Einleitend ist es notwendig zu betonen, dass der Inhalt dieses Beitrags nur im Rahmen der Funktion des Bewegungssystems und dessen Störungen zu verstehen ist. In diesem Sinne möchte ich zunächst an meinen verstorbenen Freund und Mitarbeiter Vladimír Janda erinnern, der den Begriff des motorischen Stereotyps, insbesondere der „muskulären Dysbalance“ geprägt hat [3].

Wir selbst haben schon vor mehr als einem halben Jahrhundert begriffen, dass dasselbe auch für die Gelenkblockierung gilt. Nicht nur deshalb, weil sich die Stellung der Gelenke und Wirbelsegmente nach der Manipulation meist nicht ändert, sondern weil die Stellung der einzelnen Bewegungssegmente überhaupt nicht konstant ist, wie es Jirout [4] in unzähligen Fällen vor und nach einer Bewegung (Seitbeuge der HWS) zeigen konnte. In Abb. 1 wird eine deutliche Axisrotation nach Rechtsdrehung des Kopfes sichtbar. Was lässt sich aus dieser Erfahrung schließen?

Abb. 1
figure 1

Stellung des Segments C2. a Vor der Rechtsdrehung (symmetrisch), b nach Rechtsdrehung (Axisrotation)

Es gibt keine konstante Position in einem so gegliederten System, wie es die Wirbelsäule darstellt.

Die Funktion der Wirbelsäule ist nur dann normal, wenn sie jeweils die an sie gestellten Ansprüche erfüllen kann, was u. a. nach gelungener Mobilisation in der Regel gelingt und eben ihre Aufgabe ist.

Wenn wir zu der von Janda beschriebenen muskulären Dysbalance zurückkehren [3], liegt auf der Hand, dass es sich lediglich um eine Funktionsstörung handeln kann, die auf einer Fehlsteuerung durch das ZNS beruht. Die Ursache der von Janda beschriebenen muskulären Dysbalance liegt unserer heutigen Kenntnisse nach in der Entwicklung der frühkindlichen Motorik nach Vojta [14].

Beim Neugeborenen (Abb. 2 a,b) besteht vorwiegend die Aktivität der Flexoren, weshalb nicht von einer posturalen Funktion die Rede sein kann. Erst im Laufe der ersten 4 Monate entwickelt sich die Funktion der Extensoren, die eine posturale Funktion, zunächst im Liegen, ermöglicht: Der Säugling stützt sich ab (Abb. 2 c,d). Es hat sich ein Gleichgewicht zwischen Flexoren und Extensoren des Rumpfs und auch der Adduktoren und Abduktoren sowie Innen- und Außenrotatoren der Extremitäten entwickelt. Dieses Gleichgewicht ermöglicht im Weiteren die menschliche aufrechte Haltung auch im Stehen und Sitzen [5].

Abb. 2
figure 2

Säugling. a,b Neugeboren, c,d nach 3 Monaten

Die Wirbelsäule ist somit mit einem Mast vergleichbar, den muskuläre Ketten vom Becken ausgehend verspannen.

Die Wirbelsäule ist jedoch kein fester Stab, sie besteht aus 34 Wirbeln und dem Kreuzbein (Abb. 3). Wie Panjabi et al. [9, 10] zeigen konnten, sind die Verbindungen zwischen den einzelnen Wirbeln instabil, weshalb sich die Wirbel unter dem Zug der Muskelketten ausrenken müssten [11]. Um dies zu verhindern, entwickelt sich gleichzeitig mit der koordinierten Tätigkeit der Flexoren und Extensoren das „tiefe Stabilisationssystem (TSS)“. Es besteht dorsal aus den kurzen Mm. multifidi und ventral aus der Bauchhöhle ([1]; Abb. 4). Dessen Binnendruck hängt von der koordinierten Aktivität des Zwerchfells, der tiefen Bauchmuskeln und des Beckenbodens ab, die in ihrer Tätigkeit mit den Mm. multifidi verkettet sind.

Abb. 3
figure 3

Die Labilität der aufrechten Haltung: das menschliche Skelett

Abb. 4
figure 4

Die Bauchhöhle und ihre Wände

Das Zwerchfell, der wichtigste Atemmuskel, hat somit auch eine wichtige posturale Funktion [2]. Skladal et al. [12] haben das sehr prägnant ausgedrückt: Das Zwerchfell ist ein Atemmuskel mit posturaler Funktion und die Bauchmuskeln sind posturale Muskeln mit Atemfunktion. Neuerdings konnte Kolar [6] zeigen, dass Extremitätenbewegungen gegen Widerstand mit einer Kontraktion des Zwerchfells einhergehen (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Die Kontraktion des Zwerchfells im MRT [6]. Exkursion während der Ruheatmung (volle Linie), Exkursion während der Bewegung der oberen Extremität gegen Widerstand (punktierte Linie), Bewegung der unteren Extremität gegen Widerstand, größte Exkursion (gestrichelte Linie)

Das TSS beschränkt sich jedoch nicht nur auf den Rumpf.

Im aufrechten Stand spielen die Füße eine wesentliche Rolle.

Wie die Wirbelsäule besteht auch die Fußwölbung aus 12 untereinander instabilen Knochen, die lediglich muskulär stabilisiert werden können. Hier spielen die Flexoren des Fußes und insbesondere der Zehen die entscheidende Rolle. Bei der Vorwärtsneigung des Körpers kommt es normalerweise zur reflektorischen Flexion der Zehen, die offensichtlich einen Sturz nach vorwärts verhindern soll (Abb. 6; [13]). Klinisch wird die Fußwölbung im Gehen von der medialen Seite her untersucht. Hier ist das Durchsacken während des Ganges entscheidend – der „funktionelle Plattfuß“ (Abb. 7; [8]).

Abb. 6
figure 6

Zehenflexion bei Rumpfvorneigung (Vele-Test) fehlt links. a Fotografie, b Pedobarographie

Abb. 7
figure 7

Fußwölbung während des Gehens, Messung mit dem Pedobarographen. a Vor Instruktion ist der Abdruck breiter. b Nach der Instruktion, die laterale Fußkante wahrzunehmen, ist der Abdruck schmaler, die Fußwölbung also höher (Häkchen)

Was im Hinblick auf den aufrechten Stand für die Füße und den Rumpf bedeutsam ist, gilt bezogen auf die oberen Extremitäten für den Brustkorb und das Schulterblatt. Für das Schulterblatt ist vor allem die Aktivität des unteren (aszendierenden) Anteils des M. trapezius und des M. serratus anterior verantwortlich. Klinisch wird untersucht, ob der Patient im Vierfüßlerstand fähig ist, die Schulterblätter in der Abduktion zu stabilisieren. In der Bauchlage wird die Bewegung der Schulterblätter und der oberen Extremitäten nach kaudal untersucht. Dabei soll sich der untere Winkel des Schulterblatts nach kaudal und medial, nicht jedoch nach medial und dorsal bewegen (Abb. 8). Auch beim Vorwärtsheben der Arme sollen die Schultern nicht hochgezogen werden.

Abb. 8
figure 8

Die Insuffizienz des aszendierenden (unteren) Anteils des M. trapezius und M. serratus anterior deutlich links

Die zarte HWS trägt den Kopf, der mit den okzipitalen Kondylen auf den Gelenkflächen des Atlas balanciert. Für Stabilität sorgen an erster Stelle die kurzen Muskeln des kraniozervikalen Übergangs, nach kaudal die tiefen Halsmuskeln.

Die natürlichste Form der dynamischen Stabilisation ist das Tragen von Lasten auf dem Kopf.

Für die Willkürbewegungen sind vor allem lange Muskeln, die zwei und mehr Gelenke überspannen, verantwortlich; sie stehen unserem Willen unmittelbar zur Verfügung. Die Muskeln des TSS hingegen sind durchweg kurze Muskeln, die nur ein Gelenk überspannen; sie kontrahieren automatisch. Obwohl sie ebenfalls quergestreifte Muskeln sind, stehen sie unserem Willen nicht unmittelbar zur Verfügung. Es erfordert oft längere Übung, diese Muskeln willkürlich zu beherrschen. Sehr anschaulich kann dies an den Beugemuskeln der Zehen demonstriert werden: Wie schon erwähnt, beugen sich diese bei der Vorneigung des Rumpfs automatisch, um einen Sturz nach vorwärts zu vermeiden. Nicht selten fehlt dieser Reflex. Wenngleich der Patient in diesen Fällen nicht die geringste Schwierigkeit hat, seine Zehen mit normaler Kraft zu beugen, muss er mühsam erlernen, sie beim Vorneigen zu flektieren.

Die Stabilisation im Mittelpunkt des Interesses

In der Regel verschwinden die typischen Verkettungen von Triggerpunkten (TrP) und Blockierungen, wenn es gelingt, das TSS in seiner Funktion zu normalisieren, und jegliche Mobilisation (Manipulation) erübrigt sich. Daraus geht hervor, dass TrP und Blockierungen meist eine schmerzhafte Kompensation für ungenügende Stabilität darstellen, indem sie die Bewegung einschränken. Dabei sind die TrP die wesentlichste Ursache funktioneller Bewegungseinschränkungen oder Blockierungen, wie aus den physiologischsten neuromuskulären Mobilisationstechniken mithilfe gezielter Relaxation hervorgeht. In aller Prägnanz drücken wird das heute folgendermaßen aus:

Eine Blockierung oder ein TrP ist keine Diagnose, die uns zur Therapie berechtigt. Wir müssen die Zusammenhänge und Ursache erkennen!

Um ein peripheres Gelenk oder ein Bewegungssegment der Wirbelsäule zu stabilisieren, ist ein TrP in den Agonisten und Antagonisten, die das Gelenk oder das Bewegungssegment beherrschen, notwendig. Wenn sich bei Schmerzen im Ellbogen ein TrP im M. biceps findet, muss auch ein TrP im M. triceps bestehen – es liegt dann eine Bewegungseinschränkung vor, insbesondere eine eingeschränkte Extension, es fehlt das „joint play“ im Ellbogen. Einem TrP im M. pectoralis entspricht ein TrP im M. erector spinae im entsprechenden Bewegungssegment. Kommt es jedoch zu Störungen im TSS, handelt es sich um eine Störung der aufrechten Haltung. Diese führt dann zu Verspannungen der langen Muskelketten, die die aufrechte Haltung stabilisieren.

Störungen im TSS sind somit die bedeutsamste Ursache von Verkettungen von TrP und Blockierungen.

Im Bereich des Rumpfs ist an erster Stelle die Atmung, d. h. die koordinierte Tätigkeit von Zwerchfell und M. transversus abdominis gestört. Am häufigsten befinden sich TrP in den Mm. pectorales und den Rückenstreckern, typisch in den M. scaleni und den oberen Fixatoren des Schultergürtels (Hochatmung).

Sehr charakteristisch ist die Verkettungsreaktion bei Dysfunktionen des Fußes: Triggerpunkte und Blockierungen befinden sich im Bereich der Planta und dorsal zwischen den Ossa metatarsalia, blockiert ist dabei das Lisfranc-Gelenk, weitere TrP sind im M. soleus und dorsal in den Fußextensoren zu finden, die weitere Blockierung betrifft das Fibulaköpfchen mit TrP in den ischiokruralen Muskeln und im M. rectus femoris. Am Rumpf sind es der M. rectus abdominis und die langen Rückenstrecker sowie zervikal die Mm. sternocleidomastoidei und die Extensoren mit Blockierungen zervikal, oft in den Kopfgelenken. Typischerweise besteht eine Vorhaltung (Abb. 9). Hierzu gibt es einen diagnostischen Test: Die Vorhaltung hat eine Verspannung der dorsalen Halsmuskeln zufolge, diese besteht nur im Stehen; im Sitzen – nach Ausschalten der unteren Extremitäten – ist sie nicht mehr zu tasten. Liegen in diesen Fällen klinische Symptome vonseiten der HWS vor, ist die Ursache unterhalb des Beckens zu suchen.

Abb. 9
figure 9

Die Vorhaltung a vor und b nach Behandlung der Füße. (Aus [7], mit freundl. Genehmigung von Elsevier, München)

Therapeutische Konsequenzen

Im Rumpfbereich wirkt sich die Inkoordination von Zwerchfell und tiefer Bauchmuskulatur besonders pathogen aus und fällt auf den ersten Blick als klavikuläre oder Hochatmung auf. Die Folge ist die Destabilisierung des Rumpfs und die Überlastung der HWS.

Erste Aufgabe ist es dann, die normale Atmung wiederherzustellen.

Der Patient lernt, den Bauchraum und den Brustkorb zu erweitern und während des Einatmens den M. transversus abdominis und M. obliquus abdominis (exzentrisch) anzuspannen. Zum Üben bewährt sich ein Spiegel, der Patient kontrolliert gleichzeitig die Anspannung der tiefen Bauchmuskeln mit seinen Händen in der Taille.

In Bauchlage übt der Patient beim Hochheben des Kopfes und seiner Schultern, nicht nur den M. erector spinae, sondern gleichzeitig den M. transversus abdominis anzuspannen. Auch hier wird die Anspannung des M. transversus abdominis mit den eigenen Händen kontrolliert.

Im Bereich der Füße trainiert der Patient die automatische Beugung der Zehen während der Vorneigung und deren Entspannung im aufrechten Stand (Abb. 9). Beim Durchsacken der Fußwölbung während des Gehens lernt er, nachdem seine Ferse den Boden berührt hat, den Außenrand des Fußes nur wahrzunehmen und sich am Ende des Abrollens in Pronation und auch mithilfe der Zehen abzustoßen. Bei beginnendem Hallux valgus kann die Abduktion der großen Zehe (und auch der kleinen) geübt werden.

Für die Fixation der Schulterblätter wird der untere Anteil des M. trapezius und des M. serratus anterior trainiert, auch im Vierfüßlerstand (Abb. 10).

Abb. 10
figure 10

Stabilisierung der Schulterblätter im Vierfüßlerstand

Zur Stabilisierung der oberen HWS wird dem Patienten eine Schütteltechnik vermittelt, die er mit seinen eigenen Händen ausführt (Abb. 11). Diese Schüttelung des Kopfes bewirkt eine äußerst effektive propriozeptive Stimulation der posturalen Muskeln vor allem der oberen HWS, wie beim Tragen von Lasten.

Abb. 11
figure 11

Schüttelung des Kopfes (Selbstbehandlung) in Richtung der HWS-Längsachse zur Stabilisation der oberen HWS

Schlussbemerkungen

Abschließend sei betont, dass das TSS bei Weitem nicht die einzige Ursache für Funktionsstörungen des Bewegungssystems darstellt. Es ist nicht einmal die einzige Ursache für typische Verkettungsreaktionen. Auch Weichteilveränderungen von Faszien, insbesondere aktive Narben, Funktionsstörungen von Extremitäten und Viszera sind von Bedeutung.

Besonders wichtig sind zentrale Störungen der Körperwahrnehmung. Ohne diese Wahrnehmung sind eine gute Koordination und die Beherrschung der posturalen Funktionen nicht möglich. Hier spielt auch die Fähigkeit der Relaxation eine herausragende Rolle. Dabei zeigt sich am deutlichsten der Einfluss kortikaler Steuerung.

Am Beispiel des TSS ist deutlich zu erkennen, dass Blockierungen und TrP meist sekundärer Natur sind und dass Funktionsstörungen, die Gegenstand vorwiegend physiologischer Behandlungsmethoden sind, ein wesentlich komplexeres Problem darstellen, mit dem sich Ärzte befassen sollten. Es birgt eine Vielzahl an Möglichkeiten neuer Entdeckungen und des Fortschritts.