Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

der Begriff  „Hodentumor“ wird im medizinischen Alltag allgemein als Synonym für Keimzelltumoren verwendet, nicht ganz zu Unrecht, da diese etwa 90% aller intraskrotalen Tumoren ausmachen und zumindest aus der Studienzeit allen Medizinern in Erinnerung geblieben sind. Folgt man der Definition, dass seltene Krankheiten nur bei einem von 1500 Menschen vorkommen, fallen Keimzelltumoren sogar in den Ländern mit höchster Inzidenz in diese Kategorie. Andere Tumoren, die im Hoden oder seinen Adnexen auftreten können, sind, mit Ausnahme der häufigeren Tumoren des gonadalen Stromas, aus gelegentlichen kasuistischen Beiträgen nur Superspezialisten bekannt und spielen in der klinischen Medizin nur für die betroffenen Patienten eine wichtige Rolle. Das heißt aber, dass die überwiegende Zahl der Pathologen sowohl Keimzelltumoren als auch andere Raritäten nur selten zu sehen bekommt.

Im Vorwort zu ihrer Monographie schrieben 1990 Young und Scully, Hodentumoren wären von großem Interesse sowohl für die Pathologen als auch für die Kliniker. Für die Letzteren, weil diese Tumoren hochmaligne sind, aber sehr gut auf die Therapie ansprechen, für die Pathologen, weil die meisten vom Keimzellenursprung sind und in mehrere Richtungen differenzieren können. Die Therapie der Hodentumoren ist tatsächlich eine der ganz großen Erfolgsgeschichten der Medizin, gleichzeitig aber wahrscheinlich auch eine der Ursachen dafür, dass die Pathologen weitgehend das Interesse für diese Tumoren verloren haben. Während beim Blasen- und Prostatakrebs die Bestimmung des therapieentscheidenden Malignitätsgrads täglich unsere ganzen analytischen Fähigkeiten fordert, brauchen wir für Hodentumoren nach Meinung vieler Kliniker nur zwischen den Diagnosen „Seminom“ und „Nichtseminom“ zu unterscheiden. Die Wahl zwischen diesen zwei Möglichkeiten bedarf keiner geistigen Anstrengung und ist manchmal eine „Prima-vista-Diagnose“.

Die Erfolge der Radio-/Chemotherapie lassen allerdings vergessen, welche Spätfolgen diese Therapie für die Betroffenen hat; sie erkranken wesentlich häufiger am metabolischen Syndrom, erleiden häufiger Herzinfarkte und öfter als andere tödliche Zweitneoplasien. Dabei könnte man auf Grund eines pathologischen Befundes, in dem die prognostischen Merkmale des Keimzelltumors angeführt werden, fast der Hälfte dieser Patienten die Chemotherapie ersparen bzw. durch sorgfältige Beobachtung („surveillance“) ersetzen. Deswegen wird in diesem Heft, ganz im Sinne einer klinisch orientierten Pathologie, auch ein mit dem Thema vertrauter Kliniker zur Bedeutung unserer Diagnosen für die Therapie Stellung nehmen.

Die Faszination der Keimzelltumoren liegt nicht nur in ihrer wandelbaren Gestalt, die sich manchmal zu kleinen Monstern (griechisch τερασ), wie sie Virchow nannte, entwickeln, sondern auch in ihrer noch immer geheimnisumhüllten Ätiologie und Histogenese. Interessanterweise findet die Forschung auf diesem Gebiet fast nur in Europa statt, und hier nicht sehr überraschend vorwiegend in den skandinavischen Länder, die auch die höchste Inzidenz dieser Tumoren aufweisen.

Den wesentlichen Schritt zum Verständnis der Histogenese hat Skakkebaek 1972 mit der Entdeckung des „Carcinoma in situ“ (korrekt: intratubuläre Keimzellneoplasie) des Hodens gesetzt. Es wurde klar, dass mit Ausnahme der kindlichen Keimzelltumoren und des spermatozytären Seminoms alle anderen histologischen Typen sich aus einer Zelle entwickeln. Eine weitere Bestätigung dieser Theorie erfolgte mit der Beschreibung des Isochromosoms 12p [i(12p)], das atypische Gonozyten des Carcinoma in situ erst befähigt, invasiv zu wachsen.

Während die Vorstellungen über die Onkogenese der Keimzelltumoren immer präziser werden, sind die letztlichen Ursachen deren Entstehung noch immer unbekannt. Kryptorchismus, familiäre Häufung, Intersex und kollaterale Keimzelltumoren sind bekannte Risikofaktoren, die statistisch untermauert sind, aber sehr wenig über die Mechanismen der Onkogenese aussagen. Von skandinavischen Forschern wird v. a. die Umweltverschmutzung dafür verantwortlich gemacht, was epidemiologisch mehr oder weniger stark untermauert ist, über die mögliche Karzinogene sind aber die Aussagen wenig konkret.

Im Gegensatz zu den Keimzelltumoren, von denen vieles bekannt ist, scheinen die Keimstranggonadenstromatumoren eine Laune der Natur darzustellen. Mit 3–6% aller intraskrotalen Tumoren sind sie extrem selten, was die Erforschung der Ursachen erschwert und es deswegen nicht verwunderlich ist, dass Epidemiologie, Ursachen, molekulare Vorgänge und irgendwelche charakteristischen Chromosomenaberrationen weitgehend unbekannt sind. Für maligne Varianten fehlt jegliche Therapie, im Gegensatz zu den Keimzelltumoren haben diese Patienten eine infauste Prognose.

Aus thematischen Gründen bleiben in diesem Heft die malignen Lymphome des Hodens unerwähnt, obwohl sie nach dem 50. Lebensjahr den häufigsten intraskrotalen Tumor darstellen und insgesamt in großen Serien gleich häufig wie Keimstranggonadenstromatumoren sind. Obwohl alle bekannten Lymphomtypen und sogar Leukämien im Hoden vorkommen, sind diffus-großzellige Lymphome der B-Reihe mit über 90% am stärksten vertreten. Sie haben die unangenehme Eigenschaft der ZNS-Rezidive mit der damit verbundenen schlechten Prognose.

Diese Ausgabe des Pathologen sollte das Interesse für die Hodentumoren neu wecken und als Wegweiser im diagnostischen Alltag dienen und vielleicht die Botschaft vermitteln, dass Hodentumoren mehr sind als „Seminom“ und „Nichtseminom“!

Ihre

Prof. Dr. Gregor Mikuz

PD Dr. Stefan Schweyer