Liebe Leserinnen und Leser,

seit über 30 Jahren pflege ich Kontakte zu russischen und ukrainischen Wissenschaftlern und bereise beide Länder. Deswegen ist es mir gerade jetzt ein Anliegen, über Informatikaspekte der Rechnertechnik zu berichten.

Im September 1991, kurz nach dem Augustputsch, der das Ende der Sowjetunion einleitete, war ich erstmals zu einer Konferenz in Russland: PaCT – Parallel Computing Technologies, eine neu ins Leben gerufene internationale Konferenzserie, die bis letztes Jahr existierte. Ebenfalls unter den Teilnehmern war Prof. Wolfgang Händler von der Universität Erlangen. Es war die Zeit der ersten größeren Parallelrechner. Neben Intel gab es in Europa die Firma Inmos, die Prozessoren entwickelte, namentlich den Transputer, aus denen Parallelrechner konstruiert wurden. Die Sowjets hatten keinen Zugang zu dieser Technologie, man erzählte mir aber, dass man sie sich auf gewissen Wegen über andere europäische Länder beschaffen könne. Zwar seien diese Chips nicht immer vollständig funktional, aber mit etwas Improvisationstalent könne man sie trotzdem ganz gut nutzen.

Im Jahr 2010 hielt ich in Kiev am Glushkov Institute of Cybernetics einen Vortrag, der auch die Entwicklung der Rechnerleistung betrachtete. Ausgewählt hatte ich sowjetische Rechner. Die zwei herausragenden Modelle „Kiev“ und „Dnepr“ waren in der Ukraine unter der Leitung von Glushkov, dem Vater der sowjetischen Informationstechnologie und Computertechnik, entwickelt worden. Im Jahr 1957 entstand der röhrenbasierte Universalrechner Kiev, auf dem erstmals auch Bildverarbeitung und Mustererkennung zur Anwendung kamen. Dnepr war 1961 der erste halbleiterbasierte Universalrechner und konnte zu diesem Zeitpunkt auf den technologischen Entwicklungsstand der Amerikaner aufschließen. Glushkov wurde in Rostow am Don geboren, unweit von Mariupol. Er gilt zu Recht als einer der Mitbegründer der Informatik, nicht nur in der ehemaligen UdSSR, sondern auch international.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat sich in den letzten 30 Jahren in Russland eine ordentliche IT-Branche entwickelt. International wettbewerbsfähige Hochleistungsrechner produziert beispielsweise die Russian Supercomputer Group RSC auf der Basis von Intel-Prozessoren.

Bereits 2014 nach der Annexion der Krim und den darauffolgenden Sanktionen hatte Russland verkündet, eigene Hardware- und Softwareentwicklungen voranzutreiben, um unabhängig von ausländischer Technologie zu werden. MCST entwickelte den Elbrus-Prozessor auf Basis einer VLIW-Architektur und Baikal Electronics ein ARM-basiertes System-on-a-Chip.

Die jüngsten Ereignisse hatten zur Folge, dass sich die führenden Prozessorlieferanten Intel, AMD und TSMC aus dem russischen Markt zurückgezogen haben. Dies erfolgte bereits Anfang März. Die jüngsten Sanktionen der britischen Regierung betreffen nun auch den Zugang zu ARM-Prozessortechnologie. Architekturlizenzen und CPU-Kerndesigns dürfen nicht mehr an russische Firmen verkauft werden. Zwar könnte die neueste Baikal-Generation weiterentwickelt werden, jedoch dürfte sich kein Chipauftragsfertiger finden lassen.

RSC hat kürzlich eine Pressemitteilung über die Vorstellung eines Parallelrechners basierend auf Elbrus herausgegeben. Die Prozessortechnik liegt aber bezüglich der Leistung weit hinter westlichen Prozessoren zurück. Eine Analyse der SberInfra, die die Technik der russischen Sber-Bank bereitstellt, hatte im Dezember 2021 in einem Vergleich mit Intel die erheblichen Defizite analysiert. Elbrus basiert auf einer 28 nm-Technologie, die im Westen vor über 10 Jahren eingesetzt wurde.

Und so führt der russische Angriffskrieg in der Ukraine auch prozessortechnisch zu einem Epochenwandel, der in Kürze die ganze russische Gesellschaft ergreifen wird. Die Ukraine jedoch wird sich enger an den Westen anschließen und in der Informatik ihre Kooperationen zum Nutzen der Gesellschaft ausbauen.