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Mit Manfred Paul ist einer der deutschen Pioniere der Informatik von uns gegangen, geb. 25.04.1932 in Berlin, gest. 18.09.2021 in Füssen. Er war seit Ende der 1950er-Jahre in der Gruppe um F. L. Bauer, Richard Baumann, Klaus Samelson und Heinz Schecher ältester Mitarbeiter für die ja erst im frühen Entstehen begriffene Informatik. Paul legte 1958 sein Diplom als Mathematiker an der (damals noch) TH München ab und folgte sogleich seinem akademischen Lehrer Bauer bei dessen Ruf an die Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Mitarbeiter.

Er wirkte bei der Definition der ihrer Zeit weit vorausgreifenden problemorientierten Programmiersprachen ALGOL 58 und ALGOL 60 mit. Bereits seit 1958 konstruierte er im Alleingang deren Interpreter bzw. Übersetzer für die ZUSE Z22 – mit Lochstreifen-Eingabe und nur 8 K Worten à 38 Bits Arbeitsspeicher auf einer Trommel, einsatzfähig schon Ende 1960. Bis 1964 erarbeitete er, teils an der University of Illinois in Urbana-Champaign und teils wieder zurück in München, zusammen mit Hans-Rüdiger Wiehle, David Gries und Rudolf Bayer den ALGOL-Übersetzer inklusive rekursiver Prozeduren für die IBM 7090 in Garching.

Weil sich die der Sprache ALGOL 60 anfangs zugrunde gelegte kontextfreie Grammatik (damals BNF, Backus Normal Form genannt) und damit auch die Programmiersprache als mehrdeutig herausstellten, arbeitete Paul an der Revision von ALGOL 60 mit und entwickelte den Begriff der eindeutigen Grammatik mithilfe sogenannter kanonischer Reduktionsfolgen, worin sich die pulsierenden Keller- resp. Stapelinhalte nach Bauer und Samelson und die monoton schrumpfenden Lesespeicherinhalte widerspiegeln. Dies führte im Frühjahr 1962 zu seiner Promotion mit der Dissertation Zur Struktur formaler Sprachen.

Nach kurzer Zeit als Associate Professor in Urbana habilitierte sich Manfred Paul 1968 an der TH München mit einer automatentheoretischen Schrift für das Fach Mathematik. Nach Ablehnung eines Rufs an die TU Berlin wurde er 1970 als ordentlicher Professor auf den neugeschaffenen allerersten Lehrstuhl für Informatik an der TU München berufen – Bauer und Samelson blieben vorerst weiter auf ihren Professuren für Höhere Mathematik.

Zu Beginn 1968 hatte Paul mitgewirkt, die Abteilung Mathematik zu gründen, die dann 1974 zur Fakultät für Mathematik, 1980 zur Fakultät für Mathematik und Informatik wurde; seit 1992 ist diese aufgeteilt in die Fakultät für Mathematik und die Fakultät für Informatik, letztere heute mit über 7400 Studenten. In den Jahren des Aufbaus diente Paul 1984–1986 als Dekan der gemeinsamen Fakultät. Von 1982 bis in die 1990er-Jahre hatte er in der Raum- und Baukommission der TUM die vielen verstreuten Anmietungen durchzusetzen.

Schon zuvor war er (Mit‑)Gründer der Working Group WG 2.1 (Algorithmic Languages and Calculi) der IFIP (International Federation of Information Processing) und deren Chairman 1969–1975 gewesen. Auch für die WG 2.2 (Formal Description of Programming Concepts) agierte er als (Mit‑)Gründer, was 1974 zu seiner Ehrung mit dem IFIP Silver Core Award führte. Er wurde danach von 1977–1986 Chairman des Technical Committee 2 „TC 2“. Seit Anfang der 2000er-Jahre verleiht das IFIP TC 2 jährlich einen Preis, den IFIP TC2 Manfred Paul Award for Excellence in Software. Seit 1973 übernahm er die Funktion eines deutschen Repräsentanten in den IFIP-Gremien.

Schon 1 Jahr nach seiner Ernennung zum Professor wurde Manfred Paul zum Vorsitzenden der Gesellschaft für Informatik (GI) gewählt. Er war damit 1971–1973 der erst zweite Vorsitzende, nach Günter Hotz, und dann stellvertretender Vorsitzender 1973–1975. Von Bd. 10 bis Bd. 18 der Acta Informatica, also etwa 1978–1983, wirkte er als deren Editor in Chief.

Manfred Paul organisierte die GI-Jahrestagungen 1981, 1987, 1989. Beim ersten Mal, 1981, war es der frühe Tod von Klaus Samelson, der Paul dazu zwang, die kombinierte GI-ECI-Tagung (European Co-Operation in Informatics) in Verbindung mit der SYSTEMS organisatorisch zu übernehmen; F. L. Bauer fungierte als Leiter der Tagung. Die Verbindung mit der SYSTEMS in München kam auch 1987 und 1989 zum Tragen, wobei Paul dann jeweils Tagungsleiter war.

Als einer der ersten hat 1973 Stephan Heilbrunner bei Manfred Paul promoviert; gleich danach wurde dieser Assistenzprofessor an der Bundeswehrhochschule München in Neubiberg (später Universität der Bundeswehr), dann Professor in Duisburg und Ordinarius in Salzburg, ist aber 1996 viel zu früh der Leukämie erlegen. Ein nachfolgender Promovend war Ernst W. Mayr – danach am MIT und in Stanford, Professor in Frankfurt am Main, schließlich zurück an die TUM berufen, Leibniz-Preisträger und Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Im Jahr 1990 promovierte bei ihm Holger Schlingloff, den es nach Habilitation zur Professur an der Humboldt-Universität führte. Andere Absolventen und Mitarbeiter erreichten hohe Positionen in der Wirtschaft, u. a. im Springer-Verlag, bei Siemens und der IBM.

Sehr früh war Manfred Paul am SFB 49, dem damals einzigen Informatik-Sonderforschungsbereich in Deutschland, beteiligt. In der Spätzeit seines Ordinariats gab es 2 größere Forschungsgruppen an seinem Lehrstuhl: Die ParMod-Gruppe (Parallele Programmierung und verteilte Systeme), die auch am SFB 342 im Teilprojekt B2 „Parallelisierung von Datenbanksystemen“, in Zusammenarbeit mit Rudolf Bayer, beteiligt war, und die Gruppe InTuSys (Intelligente Lehrsysteme).

Zwei Monate vor seinem Tod hat Manfred Paul in Füssen, wo er nach seiner Emeritierung seit vielen Jahren lebte, einer Allgäuer Zeitung ein Interview gegeben. Er erwähnte dabei Konrad Zuse, der ja gegen Kriegsende gezwungen war, seine Rechenmaschine Z4 aus Berlin zu retten und in Hopferau nahe Füssen zu arbeiten. Paul schilderte, wie er früh in den 1960er-Jahren seine Kenntnisse im Übersetzerbau für Zuse eingesetzt – und mit dem Zubrot aus der Zuse AG seinen ersten VW Käfer finanziert habe.

Dazu sollte man wissen, dass Paul die Rekursion beim Übersetzerbau anfangs hintan gestellt hatte, um einen schnellen Compiler zu erlangen. So konnten sich bald andere rühmen, den ersten Compiler mit voller Rekursion erstellt zu haben; installiert auf der neuen und an sich schnelleren Electrologica X1 in Kiel wurde dieser jedenfalls vergleichsweise wenig eingesetzt. Das Übersetzen und Ausführen von ALGOL 60-Programmen auf der ZUSE Z22 war etwa ebenso effizient wie auf der X1, und Paul konnte erleben, wie sein Übersetzer lange produktiv genutzt wurde.

Seit den 1960er-Jahren förderte Manfred Paul die Gemeinschaft aller Institutsmitarbeiter über Jahrzehnte auch mit Aktivitäten wie Wandern, Segeln, Skilauf oder Bridge. Er hat es später verstanden, unter den Mitarbeitern seines Lehrstuhls ein Gefühl der Zusammengehörigkeit herzustellen, das bis weit nach seiner Emeritierung anhielt: Jedes Jahr im Februar oder März gab es eine „Winterwanderung“; bis zur Coronazeit kamen dazu frühere Kollegen und Mitarbeiter zusammen und wanderten einen Tag lang im Münchner Raum. Manch einer unternahm auch eine größere Anreise, wann immer es ihm möglich war.