Zusammenfassung
Die sich gegenwärtig vollziehende digitale Transformation belegt die Entwicklung der Informatik hin zu einer wissenschaftlichen Schlüsseldisziplin. Hierbei handelt es sich um eine rasante Entwicklung; vor etwa 50 Jahren wurde noch diskutiert, ob es sich bei der Informatik überhaupt um eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin oder vielmehr um ein Teilgebiet der Mathematik oder der Elektrotechnik handelt. Der Begriff „Informatik“ wurde – so nehmen die Autoren an – erstmals 1968 im Zusammenhang mit den allerersten Empfehlungen für einen Studiengang im Bereich der Datenverarbeitung verwendet; die erste Informatikdiplomprüfungsordnung der Kultusministerkonferenz (KMK) wurde am 01.02.1973 beschlossen. Die Überzeugungen und die Überzeugungskraft der Pioniere der Informatik, die Gründungen der Gesellschaft für Informatik (1969) und des Fakultätentags Informatik (1973), die Einsetzung eines Fachausschusses Informatik in der DFG (1970) sowie frühe Aktivitäten des Wissenschaftsrats förderten die Entstehung von Informatikfachbereichen an deutschen Universitäten. Dieser Beitrag zeigt die Entwicklung der Lehre/Lehrinhalte sowie der Forschung in diesen Fachbereichen in den letzten 50 Jahren aus der Sicht des Fakultätentags Informatik auf. Während diese Entwicklung zunächst Informatik als eigenständige wissenschaftliche Disziplin etablierte, ist heutzutage ein immer stärker werdendes Zusammenwirken der Informatik mit wissenschaftlichen Partnerdisziplinen aller Bereiche zu beobachten (Data Science/Künstliche Intelligenz). Es muss verstärkt darüber nachgedacht und miteinander darüber gesprochen werden, was diese steigende Verantwortung für die Informatik als wissenschaftliche Disziplin bedeutet und wie sie dieser gerecht werden kann.
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Informatik: Eine neue Wissenschaft mit eigenen Fakultäten?
Vor 50 Jahren wurde noch diskutiert, ob die bis Ende 1967 namenlose Informatik in die Mathematik oder die Elektrotechnik einzugliedern sei oder ob sie eine interfakultative Einrichtung werden solle. Doch sie wurde selbstständig, und zwar aus mindestens vier Gründen.
Zum Ersten wurden die Arbeiten der „Computerpioniere“ von den etablierten Wissenschaften anfangs kaum wertgeschätzt. Insbesondere wurde ihnen auf Tagungen und in den Hochschulen wenig Raum zugestanden. Offen ausgesprochen wurde dies bei der Gründung der Gesellschaft für Informatik (GI), siehe „Mitteilungen der Gesellschaft für Informatik“, Dezember 1969 [14, S. 85]:
Anlass der Gründung und Ziele der Gesellschaft. Die Gründungsmitglieder sind nach zum Teil jahrelanger Mitarbeit in entsprechenden Ausschüssen anderer Gesellschaften zu der Überzeugung gelangt, dass die Arbeit dieser Ausschüsse nicht genügend koordiniert werden kann. Sie sind der Meinung, dass eine Vielzahl von Gesellschaften, in denen die Informatik verständlicherweise nur am Rande des Interesses steht, nicht in der Lage ist, die speziellen Interessen der Informatik so zu fördern, wie dies ihnen notwendig erscheint. Zu diesen Interessen zählen:
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Die Förderung der wissenschaftlichen Diskussion der typischen Informatikprobleme.
Der Versuch, dies auf den Jahrestagungen anderer Gesellschaften durchzuführen, scheiterte. Das Programm der Jahrestagungen dieser Gesellschaften ist auch ohne die Informatik schon so reichhaltig, dass es nur mit Mühe abgewickelt werden kann.
- 2.
Die Beratung der Ministerien im Zusammenhang mit der Förderung der Forschung auf dem Gebiet der Informatik.
- 3.
Empfehlung für die Einrichtung der Studiengänge Informatik.
- 4.
Mitarbeit in internationalen Ausschüssen und Arbeitsgruppen zur Veranstaltung von Tagungen, Entwicklung und Normierung von Programmiersprachen, u. ä.
Auch Universitäten schätzten die Informatik als etwas ein, das ohne Anwendungswissenschaften obsolet sei. Detlef Schmid (1972 Dekan der Informatikfakultät an der ehrwürdigen TH Karlsruhe und Initiator des Fakultätentags Informatik) drückte dies 2009 ungefähr wie folgt aus [13]:
Nach außen genoss die Fakultät Informatik rasch hohes Ansehen – innen aber hatte sie es als Newcomer unter etablierten Fakultäten schwer. Wir konnten uns nicht auf Tulla oder ähnliche große Vorgänger berufen, wir mussten uns erst einmal durchsetzen. … Zu der Zeit habe die Politik der Informatik keine Selbstständigkeit zubilligen wollen – und wissenschaftliche Nachbarn wie die Elektrotechnik oder die Wirtschaftswissenschaften genauso wenig.
Ambivalent war anfangs das Verhältnis zur Mathematik. Die Angewandte Mathematik wurde nicht im Zentrum der Mathematik gesehen und die „Computerwissenschaft“ wurde überwiegend als Strohfeuer betrachtet, auch weil man glaubte, es gäbe dort keine „wirklich schwierigen Probleme“.
Volker Claus (1972 Informatikdekan an der jungen Universität Dortmund) sprach von den Schwierigkeiten, eine neue Wissenschaft zu etablieren, die bei konstantem Universitätshaushalt vorhandene Fächer zu verdrängen droht und noch nicht über eine eigene (und für andere kaum verständliche) Wissenschaftssprache, Nobelpreis verdächtige Fachvertreter, wirtschaftliche Durchbrüche usw. verfügt. Eine Anerkennung sei geduldig durch gute Forschung, neue Lehrmethoden (z. B. Projektgruppen) und intensiven Austausch mit der Praxis anzustreben. Der Erfolg blieb nicht aus – und es dauerte nur 30 Jahre, bis die Informatik an Deutschlands Universitäten über mehr als 550 Professuren verfügte, sich in Wirtschaft und Verwaltung vernetzt und einen festen Platz in Industrie, Dienstleistung und Ausbildung erobert hatte.
Zum Zweiten beanspruchte die Informatik teure Ausstattungen. Sie forderte (neben der normalen Büroausstattung) Computer, viel Peripherie, entsprechende klimatisierte Räume und Hardware- und Anwendungslabore. Geeignete Computer waren sehr teuer und an Universitäten nur mithilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zu beschaffen [7]. Im Vordergrund stand oft die Versorgung der gesamten Universität mit Rechnerleistung. Dort unterlagen die Computerfachleute den Betriebsordnungen der Rechenzentren. Ein Fachbereich bzw. eine Fakultät konnten kraftvoller auftreten, fachfremde Einflüsse abwehren und in Prüfungsordnungen verbindlich Laborarbeiten, Rechnerstrukturen, besondere Sprachen und Systeme verankern.
Zum Dritten war es der Zeitgeist, der sich auch in der 1968er-Bewegung zeigte; der Trend ging weg vom Traditionellen: Aus den jahrhundertealten großen Fakultäten entwickelten sich überschaubare Einheiten. So entstanden zwischen 1972 und 1989 aus einer mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät vier bis sieben neue Fakultäten für Mathematik, Physik usw. Das Gleiche galt für die Ingenieure. Fachkräftemangel und die hohen Studierendenzahlen erforderten eine eigene Institution.
Zum Vierten waren die Informatikfachleute fest davon überzeugt, dass ihr Fach sich zum zentralen Wissensgebiet des 21. Jahrhunderts entwickeln würde. Natürlich sind auch Umweltwissenschaften, Medizin usw. von besonderer Bedeutung, aber die Informatik schafft einen vollkommen anderen Blickwinkel mit ungeahnten neuen Möglichkeiten, der weit über das auf Erden Vorhandene oder Entstandene hinausgeht. Informatik steht verstärkt für das „machbar Denkbare“ und eröffnet Chancen, die sich der Menschheit nicht unmittelbar aus der Natur erschließen – zugleich mit allen Missbrauchsmöglichkeiten. „Experiment“ und „Beweis“ werden um die informatikbasierte „Simulation“ erweitert, die tiefere Einsichten, bessere Komplexitätsbeherrschung, weiteres Vordringen in die Nano- und Gigawelt und in neue Denkdimensionen und Kooperation ganz neuen Stils und Ausmaßes verspricht. Daher wird die Informatik immer eigene Fakultäten und vielleicht bald eigene umfassendere Ausbildungsstätten benötigen und fordern. Allerdings verblassen die Grenzen zwischen Fächern, und kleinste Einheiten der heutigen Universitäten, also Lehrstühle und Institute sowie deren Zusammenschluss zu Fachbereichen, könnten in den kommenden Jahrzehnten durch Projektbereiche, Kooperationsbereiche mit der Praxis, Vermarktungsbereiche oder sonstige Organisationsformen ergänzt oder ersetzt werden.
Die Pioniere der Informatik im deutschsprachigen Raum bis zum Jahr 1971
Hier sollen zum einen die Wegbereiter bis 1950 und zum anderen deren Nachfolger bis 1971 genannt werden. Mindestens sechs prägende Personen haben bereits vor 1950 den Weg zur Informatik beschritten: Hans Piloty (1894–1969), Robert Sauer (1898–1970), Alwin Walther (1898–1967), Eduard Stiefel (1909–1978), Konrad Zuse (1910–1995) und Heinz Billing (1914–2017).
Deutschland wurde insbesondere durch Konrad Zuse zu einer der Pioniernationen der Informatik; über seine außergewöhnlichen Leistungen gibt es umfangreiche Literatur; bei der Entwicklung der Rechenmaschinen Z1 und Z3 wurde er von Helmut Schreyer (1912–1984) unterstützt. Durch den Zweiten Weltkrieg und einige Technologieverbote danach fiel Deutschland in Forschung und Entwicklung zunächst zurück, beteiligte sich aber weiterhin an der Entwicklung der Hard- und Software sowohl im mathematischen als auch im nachrichtentechnischen Bereich. International war (West- und Ost‑)Deutschland durch die „Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Rechenanlagen“ (DARA) vertreten; diese DARA war ein gemeinsamer Ausschuss der vier wissenschaftlichen Gesellschaften „Gesellschaft für Angewandte Mathematik und Mechanik“ (GAMM), „Nachrichtentechnische Gesellschaft“ (NTG), „Deutsche Mathematiker-Vereinigung“ (DMV) und „Deutsche Physikalische Gesellschaft“ (DPG), die sich Ende der 1950er-Jahre für die Informationsverarbeitung als zuständig erklärt hatten. Vorsitzender der DARA war bis 1966 Prof. Walther. Im deutschsprachigen Raum entwickelten vor allem Vertreter der GAMM und der NTG in den 1950er-Jahren eigene Rechenanlagen: die PERM an der TH München (Prof. Robert Sauer, Prof. Hans Piloty und sein Sohn Robert Piloty [15], in Betrieb von 1956–1974), die DERA an der TH Darmstadt (Prof. Alwin Walther), die ERMETH an der ETH Zürich (Prof. Eduard Stiefel), die Rechner D1–D4 und der Kleinstrechner D4a an der TH Dresden (Prof. N. J. Lehmann), die G1–G3 am damaligen MPI in Göttingen (Dr. Heinz Billing) und das Mailüfterl an der TH Wien (Dr. H. J. Zemanek). Großen Anteil an der Einführung einer „Computer Science“ an diesen Hochschulen hatten die Professoren Robert Piloty und Hartmut Wedekind (TH Darmstadt), Friedrich L. Bauer, Theodor Einsele, Klaus Samelson, Manfred Paul und Jürgen Eickel (TH München), Heinz Rutishauser und Niklaus Wirth (ETH Zürich), Rudolf Inzinger und Hans Stetter (TH Wien).
Außer an diesen sechs Zentren der Rechnerentwicklung wurden vor 1972 im deutschsprachigen Raum Informatikthemen an mindestens einem Dutzend weiterer Hochschulstandorte bearbeitet; die folgende Aufzählung der damals aktiven Professoren ist nicht vollständig, zeigt aber, dass sich in der Zeit von 1950–1971 bereits viele Arbeitsgruppen der Informatik herausgebildet hatten:
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Aachen: Prof. Fritz Reutter, Prof. Walter Ameling. Prof. Walter Oberschelp, Prof. Dieter Haupt,
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Berlin: Prof. Wolfgang Giloi, Prof. H. J. Schneider,
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Bonn: Prof. Heinz Unger, Prof. Ernst Peschl, Prof. K.-H. Böhling, Prof. Fritz Krückeberg,
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Braunschweig: Prof. Horst Herrmann, Prof. H.-O. Leilich,
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Dortmund: Prof. Manfred Reimer,
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Erlangen: Prof. Wolfgang Händler,
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Hamburg: Prof. Peter Stähelin, Prof. Wilfried Brauer, Prof. H.-H. Nagel,
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Hannover: Prof. Günter Bertram, Prof. Bodo Schlender,
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Kaiserlautern: Prof. W. Weber,
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Karlsruhe: Prof. K. W. Steinbuch, Prof. Karl Nickel, Prof. Gerhard Goos, Prof. Ulrich Kulisch,
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Kiel: Prof. Bodo Schlender, Prof. K. H. Weise,
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Linz: Prof. Adolf Adam, Prof. Gerhard Derflinger, Prof. Peter Mertens,
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Saarbrücken: Prof. Johannes Dörr, Prof. Günter Hotz, Prof. Hans Langmaack,
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Stuttgart: Prof. Walter Knödel, Prof. Rudolf Lauber.
Einige Großforschungseinrichtungen engagierten sich in der Datenverarbeitung: die Gesellschaft für Kernforschung (GfK, Karlsruhe, 1956 bzw. 1959), das Deutsche Elektronen-Synchrotron (DESY, Hamburg, 1959), das Deutsche Rechenzentrum (DRZ, Darmstadt, 1961), die Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (GMD, St. Augustin, 1968) sowie Max-Planck-Institute.
Natürlich gingen auch Impulse von Firmen mit früher industrieller Rechnerentwicklung aus: Firma VEB Carl Zeiss Jena mit dem Rechner Oprema (Optikrechenmaschine), Firma Zuse KG in Bad Hersfeld mit den Rechnern Zuse Z5–Z31, Firma Telefunken in Backnang (später in Konstanz) mit den Rechenanlagen TR4 und TR440, Firma Standard Elektrik AG in Stuttgart mit der Rechenanlage ER 56, Firma IBM Deutschland für Hard- und Software der 1401 und der 360er-Systeme, Firma Siemens mit den Rechnern 2002–4004 (Siemens übernahm später die Firmen Zuse KG aus Hersfeld und Telefunken aus Konstanz). Zu nennen sind auch damalige Hersteller von Rechnern der „mittleren Datentechnik“: Computertechnik Müller (Konstanz), Dietz (Mühlheim/Ruhr), Hohner (Trossingen), Kienzle Apparate (Villingen), Nixdorf Computer (Essen, Paderborn), Triumph-Adler (Nürnberg). Dennoch erwies sich die Konkurrenzfähigkeit deutscher Produkte als recht gering.
Ab 1972 entstanden aus diesen „Keimzellen“ mithilfe des Überregionalen Forschungsprogramms Informatik (ÜRF, siehe unten) auch formal die ersten Fachbereiche oder Fakultäten für Informatik. Bis dahin aber fanden Informatikforscher in den Gesellschaften GAMM und NTG eine „Heimat“. Alwin Walther, damals Vorsitzender der GAMM, organisierte bereits im Oktober 1955 an der TH Darmstadt die internationale Fachtagung über „Elektronische Rechenmaschinen und Informationsverarbeitung“, die 500 Teilnehmer aus 15 Staaten besuchten. Hauptvorträge hielten die Wissenschaftler Aiken, Billing, Booth, Goldstine, Householder, Piloty und Rutishauser [18]; sie gilt zugleich als Ausgangspunkt für die Weltorganisation IFIP („International Federation for Information Processing“), die nach einer folgenden Tagung (1959 in Paris) im Januar 1960 gegründet wurde; Alwin Walther war Mitbegründer und in den ersten beiden Jahren ihr Vizepräsident. Auf nationaler Ebene fanden neben den Tagungen der GAMM und der NTG spezielle Kolloquien statt, jeweils im Oktober: 1960 in Bonn, 1961 in Saarbrücken, 1965 in Hannover, 1967 in München, 1969 in Oberwolfach [10]. Ab 1970 sorgte die Gesellschaft für Informatik mit regelmäßigen Tagungen ihrer Fachgruppen für einen kontinuierlichen wissenschaftlichen Austausch.
Das ÜRF – der entscheidende Impuls für die universitäre Informatik
Mitte der 1960er-Jahre galt der Computer als Hoffnungsträger zur Lösung der vielen Probleme in den meisten Lebens- und Arbeitsbereichen. Zugleich sah man die Fülle möglicher Anwendungen, Märkte und Einsatzgebiete. Deutsche Firmen hatten aber nur geringe Marktanteile. Die Wirtschaft forderte vehement Hilfen. Als Reaktion legte die Bundesregierung ab 1967 drei Förderprogramme auf. Dies war lange vorhersehbar. Bereits 1951, also bevor Rechenanlagen kommerziell in Serie hergestellt wurden (ab 1953 mit der IBM 650), gründete die DFG ihre Kommission für „Rechenanlagen“, die später die Begutachtung der zu beschaffenden EDV-Geräte im Hochschulbereich steuerte und durchführte. Die DFG war es auch, die bereits 1972 die Informatik der Fächergruppe der Ingenieurwissenschaften zuordnete (das Statistische Bundesamt tat dies erst 2015).
Gerhard Stoltenberg, von 1965–1969 Bundesminister für wissenschaftliche Forschung, förderte die Forschung, die Großrechner für Hochschulen und Regionen und durch die Unterstützung der Länder die Ausbildung des benötigten Personals. Im ersten DV-Programm („Datenverarbeitungsprogramm“) der Bundesregierung von 1967–1971 im Umfang von 321,6 Mio. DM wurde vor allem die Industrie unterstützt mit dem Ziel, die internationale Wettbewerbsfähigkeit bei der Herstellung von Rechenanlagen und bei der Erschließung von Anwendungsgebieten zu verbessern. Ohne den Ausbau an Hochschulen gab es jedoch keine Nachhaltigkeit. Hochschulen unterliegen der Länderhoheit. Also musste das Grundgesetz erweitert werden, um dem Bund Fördermaßnahmen zu erlauben. Dies geschah am 12. Mai 1969 durch den neu eingefügten § 91 b („Bund und Länder können auf Grund von Vereinbarungen in Fällen überregionaler Bedeutung bei der Förderung von Wissenschaft, Forschung und Lehre zusammenwirken …“).
Im Vorfeld wurde bereits 1967 der „Fachbeirat für Datenverarbeitung“, der überwiegend aus Fachleuten von Universitäten und Großforschungseinrichtungen bestand, beim Bundesministerium eingerichtet. Um geeignetes Personal auszubilden, wurde vom Fachbeirat der Ausschuss „DV-Lehrstühle und -Ausbildung“ gegründet, dessen Vorsitzender Prof. Robert Piloty (TH Darmstadt) wurde. Dieser Ausschuss verabschiedete am 19.01.1968 „Empfehlungen zur Ausbildung auf dem Gebiet der Datenverarbeitung“. Der hier geforderte Diplomstudiengang sollte sich an der US-Ausbildung in Computer Science orientieren und von Elektrotechnik und Mathematik zugleich getragen werden. Langfristig wurde eine interfakultative (!) Organisationsform empfohlen. Für dieses Studium tritt hier (erstmals?) das Wort „Informatik“ auf [9, S. 227]. Die Fachgesellschaften GAMM und NTG legten am 20.06.1968 „Empfehlungen“ für einen konkreten Studienplan vor [4]; diese sog. „GAMM/NTG-Empfehlungen“ führten zu einem bundesweit gut abgestimmten Studium der Informatik in Westdeutschland an 14 Universitäten im Jahre 1972/73; sie flossen stark in die „Rahmenordnung für die Diplomprüfung in Informatik“ der Kultusministerkonferenz (KMK) vom 01.02.1973 ein. Hier gab es noch recht große Mathematikanteile, aber nicht aus Eigeninteresse der mitwirkenden Angewandten Mathematiker; vielmehr war damals noch die Unsicherheit vorhanden, dass die Informatikausbildung sich vielleicht doch als Strohfeuer erweisen könnte, und in diesem Fall könnten die Absolvent(inn)en sich in der Praxis auch als brauchbare Mathematiker erweisen.
Das von 1972–1976 laufende zweite DV-Programm, geplant im Umfang von 2423,5 Mio DM, musste auf jeden Fall Finanzmittel enthalten, um die dringend erforderlichen Lehrstühle rasch zuzuweisen und besetzen zu können. Dies geschah durch das „ÜRF“. Vorgesehen waren hierfür u. A. (Mio. DM):
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Forschungsprogramm Informatik ÜRF 190,0
-
Regionale Großrechenzentren 165,2
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Rechenkapazitätsausbau in Hochschulen 375,0
-
Erfahrungsaustausch 27,7
Im Laufe der Zeit erhöhten sich die Kosten, sodass bis einschließlich 1977 allein für das ÜRF 263 Mio. DM vom Bund (er übernahm 70 % der Kosten) aufgewendet werden mussten [9]. Letztlich war es dieses Geld, das die Entstehung der Informatikfachbereiche an 14 Universitäten und durch die GAMM/NTG-Empfehlungen einen einheitlichen Start an diesen Standorten ermöglichte. Bedenkt man, dass insgesamt knapp 4 Mrd. DM für alle drei DV-Programme vorgesehen waren, so sind hiervon 5 %, nämlich die veranschlagten 190 Mio. DM, die Summe, die heutzutage als besonders nachhaltige Investition einzustufen ist.
Die Entstehung der Informatikfachbereiche wurde durch weitere Aktivitäten gefördert, z. B.:
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die Gründung der Gesellschaft für Informatik am 16.09.1969 [14],
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die Gründung eines Fachausschusses Informatik in der DFG, „der in Zukunft Gutachterfunktion übernehmen soll“ [12, S. 127],
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die Gründung des Fakultätentags Informatik am 20.11.1973 [11],
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der Aufbau von Buchreihen an diversen Verlagen seit 1968,
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frühe Aktivitäten des Wissenschaftsrats und später seine Empfehlungen [17] von 1989.
Mit dem ÜRF wurde 1972 der „Sachverständigenkreis Forschungsprogramm Informatik“ ins Leben gerufen (Vorsitz Prof. Gerhard Goos aus Karlsruhe), der mithilfe von Fachausschüssen zu jedem Fachgebiet den wissenschaftlichen Auf- und Ausbau der Informatik begutachtete und begleitete. Alle beteiligten 14 Hochschulen waren in dem 21-köpfigen Gremium vertreten. Im ÜRF wurden folgende 13 Fachgebiete gefördert [16], die:
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1.
Automatentheorie und formale Sprachen,
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2.
Programm- und Dialogsprachen sowie ihre Übersetzer,
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3.
Rechnerorganisation und Schaltwerke,
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4.
Betriebssysteme,
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5.
Systeme zur Informationsverwaltung,
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6.
Verfahren zur digitalen Verarbeitung kontinuierlicher Signale,
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7.
Rechnertechnologie,
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8.
Automatisierung technischer Prozesse mit Dialogrechnern,
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9.
rechnerunterstütztes Planen, Entwerfen und Konstruieren,
-
10.
Methoden zur Anwendung der DV in der Medizin,
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11.
Methoden zur Anwendung der DV im pädagogischen Bereich,
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12.
betriebswirtschaftliche Anwendungen der DV,
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13.
Methoden zur Anwendung der DV in Recht und öffentlicher Verwaltung.
Die Fachgebiete 1–5 und 9 wurden an den Hochschulen vorwiegend in die neuen Informatikfachbereiche, die Gebiete 6–8 in die Elektrotechnik und die restlichen Gebiete in die jeweiligen Anwendungsfachbereiche verortet.
Einige Daten zu den Informatikfachbereichen des Fakultätentags Informatik
Seit 1967 haben sich Arbeitsstil und Kommunikation grundlegend gewandelt. Damals waren die Kugelkopfmaschinen von IBM das modernste Schreibgerät, mathematische Texte schrieb man durch händisches Positionieren und Auswechseln der Kugelköpfe, Kopierer waren nicht zugänglich, die erste Mondlandung von 1969 kam mit begrenzter Computerhilfe aus. Das Studium orientierte sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen, wurde durch entsprechende Rahmenprüfungsordnungen gesteuert und die Diplomierten erlernten praktisches Denken und Handeln erst nach dem Studium, wenn sie nicht schon vorher irgendwo als Werkstudierende gearbeitet hatten. Insofern waren in den 1960er-Jahren die Universitäten allein zuständig, die Inhalte und deren Durchführung festzulegen. Ab den 1970er-Jahren wurde jedoch immer mehr Praxiswissen gefordert [6, §§ 7, 8]: Die Hochschulen „bereiten auf berufliche Tätigkeiten vor“ und die Hochschulen wichen verstärkt von alten Rahmenvorgaben der KMK ab. Auch in der Informatik geschah dies in den Folgejahren; man vergleiche hierzu Studienpläne der Universitäten in München, Saarbrücken, Berlin (hier gab es anfangs zwei verschiedene Studienordnungen), Bremen usw. Die USA gaben keine Hilfen, weil sich dort die Ausbildungspläne zweier Informatikfachbereiche um bis zu 45 % unterscheiden konnten. Der Fakultätentag Informatik (FTI) hat hier durch seine Studienkommission gegengesteuert und für die Einheitlichkeit der Informatikausbildung und den Austausch zwischen den Fachbereichen gesorgt.
Eine Ahnung, wie die Entwicklung an den verschiedenen Informatikstandorten ablief, zeigt Abb. 1. Die Zahlen sind den Studien- und Forschungsführern entnommen: zu den Spalten 2 und 3 der Abbildung: [4], zu den Spalten 4 und 5 der Abbildung: [5], zu den Spalten 6 und 7 der Abbildung: [3] sowie [2] und [1]. Die letzten drei Spalten stammen aus Umfragen und aus aktuellen Angaben im Internet; man beachte hierbei, dass nicht besetzte Professuren, Professuren aus Anwendungsbereichen, apl. Professuren und Juniorprofessuren (soweit erkennbar) nicht mitgezählt wurden, auch weil oft nicht zu erkennen ist, wie eng der Bezug zur Informatik ist und welche Stellung jemand tatsächlich hat. Die Hochschulen in den neuen Bundesländern hatten eine andere Personalstruktur (Professoren, Hochschuldozenten, Oberassistenten, Lehrer i. HD, Honorarprofessoren), sodass ein Vergleich zwischen West und Ost bis 1991 problematisch ist.
Ergänzungen/Hinweise zu Abb. 1
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Angeführt sind 62 Universitäten in Deutschland. 7 davon sind (bis mindestens 1995) nicht Mitglied im FTI. Im Jahre 2019 sind alle in der Abb. 1 aufgeführten Universitäten Mitglied im FTI außer denen mit einem „*“; Letztere gehören aber zu den Gästen (s. unten).
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In Hildesheim wurde der Studiengang Informatik 1996 aufgelöst und bis 1999 abgewickelt. Ein Institut für Informatik blieb bestehen. Die Hochschulen Duisburg und Essen wurden 2002 zusammengelegt und sind ab dann wie in Abb. 1 in Spalte 1 als eine Universität zu zählen. Unbesetzte Professuren tauchen in dieser Liste nicht auf (z. B. hatte 1995 Freiburg 7 Professuren, jedoch waren 4 unbesetzt). Manche Professuren fehlen, weil sie offiziell in einem anderen Fachbereich angesiedelt sind. Weiterhin gibt es an einigen Hochschulen Arbeitsgruppen, die von Wissenschaftler(inne)n ohne Professorentitel oder von Honorarprofessoren geleitet werden. Ganz selten wurden Professoren auch doppelt gezählt, falls eine Person gerade in diesem Jahr die Hochschule gewechselt hat. Die Daten sind also mit gewissen Fehlern behaftet.
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Die 23 Gäste im FTI sind:
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15 aus Deutschland: U Bayreuth, U Bochum, U Eichstätt-Ingolstadt, TU Freiberg, U Gießen, U Göttingen, U Greifswald, TU Hamburg, U Hildesheim, U Köln, U Mainz, U Münster, U Potsdam, U Trier, U Weimar,
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5 aus Österreich: TU Graz, U Klagenfurt, U Linz, TU Wien, U Wien,
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3 aus der Schweiz: U Basel, ETH Zürich, U Zürich.
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13 westdeutsche Universitäten boten im WS 1972/73 das Diplomstudium Informatik an. 1973/74 startete Kaiserslautern. Von 1973–1979 sind weitere 5 Hochschulen hinzugekommen, und zwar: Bremen, Frankfurt, Hagen, Koblenz, Bundeswehr München, d. h., 19 westdeutsche Universitäten boten im WS 1979/80 das Diplomstudium an. Im WS 1989/90 waren es 25 Universitäten in Westdeutschland.
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Die Anfängerzahlen in der letzten Spalte berücksichtigen Studiengänge, die überwiegend der Fachwissenschaft Informatik zuzuordnen sind; allerdings verwischen sich seit der Umstellung auf das Bachelor-Master-System, also seit etwa 2002, die Grenzen, weil an jeder Hochschule mehrere Bachelor- und Masterstudiengänge sowie viele Anwendungsinformatiken eingerichtet wurden und daher die Lehrinhalte für „das Fach Informatik“ oft schwer zu vergleichen sind.
Entwicklung der Lehre und der Lehrinhalte
Universitäten organisieren sich nach Wissenschafts- und Forschungsbereichen, sodass die Fachgebiete der Mitglieder verschiedener Fachbereiche sich meist nur wenig überschneiden. Die Forschenden entschieden früher allein darüber, welche Grundlagen und welche Vertiefungen in den Studiengängen zu vermitteln seien. Hierbei orientierten sie sich an den eigenen Erfahrungen, an den grundlegenden Standardwerken, an den Klassifikationssystemen des Faches, an dem intellektuellen Anspruch der Problemstellungen und ihrer Lösungen u. Ä., aber kaum an den Wünschen der Praxis, an den gesellschaftlichen Strömungen, an den aktuellen Interessen der Studierenden oder an didaktischen Konzepten. Grobe Hinweise gaben die Rahmenprüfungsordnungen der Kultusministerkonferenz. Eine gewisse Einheitlichkeit entstand jedoch durch viele Fachgespräche auf Tagungen, durch regelmäßige Vortragskolloquien (an denen meist alle Wissenschaftler eines Fachbereichs teilnahmen!), durch das Hausberufungsverbot und durch überregionale Absprachen.
Der Fakultätentag Informatik, das wichtigste koordinierende Gremium im Bereich der Lehre an Universitäten, konstituierte sich am 20. November 1973 als Vereinigung von Fachbereichen, die den Studiengang Informatik anboten; er war keine juristische Person (dies geschah erst 2005), er berät die Westdeutsche Hochschulrektorenkonferenz (die „Akkreditierung“ erfolgte 1982), pflegt Kontakte zu den einschlägigen Ministerien und äußert sich zu Fragen der Informatikausbildung. Sein Hauptziel war und ist, die Qualität und Einheitlichkeit der Informatikstudiengänge in Deutschland sicherzustellen. Themen waren ein Fächerkatalog, Statistiken zu Studierenden und Professuren, Mindestausstattung von Fachbereichen, der notwendige Anteil der technischen Informatik, die Ausgrenzung oder Einbeziehung der Informationstechnik, die Studiendauer und speziell die Dauer der Diplomarbeit, gemeinsames Handeln beim Auslaufen des ÜRF, Festlegung von Curricularnormwerten und Kapazitätsberechnungen, die Kooperation mit wissenschaftlichen Gesellschaften und mit anderen Fakultätentagen, die Abgrenzung zu bzw. Zusammenarbeit mit den Fachhochschulen, Empfehlungen zu Reformen und politischen Vorgaben, Einbeziehung der Praxis usw.
Besonders arbeitsintensive Phasen gab es während der extremen Überlast (bis zu 200 % an manchen Standorten) durch die Lehre von Anfang an, durch die Umstrukturierung und Eingliederung der ostdeutschen Universitäten ab 1990, durch die Akkreditierungen und das damit verbundene Ranking ab 1995 und durch die Umstellung auf das Bachelor-Master-System (2000–2009, Bologna-Prozess). Insbesondere der Bologna-Prozess hat die Einheitlichkeit der Informatikausbildung infrage gestellt, wenn nicht sogar beendet, wobei der FTI darum bemüht ist, der Ausuferung und der Beliebigkeit der Inhalte entgegenzuwirken (auch auf europäischer Ebene!) und ein einheitlich hohes Niveau der Methoden und Lösungsverfahren, der behandelten Systeme und der fachlichen Tiefe einzufordern. Auf der Tagesordnung stehen zurzeit Fragen der Lehrerausbildung, der Schul- und Hochschuldidaktik, der Lehrinhalte in Schulen, der Einfluss der Lehr- und Lernsysteme und des Internets auf den Ausbildungsbetrieb und der Umbau der Universitäten durch die Exzellenzinitiativen. Thema ist auch die Gefahr eines schleichenden Niveauabbaus, der sich dadurch ergeben könnte, dass der Bachelor zum Regelabschluss mindestens der Hälfte aller Schüler(innen) werden soll und in unserer stetig komplexer werdenden Welt vielleicht auch muss.
Entwicklung der Forschung
In der Regel ist es eher die Lehre, die einen Fachbereich zusammenhält. Die „Lehr“-Stühle eines Fachbereichs wurden (und werden?) an den meisten Universitäten mit dem Ziel denominiert, eine möglichst große Breite der jeweiligen Disziplin abdecken zu können; oft achtete man daher peinlichst genau darauf, dass sich die Forschungsbereiche verschiedener Professuren möglichst wenig überschnitten. Professuren, die fachlich oder methodisch näher verwandt waren, fasste man in Instituten unterhalb der Fachbereichsstruktur zusammen. Forschungspartner fand und findet man bekanntlich eher an anderen Hochschulen und Forschungseinrichtungen, mit deren Experten man sich auf Tagungen trifft.
Das hervorstechende „Privileg“ universitärer Fachbereiche bzw. Fakultäten ist das Promotionsrecht. Im Rahmen europäischer Vereinheitlichungen im Hochschulbereich werden verstärkt Forderungen laut, dieses auch anderen Hochschularten, neuen Organisationseinheiten (Graduiertenkollegs, Exzellenzclustern) oder außeruniversitären Forschungseinrichtungen zuzubilligen. In Deutschland hat die Politik in einigen Bundesländern bereits Hochschulen für Angewandte Wissenschaften ein eingeschränktes Promotionsrecht eingeräumt. Die Fakultätentage favorisieren hierbei das Modell der Kooperationspromotion.
Die DFG verfolgte mit ihren Sonderforschungsbereichen (SFB) bereits seit 1968 das Ziel, benachbarte Wissenschaftsgebiete und Forschergruppen über einen Zeitraum von bis zu zwölf Jahren gleichzeitig zu fördern. Der erste Sonderforschungsbereich, der aus heutiger Sicht zur Informatik gehört, war der SFB 49 „Programmiertechnik“ an der TU München (Sprecher: Prof. K. Samelson und Prof. F. L. Bauer, konstituiert am 14.02.1969, gestartet im zweiten Halbjahr 1970, beendet 1985, Verantwortliche: Bauer, Eickel, Goos, Heinhold, Langmaack, Paul, Peischl, Samelson, Seegmüller), der Informatikthemen wie Automatentheorie, Übersetzerbau, Betriebssysteme, Rechnergrafik, Linguistik, Hybridsysteme, Echtzeitsysteme sowie Anwendungen betrachtete, und der für viele Jahre der einzige SFB im Bereich Informatik blieb. Dieser SFB „produzierte“ 28 Professor(innen), die an verschiedenen Universitäten zugleich für eine überregionale Kommunikation der Informatikfachbereiche sorgten. Dies gilt auch für die mindestens 20 Professor(inn)en, die ab 1971 der „Saarbrücker Schule“ um Prof. Günter Hotz entstammten, auch aus dem ersten von der DFG der Informatik zugeordneten SFB 124 „VLSI-Entwurfsmethoden und Parallelität“ (Laufzeit 1983–1997, gemeinsam an den Universitäten Kaiserslautern und Saarbrücken). Diese und weitere SFBs (mit den Nummern 182, 314, 342, 346, 358, 376, 378, 476, 501, 514, 527, 531, 603 usw.) trugen ebenfalls zur Konsolidierung beteiligter Informatikfachbereiche bei.
Zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses wurde 1985 das erste Graduiertenkolleg an der Universität Köln eingerichtet. Der Wissenschaftsrat empfahl dieses Modell, und so starteten 1990 die ersten DFG-Graduiertenkollegs mit einer Laufzeit von maximal neun Jahren. Die Informatik war mit zwei Graduiertenkollegs in Saarbrücken und Aachen von Anfang an dabei, viele weitere folgten. Die Kommunikation zwischen den Doktoranden verbesserte sich und die Promotionszeiten konnten gesenkt werden [8]. Ob die Fachbereiche hierdurch gestärkt wurden, bleibt unklar, da die Promovierenden in der Regel nicht in die Verwaltungsstrukturen eingebunden sind und sich weniger um Aufgaben der Lehre und der Organisation kümmern, als dies Mitarbeiter(innen) tun.
Im Jahr 2005 beschlossen Bund und Länder die Vereinbarung zur Exzellenzinitiative und vollzogen damit einen Schwenk von der „Forschungsförderung in der Breite“ zur „Förderung der Spitze“, die zugleich fachbereichsübergreifend sein kann oder sogar soll. Von 2006 an wurden in zwei Förderzeiträumen Projekte in drei Förderlinien (Graduiertenschulen, Exzellenzcluster, universitäre Zukunftskonzepte) mit erheblichen Fördermitteln bedacht. Der Exzellenzinitiative folgte die Exzellenzstrategie im Jahr 2019 mit den beiden Förderlinien Exzellenzcluster und Exzellenzuniversitäten.
Die Informatik an deutschen Universitäten ist stark eingebunden in Initiativen der genannten Förderlinien. Es fällt auf, dass nur einige wenige Exzellenzcluster und Graduiertenschulen sich rein auf Informatikthemen beschränken (wie zum Beispiel EXC 284 „Multimodal Computing und Interaction“ und GSC 209 „Saarbrücker Graduiertenschule für Informatik“, beide in Saarbrücken mit Laufzeit 2007–2019). Zahlreiche Initiativen hingegen binden die Informatik in stark interdisziplinäre Forschungsverbünde ein.
Exzellenzinitiative/-strategie beeinflussten und beeinflussen selbstverständlich die strategische Entwicklung aller wissenschaftlichen Disziplinen an Universitäten, so auch die der Informatik. Vielerorts wird eine strategische Weiterentwicklung bzw. Ausgestaltung von Fakultäten und Fachbereichen von (dem Potenzial) der Mitwirkung an Forschungsverbünden im Sinne der Förderlinien der Exzellenzinitiative/-strategie abhängig gemacht.
Die hierbei geförderten Cluster und Graduiertenschulen zeigen deutlich, wie stark die Informatik mittlerweile mit Partnerdisziplinen verwoben ist. Einerseits repräsentieren diese – aus Sicht der Informatik – Anwendungsbereiche von digitalen Methoden, andererseits fördert diese enge Zusammenarbeit die zielgerichtete (Weiter‑)Entwicklung von digitalen Methoden deutlich. Interdisziplinarität und Anwendungsentwicklung sind jedoch keine neuen Entwicklungen, sondern sind bereits seit Beginn der 90er-Jahre im Zusammenhang mit Informatikforschung zu beobachten und werden auch in den Jahresberichten der DFG bereits Anfang und Mitte der 90er-Jahre als wesentliche Entwicklungsmerkmale der Informatik herausgestellt (Stichworte „Querschnittsdisziplin“, „Bindestrich-Informatiken“) [12]. So entwickelten sich beispielsweise ab Mitte der 90er-Jahre die Bioinformatik und auch die Künstliche Intelligenz (KI). Die Fachgruppe KI in der GI wurde bereits 1975 gegründet. 1984 wurde die KI mit einem Sonderforschungsbereich (SFB 314 „Künstliche Intelligenz – wissensbasierte Systeme“ mit den Standorten Karlsruhe, Kaiserslautern und Saarbrücken) und 1988 mit der Gründung des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Kaiserslautern und Saarbrücken bedacht; sie konnte ihre volle Wirkung erst auf Basis einer stärkeren Anwendungsorientierung ab Ende der 90er-Jahre entfalten. Die heutzutage am deutlichsten sichtbaren Teilbereiche der Informatik, „Data Science/Big Data“ und „Anwendungsorientierte Künstliche Intelligenz/Maschinelles Lernen“ (vgl. hierzu auch die „KI-Strategie der Bundesregierung“: https://www.bmbf.de/files/Nationale_KI-Strategie.pdf) verdeutlichen, dass sich die Informatik gegenwärtig (im Hinblick auf Digitalisierung und Digitale Transformation) zu einer Schlüsseldisziplin entwickelt.
Hierbei verschmelzen auch „Kerngebiete“ mit „Anwendungsbereichen“, woraus sich in Zukunft neue Fachbereiche, matrixartige Strukturen und Mehrfachzugehörigkeiten entwickeln können.
Wie kann es weitergehen?
Der Bologna-Prozess erlaubt es den Hochschulen, ihre Studiengänge recht frei zu gestalten, sofern ihre Begründungen bei einer Akkreditierung bestehen können. Durch die Systemakkreditierungen können sie dies sogar weitgehend selbst bestimmen. Dies ist der genau entgegengesetzte Prozess, in dem sich die Gymnasien mit der Neigung zu einem (möglichst bundesweiten) Zentralabitur befinden. Daher gibt es derzeit wohl mehr als 200 Informatikstudiengänge in Deutschland. Diese müssen in der Regel nur noch gegenüber der eigenen Hochschule gerechtfertigt werden. Hierdurch kann (und wird?) jede Hochschule ihre eigene Informatik definieren, zugleich verwischen die Ausbildungsgänge zwischen den Universitäten und den ehemaligen Fachhochschulen und es entsteht eine Vielzahl von angewandten Informatiken. Manche begrüßen diese Entwicklung, weil sie der fortschreitenden Differenzierung in der Arbeitswelt entgegenkommt, andere beklagen sie, weil gerade in der Bachelorausbildung eine einheitlichere Ausbildung viele Vorteile besitzt. Der Trend, dass sich Hochschulen „am Markt“ der Abiturient(inn)en bewähren müssen, kann zur Provinzialisierung der Informatikausbildung beitragen und zugleich in Deutschland den Ruf nach einigen wenigen „Eliteuniversitäten bzw. -Fachbereichen“ verstärken, deren Ausbildungsgänge dann für alle übrigen als Vorbild gelten können.
Vor dem Hintergrund des digitalen Wandels in den Wissenschaften und der digitalen Transformation im Allgemeinen muss die Informatik ihr Selbstverständnis überdenken. Aber auch die Politik ist gefragt: Sie muss die Informatikfachbereiche und -fakultäten so ausstatten, dass sie steigender Verantwortung und wachsenden Aufgaben gerecht werden, ausreichenden eigenen wissenschaftlichen Nachwuchs und IT-Nachwuchs für die Arbeitswelt angemessen ausbilden und die digitale Bildung der Studierenden aller Disziplinen (Stichwort „Digital Literacy“) sicherstellen können. In den bereits angesprochenen Bereichen „Data Science“ und „Künstliche Intelligenz“, insbesondere maschinelles Lernen, ist es bereits heute sehr schwierig, Professuren zu besetzen, da der wissenschaftliche Nachwuchs fehlt.
Auf jeden Fall sollte die „Informatikgemeinschaft“ möglichst bald über Szenarien diskutieren mit dem Ziel, zu klären, wie die Grundeinheiten der universitären Informatik aussehen sollen, wie der Zusammenhalt der Informatikbereiche gewährleistet und dennoch Interdisziplinarität gelebt werden kann und ob dies in unserer Zeit überhaupt erstrebenswerte Ziele sind.
Orte, dies zu tun, sind vor allem die Gesellschaft für Informatik und der Fakultätentag Informatik.
Literatur
Verwendete Literatur
Adler H, Appelrath HJ, Hebenstreit R, Zimmerling R (1993) Die Entwicklung der Hochschul-Informatik in der DDR. Fakultätentag Informatik, Arbeitskreis „Informatik an deutschen Universitäten und wissenschaftlichen Hochschulen“, Universität Oldenburg (Fortführung von Appelrath, H.-J., Zimmerling, R., „Studien- und Forschungsführer Informatik der neuen Bundesländer“, Fakultätentag Informatik, Oldenburg, 2. Auflage 1991)
Appelrath H‑J, Zimmerling R (1991) Studien- und Forschungsführer Informatik der neuen Bundesländer, 2. Aufl. Fakultätentag Informatik, Oldenburg
Brauer W, Münch S (1996) Studien- und Forschungsführer Informatik, im Auftrag von GI, FTI und HRK, 3. Aufl. Springer, Berlin, Heidelberg, New York
Brauer W, Haacke W, Münch S (1980) Studien- und Forschungsführer Informatik. GMD, St. Augustin, Bonn
Brauer W, Haacke W, Münch S (1989) Studien- und Forschungsführer Informatik, 2. Aufl. Springer, Berlin, Heidelberg, New York
Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (1976) Hochschulrahmengesetz von 1976
Deutsche Forschungsgemeinschaft (1958) Elektronisches Rechnen. Deutsche Forschungsgemeinschaft, Bad Godesberg
Deutsche Forschungsgemeinschaft (2009) Promovieren in Graduiertenkollegs. DFG, Bonn (im Internet abrufbar)
Donth HH (1984) Der Aufbau der Informatik an Deutschen Hochschulen. Elektron Rechenanl 26(5):223–229 (abgedruckt auch in Fakultätentag Informatik (Hrsg.), Redaktion: Görke W, Brandenburg F‑J, „25 Jahre Fakultätentag Informatik 1973–1998“, Fa. Grässer, Karlsruhe 1998; KITopen-ID: 348798)
Dörr J, Hotz G (1970) Automatentheorie und Formale Sprachen. In: Tagungsbericht 12. bis 18. Oktober 1969. Berichte aus dem Mathematischen Forschungsinstitut Oberwolfach, Bd. 3. Bibliographisches Institut, Mannheim
Fakultätentag Informatik (Hrsg) (1998) 25 Jahre Fakultätentag Informatik 1973–1998. Fa. Grässer, Karlsruhe (KITopen-ID: 348798, Redaktion: Görke W, Brandenburg F‑J)
Jahresberichte der DFG von 1970 bis 2017, Printfassungen; Jahresbericht 2018, online zugänglich unter: https://www.dfg.de/dfg_profil/jahresbericht (Druckfassungen des aktuellen Jahresberichts sowie Exemplare älterer Jahrgänge sind in Universitätsbibliotheken zugänglich oder können bei der DFG, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, angefordert werden)
KIT (2009) Presseerklärung TU Karlsruhe. https://www.informatik.kit.edu/309_1502.php. Zugriffsdatum: 1. Februar 2020
Krückeberg F (2002) Die Geschichte der GI, Veröffentlichungen und Dokumente zur Geschichte und Entwicklung der GI, 2. Aufl. Fraunhofer-Gesellschaft, Birlinghoven (ergänzte Fassung der 1. Auflage vom Mai 2001, diese Schrift ist im Internet abrufbar: https://gi.de/fileadmin/GI/Hauptseite/Themen/geschichte-der-gi.pdf)
Piloty H, Piloty R, Leilich HO, Proebster WE (1955) Die programmgesteuerte elektronische Rechenanlage München (PERM). Nachrichtentech Z 11:603–658
Reuse B (1977) Vortrag auf der 7. Jahrestagung der Gesellschaft für Informatik, Nürnberg, gehalten am 26. September 1977. GI – 7. Jahrestagung, Nürnberg, 26.–28. September 1977. Proceedings, Informatik-Fachberichte, Bd. 10. Springer, Berlin, Heidelberg, New York
Wissenschaftsrat (1989) Empfehlungen zur Informatik an den Hochschulen
Wosnik J (Hrsg) (1956) Elektronische Rechenmaschinen und Informationsverarbeitung. Nachrichtentechnischen Fachbericht (NTF), Bd. 4. Vieweg & Sohn, Braunschweig
Weiterführende Literatur
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Pieper C (2009) Hochschulinformatik in der Bundesrepublik und der DDR bis 1989/1990. Steiner, Stuttgart (http://d-nb.info/995315981)
Reuse B, Vollmar R (Hrsg) (2008) Informatikforschung in Deutschland. Springer, Berlin, Heidelberg, New York https://doi.org/10.1007/978-3-540-76550-9 (abrufbar im Internet unter: https://epdf.pub/informatikforschung-in-deutschland.html)
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Claus, V., Ritter, N. Informatik-Fachbereiche an deutschen Universitäten. Informatik Spektrum 43, 252–261 (2020). https://doi.org/10.1007/s00287-020-01296-x
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