Bevölkerung. Daran hat sich leider in den Jahren seit der Einführung des Begriffs „manuelle Medizin“ nicht wirklich etwas Substanzielles geändert. Wir beobachten, dass Begrifflichkeiten wie Osteopathie oder Atlastherapie und auch Kinesiologie, Dorn-Therapie oder Vitalogie im Bewusstsein der Menschen besser verankert sind als manuelle Medizin. Woran mag das liegen? Vielleicht in den Assoziationen, die mit bestimmten Begriffen erzeugt werden?

Was heute noch manuell gemacht wird, ist meistens mit mehr oder weniger altmodischen Vorstellungen verbunden, wo doch fast alles im modernen Leben automatisch, elektronisch oder ferngesteuert funktioniert. Wer entrollt noch seine Markise von Hand?

Das Wort „Medizin“ verbindet sich immer mit dem Begriff Arzt und der Begriff Arzt verbindet sich fast immer mit dem Begriff der Krankheit. Ganz zu schweigen vom Begriff „Schulmedizin“, der die Bankrotterklärung der ärztlichen Kunst zelebriert. Insgesamt treffen demnach zwei negativ besetzte Begriffe in Gemeinsamkeit auf die Gefühlswelt des hilfesuchenden Menschen.

Ganz anders bei „Osteopathie“. Hier verbindet sich das Wort „Osteo-“ als Knochen, als etwas Robustes, Gutes, also im Extremfall noch die Verbindung mit Ostern (für Nichtaltsprachler) mit „-pathie“, das in aller Regel mit den positiven Begriffen Sympathie oder Empathie verknüpft wird. Auch wird Pathos nicht unbedingt mit Leiden oder Krankheit assoziiert, sondern eher mit Leidenschaft oder mitreißenden Gefühlen. Futter für eine Gesellschaft auf der Jagd nach starken Emotionen.

Der Atlas ist der Träger der Welt und Therapie ist immerhin Behandlung. Vitalogie ist die Lehre von der (natürlichen) Lebenskraft. Vitalogie enthält das Wort vital, vergleiche Vitasprint, (s. a. Vitali Klitschko, Vitalquelle oder Vitalität) und die Dorn-Methode ist mit einem Sägewerkbesitzer aus dem Allgäu verknüpft, was sowieso und gänzlich ohne kritische Hinterfragung immer als etwas Positives gilt. Das gilt mancherorts noch ausgeprägter auch für Holzfäller und alpenländische Kräuterexpertinnen. Für Bach und Blüten ein assoziatives Korrelat zu suchen, ist schon fast müßig. Eine Diskussion ist nur angezeigt, wenn es gilt, zwischen Johann Sebastian und dem frischen Quell im Grünen zu unterscheiden.

Was wollen wir also tun? Haben wir wirklich den falschen Begriff gewählt? Im sicheren Bewusstsein, dass alle guten diagnostischen und therapeutischen Methoden ohnehin den Begriff „manual medicine“ (s. Greenman) tragen und im erfolgreichen Falle immer im Sinne einer konstruktiven Synthese aus ärztlichen, sicheren und den Regeln naturwissenschaftlicher Verfahren folgender Methoden zusammengesetzt sind, können wir nur den Ruf unserer Arbeit verbessern, aber wie?

Sicherlich ist es an der Zeit, auch einmal einzugestehen, dass zeitliche Diktate – wie sie die „Kassenmedizin“ bei unbestrittenem Wert all ihrer Segnungen (leider) vielerorts mit sich gebracht hat – die manuelle Medizin in der Praxis manchmal ihrer Ganzheitlichkeit beraubt haben. (Hier lohnt es sich schon, einmal in die Originalliteratur der Osteopathen und auch der Chiropraktoren hineinzuschauen!) Was aber keinesfalls bedeuten darf, dass wir jetzt ein komplett neues System brauchen, das die „Philosophie der Ganzheitlichkeit“ auf der bunten Fahne vor sich herträgt.

„Osteopathische Verfahren“ isoliert zu betrachten und die Osteopathie in allen ihren auch im heutigen Konzept der Wissenschaftstheorie nicht vertretbaren Färbungen zu verfolgen, ist nicht zu verantworten. Dies war erst jüngst auf dem Council der UEMS in Brüssel wieder mit allem Nachdruck und verschärft wahrzunehmen, als der Antrag auf Installation eines MJC (Multidisciplinary Joint Committee) Manual Medicine diskutiert wurde. Martin Krismer, der Ordinarius für Orthopädie der Universität Innsbruck, hat in der Eröffnungsrede des Baden-Badener Orthopädenkongresses „Handauflegen“, Bachblüten, Homöopathie und Akupunktur in einem Satz genannt und das Wort Placebo dafür verwendet! Wir laufen Gefahr, die wissenschaftliche Anerkennung der manuellen Medizin, die unsere geistigen Väter mühsam erkämpft haben, wieder zu verspielen, wenn wir allzu kritiklos Heilslehren unergründlicher Provenienz favorisieren. Dass wir als Deutsche Gesellschaft für Manuelle Medizin von außen wieder als überwiegend uneinig wahrgenommen werden, ist bedauerlich und unserer Reputation nicht förderlich.

Wie können wir den Ruf der manuellen Medizin nach außen hin verbessern?

Honorarpolitisch ist die Verankerung der „osteopathischen Verfahren“ in der Zertifizierung der Ärztekammern ebenfalls ein Selbstversenkungsmanöver der manuellen Medizin, worüber auch scheinbare kurzfristige Landgewinne (TK, EKs ??) nicht hinwegtäuschen dürfen. Den gesetzlichen Krankenkassen wird nichts lieber sein, als alle diese Dinge in einem billigen QZV zu versenken, und die GOÄ wird schnell mit einer Pauschale nachziehen. Wie vertreten wir (die DGMM) das vor unseren Kursanten, die eine teure Ausbildung in Osteopathie gemacht haben, um privatärztlich damit tätig zu sein?

Eine tausend(!)stündige Ausbildung in osteopathischen Verfahren für Physiotherapeuten in einem Ärzteseminar für Manuelle Medizin anzubieten, ist der Sprung auf einen Zug, auf dem wir Ärzte erst einmal nichts verloren haben, was überhaupt nicht heißt, dass wir nicht auch Physiotherapeuten qualifiziert unterrichten sollen.Footnote 1 Dies aber ist eine Aktivität, die den Physiotherapeuten den sog. Primärzugang zum Patienten näherbringt. Was exakt genau das Gegenteil dessen ist, was unsere Mitglieder an berufspolitischer Vertretung von uns erwarten.

In unserem Gutachten zur Wissenschaftlichkeit osteopathischer Verfahren im Auftrag der Bundesärztekammer steht: „Osteopathie ist Bestandteil und Erweiterung der manuellen Medizin.“ Von einer gänzlich neuen Heilslehre, die die manuelle Medizin ablösen muss, ist nicht die Rede.

Was also ist zu tun?

Es wäre geraten, langfristig eine Synthese aller guten, brauchbaren und in zeitlich vertretbarem Rahmen anzuwendenden manualmedizinischen Verfahrensarten unter der Begrifflichkeit „osteopathische Verfahren in der manuellen Medizin“ oder „manuelle Medizin einschließlich osteopathischer Verfahren“ zu propagieren und damit einen Anspruch auf die funktionellen, therapeutischen Anwendungsarten manualmedizinischer und osteopathischer Techniken im seriösen, wissenschaftlichen Kontext zu reklamieren.

Diese Aufgabe trifft alle Verantwortlichen in den einschlägigen Gremien für die nächsten Jahre. Andernfalls ist zu befürchten, dass durch Diadochenkämpfe und Grabenkriege die gute und seriöse manuelle Medizin aus dem Sprachschatz der wissenschaftlichen Medizin verschwindet und gänzlich in die Hand der nichtärztlichen Heilberufe, der Heilpraktiker und der Scharlatane übergeht (was in weiten Teilen Europas schon geschehen ist und für Deutschland keinesfalls notwendigerweise herbeigeführt werden muss). Im Gegenteil wäre es ein herber Verlust für das ärztliche Tun in Deutschland, darauf verzichten zu müssen (weil der Seriosität entkleidet und nicht mehr wirtschaftlich erbringbar).

Soviel zu den aktuellen politischen Bewegungen innerhalb der manuellen Medizin, für die ein Editorial auch einmal herhalten können muss.

Das vorliegende Heft beschäftigt sich innerhalb der Serie „Translationale Forschung und manuelle Medizin“ mit der körpereigenen Schmerzhemmung. Weiterhin wird über Evidenzen für die Effekte von Feedback-Methoden beim Erlernen manueller Techniken und über die Auswirkung der Manipulation auf die sagittale Ausrichtung der Wirbelsäule berichtet. Weitere Originalarbeiten einschließlich der Literatur im Fokus und des Beitrags in der Rubrik „CME – zertifizierte Fortbildung“ runden dieses spannende Heft ab. Ich empfehle es herzlich Ihrer aufmerksamen Lektüre im Namen aller Autoren

Ihr

Hermann Locher