Nach mehrjähriger unheilbar progredienter neurodegenerativer Erkrankung starb Prof. Dr. med. Baldur Wiebecke (Abb. 1) am 1. Juli 2020 in seinem 87. Lebensjahr in München.

Abb. 1
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Baldur Wiebecke

Baldur Wiebecke wurde als zweites von vier Kindern (1 Tochter, 3 Söhne) des Ehepaars Dr.-Ing. Walter und Martha Wiebecke, geb. Schröder, am 11. Juni 1934 in Eschweiler, Kreis Aachen, geboren. Eine berufliche Versetzung des Vaters nach Oberschlesien beendete das bis dahin ohne tiefere Einschnitte geführte heimatgebundene Leben der Familie, die den Familienvater begleitete. Baldur Wiebecke durchlief ab 1940 die vierjährige Grundschule in Mittel-Suchau (polnisch Sucha Sredvin) und besuchte ab 1944 die Oberschule in Teschen (polnisch Cieszyn), einer benachbarten größeren Stadt mit bewegter polnisch-deutsch-tschechischer Geschichte. Nach von Kriegsgefahren bedrohter, aber letztlich unversehrt verlaufener Flucht der Mutter mit den vier Kindern im Januar 1945 zur Großmutter im Westerwald und später folgender Familienzusammenführung mit dem Vater war Baldur Wiebecke von 1946 bis 1953 Schüler der Gymnasien in Weilburg/Lahn, Dortmund und Witten/Ruhr. Dort beendete er 1953 seine Schulzeit mit dem Abitur.

Ab 1953 studierte er in Göttingen, in Wien und München Humanmedizin. Anfangs hatte er sich für zwei Semester an der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen immatrikuliert. Sein Medizinisches Staatsexamen absolvierte er 1960 an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München. Im gleichen Jahr heirateten er und die Kommilitonin Ilse Schulze, die spätere Augenärztin in eigener Praxis Dr. med. Ilse Wiebecke, in München. Die beiden hatten sich in Göttingen im Präparierkurs des Anatomischen Instituts kennengelernt. Die Ehe bestand bis zu seinem Tod 60 Jahre. Von 1960 bis 1963 setzten sie ihre berufliche Wanderschaft fort. Nach der damals zweijährigen Medizinalassistenz in Krankenhäusern in Einbeck und Singen/Hohentwiel und der Erteilung der Approbation als Arzt im Jahr 1962 begann sein Ein- und Aufstieg in der Pathologie. Baldur Wiebecke arbeitete für ein Jahr als wissenschaftlicher Assistent in dem Pathologischen Institut des Städtischen Krankenhauses in Singen unter der Leitung des von ihm sehr geschätzten Prof. Rübsamen. Wie seinen eigenen retrospektiven Kommentaren zu entnehmen war, hat er die gründliche Einführung in die klinische Pathologie durch Prof. Rübsamen als sehr motivierend bewertet. Sein Entschluss, seinen beruflichen Weg an einem Universitätsinstitut fortzusetzen, wurde offenbar nicht zuletzt durch dessen Rat unterstützt.

Von 1963 bis 1966 arbeitete Baldur Wiebecke am Pathologischen Institut der LMU München (Direktor Prof. Dr. Walter Büngeler) und befasste sich wissenschaftlich hauptsächlich mit Fragen der experimentellen Kanzerogenese. Daraus ergab sich unter anderem das Thema seiner Dissertation „Autoradiographische Untersuchungen während der experimentellen Carcinogenese im Respirationstrakt des Goldhamsters durch Behandlung mit Diäthylnitrosamin“ (Betreuer Prof. Dr. med. Dontenwill). Im Juni 1966 erfolgte seine Promotion zum Dr. med. an der Medizinischen Fakultät der LMU München.

Auf Einladung von Prof. Dr. Max Eder, der von der Universität zu Köln auf den dortigen Pathologie-Lehrstuhl berufen worden war und 1966 die Leitung des Pathologischen Instituts übernommen hatte, folgte Baldur Wiebecke ihm im gleichen Jahr nach Köln, wo er seinen Berufsweg bis 1970 fortsetzte. In dieser Zeit erweiterte er sehr erfolgreich seine fachliche und diagnostische Kompetenz in der ganzen Breite der klinischen Pathologie. Im Rahmen seines wissenschaftlichen Hauptthemas, der Tumorpathologie, konzentrierte er seine Forschungsaktivität auf die Pathologie des Gastrointestinaltrakts, insbesondere die damals nur lückenhaft bekannte Kanzerogenese in diesem Bereich. Mit jeweils verfügbarer aktueller, teilweise selber weiterentwickelter Methodik gelang es in experimentellen und klinisch-pathologischen Untersuchungen beispielsweise Fragen der formalen Pathogenese und der biologischen Eigenschaften hyperplastischer Polypen, der unterschiedlichen Adenomformen des Dickdarms, zu klären und insbesondere weiterführende Befunde zur Adenom-Karzinom-Sequenz zu erarbeiten. Überdies ergaben sich Argumente für das Vorkommen der kontrovers diskutierten sog. De-novo-Carcinogenese. Die Forschungsresultate wurden in internationalen Fachjournalen publiziert und in zwei Kapiteln des zu jener Zeit als wichtige Informationsquelle dienenden Handbuch der Allgemeinen Pathologie zusammengefasst. Die hier nur stichwortartig angedeuteten, vielfach neuartigen Forschungsergebnisse lösten große internationale Aufmerksamkeit aus und bildeten das Fundament für seine weiteren wissenschaftlichen Arbeiten und für seinen fortdauernden Ruf als hervorragender Sachkenner der Pathologie des Gastrointestinaltrakts.

Seiner 1970 erfolgten Habilitation an der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln mit der Erteilung der Venia Legendi lagen Teile der in den Jahren zuvor gewonnenen Untersuchungsergebnisse zugrunde. Titel der Habilitationsschrift: „Morphologische und autoradiographische Untersuchungen zur physiologischen und pathologischen Epithelregeneration und zur Polypenentstehung des Darms“.

Danach wechselte er im Oktober 1970 an das ihm von seiner früheren Tätigkeit gut bekannte Pathologische Institut der LMU München, das Prof. Dr. Max Eder vom Frühjahr des gleichen Jahres bis zu seiner Emeritierung 1991 leitete. Baldur Wiebecke setzte seine ärztliche und akademische Karriere zügig fort, im Folgenden anhand einiger Daten knapp skizziert: 1972 Facharztanerkennung als Pathologe, 1974 Abteilungsvorsteher, 1975 Beamter auf Lebenszeit, 1976 Außerplanmäßiger Professor, 1982 C‑3-Professor. Die studentische Lehre war für ihn auch bereits vor der Verleihung der Professortitel eine selbstverständliche Aufgabe, die er freudig erfüllte. Seine Unterrichtsveranstaltungen wurden von den Studierenden nicht zuletzt auch wegen seines Humors sehr geschätzt.

Seine wissenschaftliche Qualifikation und seine breit gefächerte Expertise in der klinischen bzw. diagnostischen Pathologie gepaart mit der Fähigkeit und Bereitschaft, jüngere Mitarbeiter/innen teilhaben zu lassen und anzuleiten, waren die hier nur beispielhaft genannten Voraussetzungen dafür, dass ihm frühzeitig die Aufgaben eines Leitenden Oberarztes übertragen wurden. Sein vorzügliches Organisationsgeschick half ihm, sich maßgeblich an der erfolgreichen Etablierung eines zweiten Institutsteils an dem neuen Klinikum Großhadern zu beteiligen, das Mitte der 1970er-Jahre als zweiter Standort zu dem Klinikum Innenstadt der LMU München in Betrieb ging.

Die Funktion eines Leitenden Oberarztes und Stellvertreters des Direktors in dem großen Pathologischen Institut der LMU München mit zwei Standorten und die Zuständigkeit für die klinische und wissenschaftliche Zusammenarbeit mit einem aus zwei Teilen bestehenden Großklinikum der Maximalversorgung erforderte außer einer exzellenten Sachkenntnis und einem tragfähigem Verantwortungsbewusstsein ein hohes Maß an Engagement. Diesen Herausforderungen wurde Professor Baldur Wiebecke bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1999 in vollem Umfang gerecht. Er erwarb sich dadurch hohes Ansehen und großen Respekt über die Grenzen des Pathologischen Instituts hinaus. Seiner zurückhaltenden, souveränen Art entsprechend nahm er das zwar vielleicht zur Kenntnis, aber nicht zum Anlass, sich damit zu zieren. Qualität betrachtete er als vorrangiges Kriterium, Quantität als meistens nebensächlich. Das galt für ihn offenbar auch hinsichtlich der Publikationsaktivität.

Nach seiner Pensionierung blieb er zwar in Kontakt mit seiner langjährigen beruflichen Heimat, aber auf Distanz zum aktuellen Geschehen. Gemeinsam mit seiner Frau nutzte er den nun größeren zeitlichen Freiraum. Sie widmeten sich ihrem großen Garten, vor allem aber pflegten sie ihre Reise- und Wanderlust und ihre sportlichen Vorlieben, insbesondere den Skilanglauf, das Schwimmen und das erst nach der Pensionierung für sich entdeckte Golfspiel. Die nun häufigeren Treffen und Feiern im Familien- und Freundeskreis bereicherte Baldur Wiebecke mit seiner profunden Allgemeinbildung, seinem gelegentlich mit Ironie gewürzten Humor und seiner offenen Art. Dieses zeitweise pralle Pensionärsleben wurde bereits einige Jahre vor dem Tod von Baldur Wiebecke von verschiedenen gesundheitlichen Problemen beider Ehepartner beeinträchtigt. Eine unheilbare neurodegenerative Krankheit, die er lange mit der ihm eigenen stoischen Gelassenheit und Würde ertragen hat, führte letztlich zu seinem Tod ohne Kampf.

Baldur Wiebecke hat in meinem Leben eine besondere Rolle gespielt, denn wir haben für etwa ein Vierteljahrhundert in gleichen oder verschiedenen Funktionen zusammengearbeitet und waren in fester, belastbarer Freundschaft verbunden. In der gesamten Zeit habe ich ihn als klugen, stets fairen Kollegen und zuverlässigen Freund erlebt. Besonders in den Jahren von 1991, als mir mit der Berufung auf den Lehrstuhl die Leitung des Pathologischen Instituts der LMU übertragen worden war, bis zu seiner Pensionierung 1999 war seine uneingeschränkte Loyalität und seine Unterstützung als Leitender Oberarzt für mich eine nicht hoch genug einzuschätzende Hilfe. Allein dafür wäre ich ihm in fortdauernder Dankbarkeit verbunden. Baldur Wiebecke war ein herausragender Pathologe und Wissenschaftler mit vielen guten Eigenschaften, kurz: eine großartige, facettenreiche Persönlichkeit.

Prof. Dr. Baldur Wiebecke wird all denen, die ihn kennenlernen und nahe sein durften, in dauernder Erinnerung bleiben.

Udo Löhrs

München